CHRISTIAN SIMON
FEUER LAND
BERLINER WIRTSCHAFTSGESCHICHTE
VOM MITTELALTER BIS HEUTE
Vom 13. bis zum 18. Oktober 1928 fand die von der Beleuchtungsindustrie getragene Aktion „Berlin im Licht“ statt: Reklameturm der Firma Osram
VORWORT
Feuerland! Damit ist hier nicht die südamerikanische Inselgruppe an der Magellanstraße gemeint, sondern die industrielle Keimzelle Berlins an der Chausseestraße. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden vor dem Oranienburger Tor Maschinenwerke und
Metallgießereien, hier sprühten die Funken, floss rot glühendes Metall, stieg schwarzer Rauch auf, und so prägte der Volksmund diesen Begriff.
Feuerland ist zwar längst erloschen, aber später entstanden ganze Stadtteile, die sogar amtlich nach den großen Unternehmen benannt wurden, wie z. B. Siemensstadt, Borsigwalde, Spindlersfeld oder Späthsfelde.
Dabei mutet es kurios an, dass das einst kleine märkische Doppelstädtchen Berlin-Cölln zur größten Industriestadt Deutschlands mutierte. Denn außer Sand und Torf gab es hier keinerlei nennenswerte Bodenschätze. Die Kohlengruben lagen weitab in Schlesien und an der Ruhr. Und dennoch: Viele Berliner Firmengründungen wuchsen zu Weltunternehmen heran, wie z. B. AEG, Agfa, Borsig, Osram, Sarotti, Schering, Schultheiss, Siemens oder Telefunken. Die vielen kleinen Unternehmen der Textilbranche begründeten den Ruf Berlins als bedeutender Standort der Bekleidungsindustrie.
Diese Entwicklung verdankt Berlin seiner – zunächst ungeliebten – Rolle als Residenz und Hauptstadt. Die brandenburgischen Markgrafen und Kurfürsten, die preußischen Könige und deutschen Kaiser förderten die wirtschaftliche Entwicklung ihrer Kapitale zum Wohle der Unternehmer, der Stadt und zum eigenen Ruhm und Glanz. Dabei griffen die Herrscher oft so massiv ein, als gehöre ihnen das gesamte Wirtschaftsleben persönlich. Einige waren davon wohl auch überzeugt. Man muss von Staatsdirigimus oder Merkantilismus sprechen.
Förderlich erwiesen sich auch Zuwanderer, die aus ihrer Heimat neue Produkte oder verbesserte Herstellungsmethoden mitbrachten, allen voran die Hugenotten.
Dieses Buch berichtet von Fleiß, Mut, Glücksfällen, Pech und Unvermögen, von glanzvollen Erfolgen und katastrophalen Rückschlägen.
Letztlich war Berlin auch immer in die brandenburgisch-preußische und deutsche Geschichte eingebunden, die Auswirkungen auf Handwerk, Industrie und Handel hatte. Hier wurden aber auch weitreichende Entscheidungen getroffen, die den Lauf der Geschichte maßgeblich beeinflussten.
Sofern nicht anders angegeben, sind immer die aktuellen Straßennamen und Hausnummern gemeint.
Christian Simon Berlin-Südende
im Oktober 2021
Das Mittelalter: Handel – Hanse – Handwerk (1200–1450)
DIE ANFÄNGE BERLINS
Der Berliner Raum wurde seit der Völkerwanderung bis in das 12. Jahrhundert hinein von den slawischen Stämmen der Heveller und Sprewanen besiedelt. Die Grenze zwischen beiden bildete ungefähr die Havel-Nuthe-Linie. Somit lag Spandau im Gebiet der Heveller, während Köpenick zum Gebiet der Sprewanen gehörte. Sie gründeten ihre Niederlassungen vornehmlich an Gewässern. Slawische Siedlungsspuren fand man an der Nikolaikirche (7./8. Jh. n. Chr.) und auf dem Gelände des Heilig-Geist-Spitals (9./10. Jh. n. Chr.). Diese Siedlungen bestanden jedoch nicht lange. Als die deutschen Orte Cölln und Berlin an einem Spreeübergang planmäßig angelegt wurden, waren die slawischen Siedlungen schon seit mindestens zwei Jahrhunderten verschwunden.
Urkunden, die uns etwas über Jahr und Gründer der Doppelstadt verraten könnten, gingen vermutlich bei zwei verheerenden Stadtbränden verloren (Cölln 1376, Berlin 1380). Die ältesten Gräber im Bereich der Nikolaikirche datieren aus der Zeit nach 1150. Die Baumringanalyse eines ausgegrabenen, verbauten Holzbalkens in der Breiten Straße ergab einen Zeitraum um das Jahr 1171. Ein Holzkeller nahe dem Petriplatz stammt aus der Zeit um 1212. Somit bestanden beide Orte bereits einige Jahrzehnte, als ihre Namen erstmals in Urkunden eher beiläufig erwähnt wurden (Cölln 1237, Berlin 1244).
Die slawische Herrschaft in der Mark endete endgültig mit der Eroberung Brandenburgs durch Albrecht den Bären († 1170) im Jahr 1157. Anschließend zogen sich die Auseinandersetzungen zwischen den deutschen Adelsgeschlechtern der Wettiner und Askanier um die Herrschaft auf dem Teltow und Barnim bis 1245 hin. Auch der Erzbischof von Magdeburg und die Pommernherzöge waren an dem Machtkampf beteiligt. Möglicherweise mussten sich die ersten Berliner mit mehrfach wechselnden Herrschaftsverhältnissen arrangieren. Allerdings hatten sich die Askanier bereits um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert faktisch in Teilen der Mark durchgesetzt.
Die Grabplatte des Ratsherrn und Kaufmanns Conrad von Belitz ist die älteste bekannte bildliche Darstellung eines Berliner Bürgers.
Vielleicht ging die Gründungsinitiative für Berlin und Cölln direkt von den Askaniern aus, die dann mit Vergünstigungen Siedler anwarben. Möglicherweise wurden die Städte aber auch von deutschen Kaufleuten aus dem Westen aus eigenem Antrieb genossenschaftlich angelegt, natürlich mit berechnender Erlaubnis der Landesherren. Dafür spräche, dass in Berlin-Cölln keine Burg entstand, ganz im Gegensatz zu Spandau und Köpenick. Man schützte sich zunächst durch natürliche und künstliche Wasserläufe und Palisaden, seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts mit einer vier bis sechs Meter hohen Mauer. Deren Reste stehen noch heute in der Littenstraße. Zwischen Berlin und Cölln gab es keine Befestigungen, sodass die Ufer gewerblich genutzt werden konnten. Zieht man die Mundart- und Ortsnamenforschung zurate, kamen die ersten Bewohner wohl aus dem Rheinland, aus Flandern, Holland, Westfalen, dem Harz und der Altmark. Das entspricht der Isotopen-Analyse der Zähne aus den ältesten Gräbern von Cölln. Danach kamen deren erste Bewohner aus der norddeutschen Tiefebene.
DIE FRÜHEN HANDELSWEGE
Berlin-Cölln lag an der Stelle, wo sich das stellenweise sumpfige Urstromtal der Spree zwischen den Hochflächen des Barnim und des Teltow auf etwa vier Kilometer verengt. So bekam die Stelle, etwa auf halbem Weg zwischen Spandau und Köpenick, eine Art Passcharakter. Die Doppelstadt avancierte damit zu einem wichtigen Knotenpunkt im Netz der Handelswege zu Lande und zu Wasser. Über Spree, Havel und Elbe kam man bis nach Hamburg. An Straßen gab es schon zu slawischen Zeiten eine bedeutende Ost-West-Verbindung zwischen Rhein und Weichsel. Sie verlief über Magdeburg und Brandenburg, querte bei Spandau die Havel und lief südlich der Spree überschwemmungssicher über die Teltower Hochfläche nach Köpenick Richtung Oder. Um Berlin-Cölln anzuschließen, verlegte man diese alte Fernhandelsstraße nördlich der Spree, die am Spandauer Tor (Nähe Hackescher Markt) in die Spandauer Straße mündete. Diese Verbindung findet sich verändert noch heute etwa im Straßenzug Nonnendammallee, Siemens-, Hutten-, Turmstraße, Alt-Moabit, Invalidenstraße, Hannoversche Straße und Oranienburger Straße (ehemals Spandauer Heerweg) wieder. Über das Oderberger Tor (später Georgen- und Königstor am Alexanderplatz) ging es Richtung Ostsee und Oder weiter. Damit war Köpenick etwas abgehängt.
Zusätzlich gab es noch eine Nord-Süd-Verbindung aus dem Raum Leipzig/Halle/Meißen zur Odermündung/Stettin. Es handelt sich um die Via Imperii. Sie verlief über Trebbin, Saarmund, Teltow, Berlin-Cölln, Wedding, Buch, Bernau und Prenzlau. Auf dem südlichen Zweig kam man über Nürnberg, Augsburg, Innsbruck, den Brenner und Florenz bis nach Rom.
DIE FÖRDERUNGEN DURCH DIE MARKGRAFEN
Außerdem herrschte im Mittelalter ein Straßenzwang, der Händler dazu nötigte, nur vorgeschriebene Straßen zu nutzen und ihre Waren in den Städten an zugewiesenen Plätzen drei Tage lang anzubieten. Grundlage war das vom Landesherrn im 13. Jahrhundert verliehene Niederlags- oder Stapelrecht, das aber nur für Berlin, nicht für Cölln galt. Die Kauf- und Fuhrleute konnten sich jedoch durch die Zahlung einer Gebühr von dieser Pflicht befreien.
Diese Niederlags„pflicht“ galt auch für den Schiffsverkehr. Daher ließ der Landesherr vermutlich zwischen 1220 und 1230 quer durch die Spree den Mühlendamm bauen, der in Höhe der gleichnamigen Brücke lag. Für die Anlage dieses Bauwerks gab es vier Gründe: Erstens mussten die Waren hier von einem Schiff auf ein anderes ab- und umgeladen werden, weil keine Umfahrung möglich war. In Spandau dagegen konnten Schiffe über einen Schleusengraben am Damm vorbeifahren. Zweitens betrieb der Landesherr hier Wassermühlen, die erstmalig 1285 urkundlich erwähnt wurden. Getreidehändler aus umliegenden
Blick zum Mühlendamm und zur Fischerbrücke (links),um 1879
Orten mussten ihr Korn hier mahlen lassen (Mahlzwang). In diesem Zusammenhang entstand auf der Berliner Seite das markgräfliche Amt Mühlenhof, der beträchtliche Handelseinnahmen erzielte. Drittens konnte man durch den Mühlendamm, Wehre und Gräben den Wasserstand der Spree regulieren. Allerdings kam es durch die Aufstauung von bis zu zwei Metern zu Überflutungen stromaufwärts. Viertens konnte man den Verkehr zwischen beiden Städten über die Spree führen. Erst seit 1578 war es möglich, den Mühlendamm über eine Schleuse im Cöllner Stadtgraben zu umfahren. Der Damm wurde 1894 beseitigt, damit die Spree nach mehr als 600 Jahren wieder durchgängig befahrbar wurde.
Berlin und Cölln besaßen außerhalb der Mauern umfangreiches Weideland.
Die brandenburgischen Markgrafen gewährten Berlin und Cölln vor 1251 bzw. 1261 Stadtrechte unter Zugrundelegung des Magdeburger Rechts. Es garantierte den Bürgern (nicht allen Einwohnern!) u. a. die persönliche Freiheit, das Eigentumsrecht, die Unversehrtheit von Leib und Leben sowie die Erlaubnis für eine wirtschaftliche Tätigkeit. Es regelte Fragen wie etwa die Haftung für Ware, die Pflicht zur Rechnungslegung, Fragen geordneter Buchführung usw. Außerdem räumte der Landesherr den Städten das Bürgerrecht ein, das aber an Besitz von Grund und Boden geknüpft war. Man konnte es auch durch die Zahlung einer erheblichen Geldsumme erwerben. Das Bürgerrecht war die Voraussetzung für die Aufnahme in eine Zunft und Ausübung eines Gewerbes. Und nur Bürger hatten Anteil am Gemeinbesitz der Stadt wie an Brennholz, am Fischfang oder an der Bewirtschaftung städtischen Ackerlandes. Denn Berlin und Cölln besaßen außerhalb der Mauern, teilweise durch Zuweisung der Markgrafen, umfangreiches Acker-, Wald- und Weideland. Cöllns Ländereien waren mindestens 42 Hufen groß und reichten etwa bis zum späteren Landwehrkanal. Die Berliner Feldmark umfasste 122 Hufen. Das sind etwa 1000 Hektar, eine Fläche, die etwa dreimal so groß war wie das Tempelhofer Feld und etwa bis zur Ringbahntrasse zwischen Ostkreuz und Wedding reichte.
Markgraf Otto III. († 1267) schenkte der Stadt Cölln 1261 ein Waldgebiet, die „Köllnische Heide“. 1289 übergab Markgraf Otto V. († 1298) die „curia Weddinge“ (Gutshof oder Siedlungs-
reste) der Stadt Berlin als Eigentum. Zusätzlich besaßen 1375 42 Berliner und Cöllner Bürgerfamilien in 94 Dörfern der Umgebung Bauernhöfe oder Land als Lehen. Die Bauern mussten Getreide oder Geld abliefern oder waren zu Arbeitsleistungen wie z. B. Spanndiensten verpflichtet.
1435 kauften Berlin-Cölln die Dörfer Tempelhof, Mariendorf, Marienfelde und Rixdorf samt Ländereien von den Johannitern. Dennoch war Berlin-Cölln keine Bauernstadt, die Äcker waren städtischer Besitz und wurden von Angestellten oder Tagelöhnern bewirtschaftet.
Der breite Saum landwirtschaftlicher Flächen um die Doppelstadt hatte zur Folge, dass die nächsten Dörfer erst in größerer Entfernung lagen. Nach Schöneberg und Lichtenberg waren es rund fünf Kilometer. Auf dem Teltow waren bald nach 1200 Anger- und Straßendörfer mit Hufengewannfluren gegründet worden, auf dem Barnim nach 1250. Auf dem Stadtgebiet von Groß-Berlin entstanden 53 Bauern- und einige Fischerdörfer.
Daneben bestand ein ganzes System von Steuererleichterungen und Zollbefreiungen, um den Handel zu befördern. Dazu gehörte z. B. eine weitgehende Befreiung der Bürger von Zollzahlungen auf ihren Handelsfahrten in der Mark, was die Transportkosten senkte. Auch der städtische Grund und Boden, Eigentum des Markgrafen, konnte spätestens seit 1298 abgabenfrei genutzt werden.
DIE MÄCHTIGEN HÄNDLER
Jüdische Händler waren in der Mark schon seit dem 10. Jahrhundert aktiv. Neben Fellen, Honig, Wachs und Pottasche als Backzusatz handelten sie mit slawischen Sklaven. Das Wort „Sklave“ kommt vom mittellateinischen Wort „sclavus“ und bedeutete ursprünglich „Slawe“. Die Sklaven wurden meist über Spanien in islamische Länder verkauft. Dass Handelsbeziehungen mit dem Orient bestanden, beweisen Funde arabischer Münzen aus dem 11. Jahrhundert im Raum Berlin. Nach Gründung der deutschen Orte bildeten Großkaufleute und Fernhändler die städtische Oberschicht. Sie waren gut vernetzt, vermutlich gab es sogar verwandtschaftliche Handelsbeziehungen in die Regionen der alten Heimat. Sie stellten auch die Räte in Berlin und Cölln. Deren Mitglieder konnten allerdings nicht von den Bürgern gewählt werden. Vielmehr bestimmten die amtierenden Ratsherren ihre Nachfolger aus dem Kreis einflussreicher Familien selbst. Faktisch hatten damit
die Reichen das Sagen – Macht und Kapital in einer Hand. Erst 1346 sorgte Markgraf Ludwig II. († 1365) dafür, dass künftig vier Berliner und zwei Cöllner Gewerke durch Zunftmeister im Rat vertreten waren.
Diese Oberschicht machte aber nicht mehr als zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung aus, während mehr als die Hälfte der Bewohner zur städtischen Unterschicht zählte. Wegen Beleidigung des Rates und Widerstandes gegen ihn wurden zwischen 1398 und 1448 sogar 15 Personen enthauptet.
Von 1307 bis 1442 hatten sich Berlin und Cölln zu einer „Union“ mit einem gemeinsamen Rat zusammengeschlossen. 1432 vereinigten sich beide Städte sogar zu einer Gemeinde. Es ging vor allem um eine einvernehmliche Bündnis- und Verteidigungspolitik. Das größere Berlin entsandte zwölf Vertreter, Cölln sechs. Zusätzlich entstand 1309 ein weiteres Rathaus auf der Langen Brücke (heute Rathausbrücke) zwischen den beiden Siedlungen. Es wurde als letztes Symbol städtischer Eigenständigkeit 1514 wieder beseitigt.
Wir kennen heute noch die Namen der geschäftstüchtigen Ratsfamilien. Sie begegnen uns z. B. in der Wins- und Rykestraße, die jeweils einen Bürgermeister stellten. Die Familie Blankenfelde, schon 1287 im Berliner Rat nachweisbar, besaß ihr Haus bis 1612 in der Spandauer Straße 23. Es wurde 1888 abgerissen.
Der Kaufmann Conrad von Belitz wurde auf dem Kirchhof des Grauen Klosters beigesetzt. Seine Grabplatte, zugleich der älteste bekannte Berliner Grabstein überhaupt, kam später in die Nikolaikirche und befindet sich seit 1948 im Märkischen Museum. In die Platte aus Sandstein ist ein lebensgroßes Flachrelief eingeritzt. Es zeigt den Verstorbenen in einem Gewand, die Hände zum Gebet gefaltet. Die lateinische Inschrift lautet übersetzt: „Am 15. Mai im Jahre des Herrn 1308 ist Conrad von Belitz gestorben, Er möge ruhen in Frieden. Amen.“ Von Belitz wurde bereits 1288 als Ratsherr genannt, und sein Name steht zwischen 1290 und 1302 mehrfach im sogenannten Hamburger Schuldbuch. Dort notierte man Geschäfte auf Pump. Nach Begleichung der Schuld wurde die Passage gestrichen. Zwischen 1288 und 1349 gibt es 86 Eintragungen Cöllner und Berliner Kaufleute, was auf ihre Kreditwürdigkeit und regen Handel schließen lässt.
Womit aber mögen die Kaufleute und Händler gehandelt haben? In dieser abgelegenen, sandigen Pampa um Berlin gab es keine Rohstoffe – bis auf Holz. Im Westen waren die Wälder schon erheblich geschrumpft, aber der Bedarf an Holz wuchs.
Holz, vor allem Eiche, gab es um Berlin herum im Überfluss, und es ließ sich auf dem Wasserweg gut nach Hamburg oder England transportieren. Auf den gerodeten Flächen konnte anschließend Getreide angebaut werden. Die wachsende Bevölkerungszahl und Missernten wie z. B. 1315–17 führten zu ständig steigender Nachfrage. „Berliner Roggen“ war weithin bekannt und ein Exportschlager. Schon für Slawen, Kelten und Germanen war es jahrhundertelang das einzige Brotgetreide. Roggen gedeiht gut auf sandigen und lehmigen Böden und braucht nicht viel Wärme. Exportiert wurden außerdem Felle und Häute aus Osteuropa, aber auch Wolle, Süßwasserfisch, Wachs, Wein und Honig. Zu den Einfuhrprodukten zählten Seefisch wie geräucherte Bücklinge oder Salzheringe, die meist von Stettin über Oderberg kamen, aus dem Rheinland und Mitteldeutschland Salz, Metallwaren wie Waffen und Keramik, aber auch Gewürze. Ein begehrtes Produkt war das feine Wolltuch aus Flandern, das sich in Farbe und Qualität von den heimischen Produkten abhob. Das Erdgeschoss des alten, zweigeschossigen Berliner Rathauses, das vor dem Roten Rathaus stand, wurde als Tuchhalle genutzt. Im Obergeschoss fanden die Ratssitzungen und Zusammenkünfte der Tuchmacher- und Kaufmannsgilde statt. Möglicherweise hatte man sich das in Flandern abgeguckt, denn das historische
Bei Grabungen fand man im Jahr 2010 große Teile der alten Tuchhalle.
Rathaus der Stadt Lier ist die ehemalige Tuchhalle. Die Tuchhallen in Krakau sind heute eine Sehenswürdigkeit.
Das marode alte Rathaus in Berlin wurde nach 1865 bis auf die Fundamente, Keller und Teile der Tuchhalle abgetragen, die Reste zugeschüttet. 2010 kamen die Bauteile bei Bauarbeiten für die U-Bahnlinie 5 wieder zum Vorschein. Die Gewölbe der Tuchhalle (rund 18 mal 39 Meter groß) waren zu mehr als der Hälfte erhalten geblieben.
Die Doppelstadt war vermutlich bereits ab Ende des 13. Jh.s Mitglied der Hanse.
Irgendwann setzte sich die Einsicht durch, dass es von Vorteil war, wenn die Händler mehrerer Städte zusammenarbeiteten. So war Berlin Mitglied in Bündnissen wie z. B. 1321 mit Städten in der Mittelmark und der Niederlausitz oder 1393 mit 21 mittelmärkischen Städten, die sich gegen Straßenraub und Landesfriedensbruch wehrten. Bevollmächtigte von Berlin-Cölln nahmen 1358 am Lübecker Hansetag teil. Dies ist die älteste Überlieferung der Mitgliedschaft der Doppelstadt in der Hanse, die mit Sicherheit weiter zurückreicht, vermutlich bis Ende des 13. Jahrhunderts. Der Kaufmanns- und Städtebund erlaubte weitreichende
Handelsbeziehungen. Man beschloss z. B. Handelsboykotte gegen Brügge oder Maßnahmen gegen die Seeräuberei. Auf kurfürstlichen Druck mussten Berlin-Cölln 1452 offiziell ihren Austritt aus der Hanse erklären, sie nutzten aber noch bis 1518 die hansischen Privilegien. Die Berliner Fernhandelsherren versuchten nun, in der sächsischen Handelsstadt Leipzig Geschäfte zu machen, in der seit Mitte des 12. Jahrhunderts jährlich zwei Messen abgehalten wurden.
DAS STÄDTISCHE HANDWERK
Bäcker, Schuhmacher, Tuchmacher und Knochenhauer (Fleischer) gehörten zu den ersten und wichtigsten Zünften, das sogenannte Viergewerk. Zünfte wurden auch Gilden, Gewerke oder Innungen genannt. Sie produzierten vornehmlich für den lokalen Markt. Bierbrauer und Fischer bildeten keine eigene Zunft, da diese Tätigkeiten eher ein Nebenerwerb waren. Laut einer Ratsurkunde von 1370 durften nur Bürger Bier brauen. Und Bier wurde oft getrunken, weil das Getränk durch das Erhitzen während des Herstellungsprozesses im Gegensatz zu Brunnen-
wasser keine Keime enthielt. Nichtzünftige Handwerker waren z. B. Zimmerleute, Tischler, Töpfer, Ziegler, Seiler, Sattler, Kesselflicker, Glaser, Fuhrleute, Viehmäster usw.
Der Wursthof, in dem geschlachtet wurde (um 1840 abgerissen), das Walkhaus für die Tuchmacher und drei Ziegeleien befanden sich in städtischem Eigentum. Letztere lagen vor dem Spandauer, Stralauer und Köpenicker Tor und nutzten den Kalk aus Rüdersdorf. Der Rat setzte die Löhne und Preise für Handwerksprodukte fest und beaufsichtigte Produktion und Verkauf. Die Zünfte überwachten die Ausbildung des Nachwuchses und die Qualität der Produkte.
Verkauft wurden Handelswaren und Handwerkerprodukte, aber auch Lebensmittel auf den Märkten, die an unterschiedlichen Tagen einmal wöchentlich in Cölln und Berlin abgehalten wurden. Der älteste Berliner Markt war der Molkenmarkt. Er hat seinen Namen von den nahen Mühlen am Mühlendamm, die im damals gebräuchlichen Niederdeutschen „Mollen“ hießen. Die dort befindlichen Krambuden wurden 1698 zum Neuen Markt gebracht, der beim Stadtausbau um 1250 an der Ecke Bischofstraße/Spandauer Straße 64 nahe der Marienkirche entstanden war. Er war der weitaus größte Marktplatz der Doppelstadt. Hier standen auch die öffentliche Waage und das Kauf- oder
Der Cöllnische Fischmarkt war der Hauptmarkt der mittelalterlichen Kaufmannssiedlung auf der Spreeinsel. Im Hintergrund das Rathaus und die Petrikirche. Kupferstich von J. G. Rosenberg, um 1785
Ausschnitt des 22 Meter breiten und 2 Meter hohen Freskos Berliner Totentanz in der Marienkirche. Ein Skelett führt einen Kirchherrn zu seinem Tod, rechts daneben die Figur eines Augustiners.
Kramhaus als Lager für die Kaufmannsgüter. Der Cöllner Markt lag an der Petrikirche. Beiderseits der Mühlendammbrücke befanden sich der Berlinische und Cöllnische Fischmarkt, wo täglich verkauft wurde; in Berlin an vier Tagen, in Cölln an drei Tagen die Woche. Marktmeister, sogenannte „Wachtsetzer“, beaufsichtigten das Marktgeschehen, die Maße und Gewichte. Etwa fünfmal im Jahr wurden Jahrmärkte veranstaltet, wo der Warenverkauf über mehrere Tage hinweg stattfand. Die Breite Straße in Cölln (früher Große Straße) wurde extra so breit angelegt, damit man Platz für die Buden hatte.
WIE SAHEN BERLIN UND CÖLLN UM 1400 AUS?
Cölln lag auf der Spreeinsel und reichte von der Südspitze bis kurz vor den Schlossplatz (800 mal 370 Meter). Nördlich schlossen sich das Dominikanerkloster (um 1300–1535) und später das Schloss an. Auf der anderen Spreeseite lag Ur-Berlin, zunächst mit dem Viertel um den Molkenmarkt und die Nikolaikirche. Ab etwa 1250 erfolgte ein Ausbau nördlich der heutigen Rathausstraße mit dem Viertel um die Marienkirche und dem Fran-
ziskanerkloster (um 1270–1539) an der Klosterstraße. Der Stadtbahnbogen zwischen Hackeschem Markt und Jannowitzbrücke grenzt Ur-Berlin in etwa nach Norden und Osten ab (1140 mal 510 Meter). Beide Städte hatten zusammen rund 6000 Einwohner, drei große Kirchen, drei Rathäuser, drei Marktplätze und zwei Klöster. Außerdem gab es drei Hospitäler (mit Jahr der Ersterwähnung): das Heilig-Geist-Spital an der Spandauer Straße (1272), das Georgenhospital (1277) nahe dem Alexanderplatz außerhalb der Mauern und das St.-Gertrauden-Stift (1405) am Spittelmarkt, damals auf der cöllnischen Feldmark. Zudem gab es acht Begräbnisplätze: je einen an den drei Kirchen und Hospitälern, zwei an den Klöstern.
Neben dem Handel profitierte Berlin seit 1280 auch von der größten landesherrlichen Münzprägeanstalt der Mark, den erhobenen Marktzöllen sowie den Wassermühlen, deren Einkünfte später an die Stadt gingen. Es war ein Handelsplatz von überregionalem Rang entstanden. Während die wohlhabenden Handels- und Kaufleute – zumal in ihrer Funktion als Räte – die Oberschicht ausmachten, bildeten Ackerbürger und Handwerksmeister die Mittelschicht. Ohne Bürgerrecht blieben unehelich Geborene, Gesellen, Gesinde, Tagelöhner und Slawen. Dieser Unterschicht gehörte weit mehr als die Hälfte aller Bewohner an. Juden, seit 1295 in Berlin aktenkundig, besaßen Sonderbürgerrechte, einige wurden im 15. Jahrhundert sogar eingebürgert. Sie arbeiteten als Geldverleiher oder boten niedere Dienstleistungen an, weil ihnen die Ausübung von Handwerken verboten war. In Cölln siedelten sich 1354 sechs jüdische Familien an. In den folgenden Jahrhunderten wurden Juden mal als Minderheit gehätschelt, mal grausam verfolgt und vertrieben.
Ackerbürger und Handwerksmeister bildeten die Mittelschicht.
Der sogenannte Berliner Totentanz, ein Wandgemälde in der Marienkirche aus der Zeit um 1484/85, zeigt die soziale Schichtung in einem Tanz mit dem Tod. Neben dem geistlichen Stand werden auch Personen aus dem weltlichen Stand dargestellt: an der Spitze Bürgermeister, Rats- und Gerichtspersonen sowie alte Geschlechter, mit Abstand die vier angesehenen Handwerker und andere reiche Bürger, an dritter Stelle die übrigen Bürger und Handwerker. Tagelöhner und Gesinde bilden den Schluss.
Die kurfürstliche Residenz (1450–1650)
DIE HERRSCHER DER MARK BRANDENBURG
Mit dem Tod des askanischen Markgrafen Waldemar 1319 und seines unmündigen Vetters Heinrich 1320 starb das Geschlecht aus. Bis 1373 herrschten nun die Wittelsbacher. Unter ihrer Regentschaft wurde die Markgrafschaft durch die Goldene Bulle 1356 zum Kurfürstentum Brandenburg erhoben, was das Recht bedeutete, an der Wahl deutscher Könige teilnehmen zu dürfen. 1373 mussten die Wittelsbacher die Mark an Kaiser Karl IV. († 1378) aus dem Hause der Luxemburger verkaufen. Sein Sohn Sigismund († 1437), ab 1433 ebenfalls Kaiser, machte den Burggrafen von Nürnberg, Friedrich VI. († 1440) aus dem Hause der Hohenzollern, 1411 zum Verwalter der Mark Brandenburg. Am 30. April 1415 verlieh er ihm auf dem Konzil von Konstanz die erbliche Würde des Markgrafen und Kurfürsten. Die Herrschaft der Hohenzollern währte bis 1918 – mehr als 500 Jahre.
Ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts hatten die brandenburgischen Markgrafen und Kurfürsten schon eine feste Residenz in Berlin. Bereits 1261 ist von einer „Aula Berlin“ die Rede, aus der später das sogenannte Hohe Haus hervorging. Es stand in der Klosterstraße 76 (heute Rathauspassagen). Obwohl es später völlig umgebaut wurde, kamen beim Abbruch 1931 verloren geglaubte mittelalterliche Bauteile zum Vorschein. Das monumentale Backsteinportal mit seinem gotischen Spitzbogen wurde im Märkischen Museum eingelagert. Die Landesherren hielten sich aber eher selten in Berlin auf, sie bevorzugten die befestigte Zitadelle Spandau oder die Burg Tangermünde als Aufenthaltsort. Den Berliner Sitz verwaltete ein Voigt.
BERLIN WIRD RESIDENZ
Friedrich I. starb 1440. Sein Sohn Friedrich II. († 1471) war entschlossen, die Macht der Doppelstadt zu brechen. Als es 1441 zu Spannungen zwischen den Ratsgeschlechtern und der Bürgerschaft in Berlin-Cölln kam, weil die Viergewerke und einfache Bürger im Rat mitbestimmen wollten, nutzte der Kurfürst die innerstädtische Zwietracht: 1442 hob er die 1432 vollzogene Vereinigung beider Städte auf – Berlin wurde zum ersten Mal ge-
Hinten im Bild mit Treppenaufgang und Schornstein: mutmaßliches Wohnhaus des Cöllner Kaufmanns Hans Kohlhase. Undatierte Fotopostkarte
Die älteste bekannte Darstellung des Berliner Schlosses stammt aus dem Jahr 1592.
teilt, und das schon damals gegen den Willen seiner Bewohner. Die getrennten Räte konnten nun von der Bürgerschaft gewählt werden – sofern die Gewählten dem Kurfürsten genehm waren. Zusätzlich entzog er beiden Städten die Gerichtsbarkeit sowie das Bündnis- und Niederlagsrecht und damit alle daraus fließenden Einnahmen wie Steuern, Gebühren und andere Abgaben. Außerdem musste die Stadt Cölln einen Bauplatz zur Errichtung einer Zwingburg bereitstellen, dem späteren Schloss. Berlin und Cölln suchten vergeblich die Hilfe anderer Städte und der Hanse. Friedrich II., wegen seiner Unnachgiebigkeit auch „Eisenzahn“ genannt, legte am 31. Juli 1443 den Grundstein für die Burg. Schon die Wittelsbacher hatten ein Jahrhundert zuvor einen solchen Bau geplant, weil Berlin eine Stadt mit überregionaler Bedeutung geworden war: Ab 1280 war die Stadt Tagungsort des märkischen Landtags und der märkischen Stände.
1448 setzten die Berliner aus Protest die Baustelle unter Wasser, sperrten Abgesandte des Kurfürsten ein, verwüsteten das Hohe Haus und verbrannten wertvolle Dokumente auf der Straße. Diese Aktionen gingen als „Berliner Unwille“ in die Geschichte ein. Gegen die Rädelsführer wurden Geldbußen verhängt, ihre Lehnsgüter und Vermögen eingezogen sowie Verbannungen ausgesprochen.
Der vermutlich 88 Meter lange Neubau längs der Spree hatte wohl drei Geschosse und bezog einen Turm der Cöllner Stadtmauer, den „Grünen Hut“, mit ein. 1451 wurde der Bau vollendet und mit einer starken Besatzung belegt. Er war nach drei Seiten von einer Mauer umgeben. Eine Abbildung davon ist nicht überliefert. Aber es dürfte ein ungemütlicher, kalter, zugiger und feuchter Kasten gewesen sein, weshalb sich Friedrich II. hier zunächst selten aufhielt. Erst Johann Cicero († 1499), ab 1486 Kurfürst, bestimmte die Doppelstadt Berlin-Cölln zur dauerhaften Residenz. Dies war die Geburt von Berlin als Hauptstadt. Zunächst folgten aus dieser Entscheidung allerdings kaum wirtschaftliche Impulse, weil die Hofhaltung eher kümmerlich war. Neue Arbeitsplätze gab es vorläufig auch nicht, weil die Hohenzollern ihre Berater, Beamte und sonstiges Gefolge aus Franken mitbrachten.
Die Hofhaltung war kümmerlich.
Zudem kamen vermehrt spezialisierte Handwerker nach Berlin, vor allem aus Franken, Sachsen und Thüringen. Die Hauptrichtung der Zuwanderung und die Handelsverflechtungen hatten sich im Laufe der Zeit merklich von Westen nach Süden gedreht. Damit ging allmählich ein Wandel vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen einher, das im Süden eher gebräuchlich war als im Norden. So wurde z. B. aus „Appel“ Apfel oder aus „maken“ machen. Alteingesessene gebildete Berliner Bürgerfamilien passten sogar ihre Namen an, so wurde z. B. aus Ryke Reiche. Das Hochdeutsche setzte sich in den 30er- und 40er-Jahren des 16. Jahrhunderts auch in der Schriftsprache durch. Martin Luther († 1546) hatte bei seiner Bibelübersetzung weitgehend die sächsische Kanzleisprache genutzt, die großen Einfluss auf die Entwicklung des Hochdeutschen als Volkssprache hatte.
Die märkische Wirtschaft stagnierte jedoch ab Mitte des 15. Jahrhunderts. Zunächst übernahmen die Junker den Handel mit Getreide. Später kam es nach Bevölkerungsverlusten durch die Pest zu einer Absatzkrise und zum Preisverfall. Aus dem süddeutschen und dem sächsischen Raum verstärkte sich der Zustrom billiger Metall- und Textilwaren, dazu kam eine Konkurrenz neuer gewerbliche Betriebe auf dem Land. Die neuen Handelsrouten liefen nun eher über Leipzig und Frankfurt/Oder, wo die Messen stattfanden.
Kurfürst
Joachim II. führte in Brandenburg die Reformation ein. Gemälde von Lucas Cranach d. J., 1555
Der Enkel Johann Ciceros, Joachim II. († 1571), wurde 1535 Kurfürst. Er fiel durch eine kostspielige und teilweise bizarre Lebens- und Amtsführung auf, außerdem gab er ungeheure Summen für Bauprojekte aus. 1542 legte er den Grundstein für das Jagdschloss Grunewald, ab 1558 entstand Schloss Köpenick und ab 1560 die Zitadelle Spandau.
Schon ab 1538 ließ er die alte Cöllner Burg seines Urgroßvaters schrittweise abreißen und nach Plänen des Baumeisters Caspar Theyß († um 1550) in ein repräsentatives, dreistöckiges Renaissanceschloss umbauen. Hinzu kamen ein Ballhaus für Ballspiele, ein Reithaus und ein Jägererhof sowie die Stechbahn für Ritterturniere. So florierte das Maurer- und Zimmerhandwerk, wenngleich die Arbeitsbedingungen hart waren. 1606 legte eine Verordnung die Arbeitszeit für Bauleute fest: Danach wurde im Sommer 13 Stunden gearbeitet, von vier Uhr früh bis sieben Uhr abends mit zwei einstündigen Pausen, im Winter elf Stunden.
Joachim II. feierte gerne üppige Feste. Und in der Schlossküche verköstigte man täglich 285 Mitarbeiter des Hofes, was als freie Kost ein Teil der Entlohnung war. Was das kurfürstliche Amt Mühlenhof nicht an Nahrungsmitteln liefern konnte, wurde zugekauft, zur Freude der Lebensmittelkrämer. Einer von ihnen war der Cöllner Hans Kohlhase, der mit Heringen, Speck und Honig handelte. Zu Unrecht des Pferdediebstahls beschuldigt und finanziell geschädigt, überfiel er im Februar 1540 in einem Akt von Selbstjustiz einen Silbertransport des brandenburgischen Kurfürsten. Dafür wurde er am 22. März 1540 auf dem Rabenstein (heute Strausberger Platz) hingerichtet. Den Fall nahm Heinrich von Kleist (Suizid 1811) später als Vorlage für seine
Novelle Michael Kohlhaas.
Joachim II. nutzte alle legalen und illegalen Mittel, um sich Geld für seine Prunksucht zu beschaffen. Trotz teilweiser Stundung der Schulden stand er bei seinem Tod bei unzähligen Gläubigern mit 4,7 Millionen Gulden in der Kreide. Die Steuerzahler mussten den Schuldenberg abtragen, etliche Kreditgeber verloren ihr Vermögen.
JETZT WIRD DRUCK GEMACHT
Eine epochale Entscheidung Joachims II. war der friedliche Übertritt zum protestantischen Glauben 1539. Geprägt war er durch seine Mutter Kurfürstin Elisabeth († 1555), die sich schon ab den 1520er-Jahren zu den Lehren Luthers bekannte. Die Reformation besserte auch die Kassen des Kurfürsten auf, indem er den Besitz der aufgelösten Klöster und Stifte verstaatlichte. Zudem holte er den Drucker Hans Weiss 1540 aus Wittenberg, der „… jitziger zeit Unser Buchdrucker / auff unser gnediges erfordern und begeren …“ werden sollte.1
Eine Druckerei gab es bis dato in Berlin nicht, obwohl das Drucken mit beweglichen Lettern schon rund ein Jahrhundert zuvor von Johannes Gutenberg († 1468) erfunden worden war. Hans Weiss brachte vermutlich Druckgerätschaften und Personal mit nach Berlin. Eine seiner ersten Aufgaben war der Druck der neuen „Kirchen Ordnung im Churfurstenthum der Marcken zu Brandemburg, wie man sich beide mit der Leer und Ceremonien halten sol.“2 Gedruckt wurden außerdem Papiere der kurfürstlichen Regierung, religiöse Schriften des Rektors des Cöllnischen Gymnasiums und des Hofpredigers sowie Schulbücher, Epistelsammlungen u. a. Obwohl Weiss vermutlich bereits 1543 starb, lief der Betrieb bis 1547 weiter. Danach gingen Druckaufträge vorläufig nach Frankurt/Oder, bis 1572 der zwielichtige Leonhard Thurneisser († 1596) nach Berlin kam, der sich als Universalgelehrter und „Alleskönner“ ausgab. Er behauptete Gold machen zu können, erstellte astrologische Kalender, gab fragwürdige Gesundheitsratschläge und verkaufte unwirksame Medikamente. Im Grauen Kloster richtete er eine Druckerei ein, die bis zu 200 Mitarbeiter hatte. Da er verlustreiche Prozesse führen musste und man ihn zunehmend als Betrüger und Hochstapler entlarvte sowie der Zauberei verdächtigte, musste er Berlin 1584 fluchtartig verlassen. Die Druckerei ging durch mehrere Hände und bestand wohl noch bis 1592. Zwischen 1573 und 1592 erschienen in Berlin nur 94 gedruckte Bücher, die auch eher für den lokalen Markt gedacht waren. Erst 1599 beauftragte Kurfürst Joachim Friedrich († 1608) den Typografen Christoff Runge d. Ä. († 1607), die alte Druckerei im Grauen Kloster zu reaktivieren. Sein Sohn Georg († 1639)
Die Steuerzahler mussten den Schuldenberg abtragen.
führte die Druckerei weiter und wurde der erste Berliner Zeitungsdrucker. Die ältesten gedruckten Berliner Zeitungen stammen aus dem Jahre 1617. Dabei wurden gesammelte Nachrichten sporadisch an den Hof, an Gelehrte und wohlhabende Bürger weitergeleitet. Rund drei Jahrhunderte später war Berlin das Pressezentrum Deutschlands.
WANDEL IN HANDWERK UND HANDEL
So entstanden durch neue Techniken neue Berufe: Buchdrucker und Buchbinder, aber auch Nadler, Seidensticker, Teppichmacher, Uhrmacher usw. Diese neuen Gewerbe etablierten sich durch eine Zuwanderung von Handwerkern, wie das Beispiel Weiss zeigt. Da sie nicht zunftgebunden waren, schlossen sie sich zu 23 Innungen zusammen.
Die letzten Vertreter der alteingessenen Handelsdynastien des Großbürgertums starben im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts aus. Der letzte Nachkomme der Familie Blankenfelde starb 1620. Andere Familien hatten den Handel ganz aufgegeben und waren Gutsbesitzer geworden. Außerdem kam es im 16. Jahrhundert vermehrt zur Zuwanderung von Kaufleuten, die die etablierten Handelsgeschlechter des Mittelalters ersetzten.
Auch Landwirtschaft wurde weiter fleißig betrieben. 1565 gehörten zu Berlin-Cölln 236 Baum- und Gemüsegärten sowie 98 Weinberge und Weingärten. Hoch war die Qualität des Weins nicht. Man versetzte ihn mit Wurzeln, Kräutern, Honig und Beeren, um ihn trinkbar zu machen. Rechnerisch dürfte jeder vierte Haushalt Gartenbesitz gehabt haben. Vom Rat besoldete Stadthirten arbeiteten auf der Berliner Feldmark in fünf Schäfereien und 17 Meiereien.
Die ehemals mächtigen Räte sanken zu weisungsgebundenen Behörden mit einem juristisch geschulten Beamtenstand herab. Aus freien Bürgern wurden Untertanen. So war aus der selbstverwalteten mittelalterlichen Handels- und Gewerbestadt ein politisches, administratives, ökonomisches und kulturelles Zentrum eines Territorialstaates geworden.
Berlin war Sitz des Hofes und sämtlicher Verwaltungsinstanzen. Das Militär, die Hofleute, Beamte und die protestantische Geistlichkeit bildeten die neue Oberschicht.
Doch ruhig und „gemütlich“ war es zu jenen Zeiten nicht. Großbrände wie 1484 oder 1581 sowie ständige militärische Gefechte mit den Nachbarn trübten den Alltag. Doch es sollte noch weitaus schlimmer kommen …
DER DREISIGJÄHRIGE KRIEG ( 1618 – 1648 )
Der schwelende Konfessionsstreit sowie territoriale und machtpolitische Konflikte führten in weiten Teilen Europas zu militärischen Auseinandersetzungen. Das Kriegsgeschehen spielte sich jedoch zunächst weit entfernt von Berlin ab. So konnten noch bis 1626 am Hof üppige Feste gefeiert werden. Das änderte sich, als der böhmische Feldherr Wallenstein im November 1627 in Berlin einrückte. Seine Truppen wurden bei
Kurfürst Johann Georg zu Besuch bei dem Drucker und Alchimisten Leonhard Thurneisser. Holzstich von Franz Kugler, 19. Jahrhundert
Georg Wilhelms
Begegnung mit Gustav Adolf bei Köpenick
Farbdruck nach Carl Röhling, o. J.
den Berlinern 16 Monate lang einquartiert und mussten von ihnen verköstigt werden. Dass die Soldaten dabei nicht immer zimperlich mit den Zivilisten umgingen, mag man sich besser nicht ausmalen. Verhindern konnte man dies nicht; Brandenburg verfügte zu dieser Zeit über keine nennenswerten Streitkräfte. 1631 fiel Schwedenkönig Gustav II. Adolf in Berlin ein, und alles begann von vorn.
Brandenburg war mehrfach Kriegsschauplatz, Aufmarschund Durchzugsgebiet. Im Gegensatz zu den Dörfern in der
Umgebung blieben Berlin und Cölln von Zerstörungen verschont, weil man sich durch Zahlung ungeheurer Geldsummen sowie die Lieferung von Tuch, Brot und Bier freikaufte. Mal verlangten katholisch-kaiserliche Truppen die Kontributionen, ein anderes Mal evangelisch-schwedische Heeresverbände. Mehrfach brach die Pest aus, die vermutlich durch Soldaten eingeschleppt worden war. Dieser Krankheit fielen über 4000 Berliner und Cöllner zum Opfer – rund ein Drittel der Bevölkerung. Kurfürst Georg Wilhelm († 1640), chronisch erkrankt, war schon 1627 ins sichere Königsberg ausgewichen und verlegte schließlich im August 1638 seinen gesamten Hofstaat dorthin. Damit war der Hof als wichtigster Auftraggeber für Handel und Gewerbe ausgefallen. Handelsreisen hörten nach und nach auf, wurden die Händler doch allzu oft von Soldaten oder marodierenden Banden ausgeraubt und mitunter massakriert. Viele Bauern hatten die Bestellung der Felder aufgegeben. Die Saaten wurden oft von durchziehenden Heeren zertrampelt. Konnte man doch einmal eine Ernte einbringen, wurde diese geraubt oder verbrannt. Das Vieh schlachteten die Soldaten zur Versorgung mit Fleisch. So kam nun auch noch der Hunger hinzu. Es gibt Berichte, nach denen einige Berliner ihr Erspartes verjubelten: noch einmal richtig feiern, bevor das Geld geraubt wird oder man umkam und es ohnehin nicht mehr ausgeben konnte.
Handel und Handwerk waren nahezu zum Erliegen gekommen.
In Berlin-Cölln standen bei Kriegsende viele Häuser leer oder waren abbruchreif. Nach einer Zählung von 1650 waren von insgesamt 1209 Wohnstätten 350 unbewohnt. Die Zahl ergibt sich aus 845 Häusern in Berlin und 364 in Cölln. Zudem hatte man die Vorstädte aus Gründen der Verteidigung selbst abgebrannt. Die ursprüngliche Bevölkerungszahl von 12 000 hatte sich auf etwa 6000 halbiert. Ein Berliner Rat klagte: „Freund und Feind haben das Land so zugerichtet, dass darin weder Katz noch Maus leben wollten!“
Handel und Handwerk waren nahezu zum Erliegen gekommen und standen am Rande des Ruins. Berlin war kein namhafter Waren- und Geldumschlagplatz mehr. Ohne Hilfe von außen kam man hier nicht weiter. Und diese Impulse kamen wieder einmal vom Landesherrn.