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Richard von Weizsäcker und sein Beitrag zur deutschen Politik
Festvortrag von Bundesminister a. D.
Dr. Thomas de Maizière MdB am 24. März 2021
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Am 15. April 2020 wäre Richard von Weizsäcker 100 Jahre alt geworden. Dass wir heute unabhängig von seinem Geburtstagsjubiläum zusammenkommen, zeugt davon, dass Richard von Weizsäcker für Politik und Gesellschaft jenseits von irgendwelchen Daten prägend bleibt.
Mit dem Buch Kassandra von Christa Wolf hat es zu tun, dass ich heute diesen Festvortrag halte. Richard von Weizsäcker war mein erster Chef. 1983 bewarb ich mich um eine Anstellung als Redenschreiber Weizsäckers, dem Regierenden Bürgermeister von Berlin. Im Bewerbungsgespräch am Rande eines CDU-Landesparteitages fragte er mich, welches Buch ich zuletzt gelesen hatte. Angeblich sind solche Fragen heutzutage in Bewerbungsgesprächen politisch nicht korrekt – was für ein Unsinn! Es war Kassandra – Christa Wolfs bitter-kluge Erzählung über Schwäche, Angst und Gewalt. Ein altgriechischer humanistischer Mythos, mit großer Kraft erzählt von einer DDR-Schriftstellerin, gelesen in der ganzen deutschen Nation. Weizsäcker hatte es auch gerade gelesen. Es entspann sich eine lange Diskussion über Kassandra zwischen uns. Auf diese Weise glückte das Vorstellungsgespräch, und ich bekam die Stelle. – Er suchte ja einen Redenschreiber und keinen Justiziar.
Es war äußerst lehrreich und prägend, für Richard von Weizsäcker zu arbeiten. Er hat mir wesentliche Dinge beigebracht, von denen ich bis heute profitiere: sein Umgang mit Menschen und Sprache, seine Bildung und Disziplin, sein historischer Weitblick.
Ich bin gebeten worden, darzulegen, in welcher Weise Weizsäcker in Politik und Gesellschaft Spuren hinterlassen hat und wie er uns in Erinnerung bleibt. Zuvor möchte ich – für die Jüngeren – schlaglichtartig einige seiner Lebens- und beruflichen Stationen Revue passieren lassen. So wird am besten deutlich, wie stark sein eigenes Leben von der deutschen Geschichte geprägt war.
Richard von Weizsäcker kam im April 1920 in Stuttgart als Sohn des Diplomaten Ernst von Weizsäcker auf die Welt. Zusammen mit seinem Bruder Heinrich gehörte er als Angehöriger des berühmten Potsdamer Infanterie-Regiments 9 zu den Soldaten, die am 1. September 1939 nach Polen einmarschierten. Heinrich fiel einen Tag nach Beginn des Krieges – Richard von Weizsäcker hielt Nachtwache bei seinem verstorbenen Bruder. Ganz selten sprach er von Heinrich. Dieser Verlust schmerzte ihn besonders. Der Krieg führte ihn an die Front vor Moskau und Stalingrad. Nach dem Zweiten Weltkrieg half der junge Jura-Student Richard von Weizsäcker im sogenannten Wilhelmstraßenprozess seinem Vater bei der Verteidigung.
Nach dem Studium in Göttingen ging Weizsäcker in die Industrie, anschließend war er Rechtsanwalt in Bonn. Daneben engagierte er sich in der Kirchentagsbewegung und wurde zweimal Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Der damals aufstrebende CDU-Landesvorsitzende in Rheinland-Pfalz, Helmut Kohl, wurde auf ihn aufmerksam. 1969 wurde Weizsäcker aus Rheinland-Pfalz in den Deutschen Bundestag gewählt, wo er seine politischen Lehrjahre als Abgeordneter in der Opposition antrat – manchmal, so kam es manchen vor, auch in Opposition zur eigenen Partei: Als Befürworter der Ostpolitik von Willy Brandt hatte er keinen leichten Stand in der Fraktion.
1979 kam er nach Berlin, um als CDU-Spitzenkandidat bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus anzutreten – beim ersten Mal noch erfolglos. Ohnehin hat er einige Male Kampfkandidaturen verloren. Auch das wird heute oft vergessen. Zwei Jahre später wurde er bei vorgezogenen Neuwahlen zum Regierenden Bürgermeister gewählt – in einer Stadt, die gekennzeichnet war von einer schwachen Wirtschaft, einer ausgeprägten Subventionsmentalität und einer aufflammenden Hausbesetzerszene. Weizsäcker reizte die »Verbindung von täglichen exekutiven Aufgaben mit der Außenpolitik«1.
1984 folgte der Ruf zurück nach Bonn, durchaus in einem Ringen mit Helmut Kohl. Was zehn Jahre zuvor misslang, war nun von Erfolg gekrönt: Die Bundesversammlung wählte Richard von Weizsäcker zum Bundespräsidenten. Als solcher hat sich Weizsäcker hohes Ansehen erworben. Bis heute ist er der beliebteste Bundespräsident.
Besondere Beachtung fand seine große Rede am 8. Mai 1985, in der er das Kriegsende 40 Jahre zuvor als »Tag der Befreiung« schilderte. Es gelang ihm auf
Richard von Weiz- und Sabine Bergmann-Pohl (Präsidentin der Volkskammer) vor dem Beginn des Festakts der DDRRegierung zum bevorstehenden Tag der Deutschen Einheit, 2. Oktober 1990. dauerhaft prägende Weise, den Standort der Bundesrepublik in der Geschichte zu beschreiben. In Weizsäckers zweite Amtszeit als Bundespräsident fielen 1989/90 die Friedliche Revolution, der Mauerfall und die Deutsche Einheit. Das geschlossene Brandenburger Tor, für ihn ein Zeichen der offenen deutschen Frage, öffnete sich.
Am 3. Oktober 1990 um Mitternacht stand er neben Willy Brandt, Helmut Kohl und Lothar de Maizière auf der Treppe des Reichstagsgebäudes vor einer Million vereinten Menschen.
Am 31. Januar 2015 verstarb Richard von Weizsäcker im Alter von 94 Jahren.
II.
Ich möchte sechs Aspekte seiner Biografie, seiner Person und seiner Politik etwas näher beleuchten. Und ich möchte damit zeigen, auf welche Weise Weizsäcker die deutsche Politik und Gesellschaft aus meiner Sicht geprägt hat – seinerzeit und darüber hinaus.
Erstens: Weizsäcker war einer von wenigen, die erfolgreich den Weg von der Wirtschaft in die Politik gingen. In seinem besonderen Fall führte ihn der Weg dazu noch über die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Die Welt der Wirtschaft interessierte ihn, auch weil es bis dato in seiner Familie noch keine Un- ternehmer oder Manager gab. Der ältere Bruder Carl Friedrich war Physiker und Philosoph. Und auch sonst betätigte sich in der Juristen- und Theologenfamilie der Weizsäckers noch keiner in der Privatwirtschaft. Richard von Weizsäcker sagte einmal ziemlich kokettierend: »Ich bin der Einzige in der Familie, der kein Professor geworden ist.«
Schon während des Studiums der Rechtswissenschaften fand er eine Anstellung bei Mannesmann. Nach dem Studium machte er Karriere und stieg zum Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung auf. Später wechselte er in die Geschäftsführung des Chemieunternehmens Boehringer Ingelheim. Dass Weizsäcker von der privaten Wirtschaft in die Politik ging, war damals ungewöhnlich. Denn viele Berufspolitiker kamen aus den bewährten Unions- oder Zentrumsnetzwerken, waren in der Partei groß geworden. Doch das war Weizsäcker eher fremd.
Zur CDU führte ihn vielmehr der sozialpolitische Arbeitskreis des Bundesverbandes der Industrie in Köln. Die ersten anderthalb Jahrzehnte seiner Mitgliedschaft nahm er an keiner Parteiversammlung teil. 20 Jahre lang war er dafür in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft tätig. Richard von Weizsäcker wies einmal darauf hin, dass seine »Neigung zur Politik«2 nicht von der Wirtschaft und auch nicht von der Parteiarbeit herkam. Vielmehr hat ihn die Evangelische Kirche darauf gebracht.
Warum ist ein solcher Weg heute so selten: Liegt es an der mangelnden Bereitschaft aufseiten der Wirtschaft? Oder liegt es an der mangelnden Akzeptanz in der Politik?
Zu einem zweiten Aspekt: Richard von Weizsäcker baute Brücken zwischen Kirche und Politik. Bereits neben seinen Tätigkeiten in der Wirtschaft arbeitete Weizsäcker aktiv in der Leitung des Evangelischen Kirchentags mit. Zunächst plagten ihn große Zweifel, ob er das Amt des Kirchentagspräsidenten überhaupt annehmen sollte, worum Reinold von Thadden-Trieglaff ihn gebeten hatte. Später aber bezeichnete er seine Entscheidung als eine »entscheidende Wende« in seinem Leben: »Mich für den Kirchentag zu engagieren, packte mich mehr, als immer tiefer in die private Wirtschaft einzutauchen. Ich war vierundvierzig Jahre alt, und wenn es einen wirklich richtungsweisenden Entschluss zu fassen gab, dann war dafür jetzt die Zeit gekommen.«3
Kirche und Welt einander näherzubringen, sie nicht als Gegensätze zu perpetuieren, das war für Richard von Weizsäcker eine Lebensaufgabe. Auch hier wünschte ich mir heutzutage mehr gute Beispiele.
2 Ebd.
3 Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 164 f.
Beim Kirchentag war ihm besonders wichtig, die Beziehungen zu den Kirchentagsbewegungen in der DDR nie abbrechen zu lassen. Politisches und christliches Engagement prägten Weizsäcker sicherlich auf ganz unterschiedliche Weise. Sein Glaube blieb dabei jedoch stets wie er selbst: klar, eindeutig und frei von aufgetragener Frömmigkeit.
Umso leidenschaftlicher machte er sich daran, Brücken zu bauen – gerade zur Politik und auch zu seiner Partei, der CDU. Die katholische Kirche war schon längst mit dem rheinischen Machtzentrum der CDU verbunden. Richard von Weizsäcker vermochte es, ebenso wie Kai-Uwe von Hassel, die CDU auch mit der Evangelischen Kirche zu versöhnen. Als Kirchentagspräsident verteidigte er die Politik gegenüber seinen kritischen Glaubensbrüdern und -schwestern. Als Politiker war ihm später umgekehrt daran gelegen, die Politik immer wieder für die – mitunter auch unbequemen – Anliegen der Kirchen zu sensibilisieren.
Mein dritter Punkt: Richard von Weizsäcker beeinflusste mit seiner Ost- und Deutschlandpolitik die Union früher und nachhaltiger als alle seine Gegner, die meistens in der Mehrheit waren. An der berühmten EKD-Ostdenkschrift hat Weizsäcker als Co-Autor 1965 selbst mitgeschrieben. Darin war jene Deutschland- und Ostpolitik formuliert, die vier Jahre später von Willy Brandt und Walter Scheel verwirklicht werden sollte: Wandel durch Annäherung.
Dass Weizsäcker mit seiner Position auch auf heftigen Widerstand in der Unionsfraktion traf, nahm er aus Überzeugung in Kauf. Als er in einer Fraktionssitzung 1972 ankündigte, für den Polen-Vertrag zu stimmen, trafen ihn derbe Beschimpfungen und »ziemlich harte« Papierkugeln. Schließlich enthielt er sich, um die Geschlossenheit der Fraktion zu wahren. Die Zweifel, die er bei der Enthaltung spürte, nagten noch lange Zeit an ihm.
Weizsäcker legte sein Amt als Regierender Bürgermeister repräsentativ-außenpolitisch aus. Ihm war bewusst, dass Berlin so etwas wie ein »Resonanzboden« für das Mächteverhältnis zwischen West und Ost darstellte. Und er erzielte Resonanz, und was für eine! Er empfing Ronald Reagan im Jahr 1982. Und im Jahr darauf besuchte er als erster Regierender Bürgermeister Erich Honecker in Ost-Berlin. Als Bundespräsident setzte er das beim Staatsbesuch in Moskau 1987 fort. Immer wieder wies er darauf hin, dass »[d]ie deutsche Frage […] so lange offen [ist], als das Brandenburger Tor zu ist.«4
Viertens möchte ich einen Blick auf die Parteipolitik in Berlin werfen. Richard von Weizsäcker hat – mit anderen –, so meine These, die West-Berliner CDU zu einer modernen Großstadtpartei gemacht. Helmut Kohl trug ihm die Aufgabe an, die entkräftete Berliner CDU 1979 in den Wahlkampf zu führen. Politisch war der Wechsel in die geteilte Stadt natürlich auch mit Risiken verbunden. Die lange Zeit in der Opposition hatte ihr zugesetzt. Eine gewisse Skepsis schlug Weizsäcker seitens einiger Berliner Christdemokraten entgegen. Der Ostpolitik von Willy Brandt misstrauten sie. Weizsäcker war ihnen zu liberal. Manche aus der CDU drohten, sich abzuspalten und eine neue Partei zu gründen.
Die Neuwahlen in Berlin 1981 sorgten für eine Wiederaufnahme des Wahlkampfes, den Weizsäcker als eine »Befreiung von der Theorie«5 empfand. Für die Berliner CDU kann man hinzufügen: Der Erfolg sorgte auch für eine Befreiung von alten Verkrustungen. Der etablierten Berliner CDU hat Weizsäcker dann schon mit der Senatsbesetzung allerhand zugemutet. Eberhard Diepgen wird sich erinnern, wie schwierig es war, Weizsäckers bunte Truppe zusammenzuhalten: die eine Hälfte aus Westdeutschland »importiert«, und in der anderen aus der Berliner CDU kamen auch nicht nur bekannte Persönlichkeiten zum Zuge.
Eine Zumutung war es anfangs auch, dass Weizsäcker die Ansprüche einer vielfältigeren Gesellschaft in Berlin wahrgenommen hat. Sicherlich war er kein Kulturrevolutionär, der die Berliner CDU grundsätzlich infrage stellte. Aber er war vielen zu weich mit Blick auf die Hausbesetzerszene. Und auch hier schauen wir auf heute: Ohne Großstadtpartei, Metropolenpartei sein zu wollen, wird die CDU in Berlin sich schwertun.
Mein fünfter Punkt: Richard von Weizsäcker gelang es, eine Verbindung von moralischen Werten einerseits und nüchterner, harter Sicherheitspolitik andererseits herzustellen. An Weizsäckers Erinnerungen an den Kirchentag in Wittenberg im Jahr 1983 wird das besonders deutlich. Er beschreibt die »überwältigende Atmosphäre der Wärme und Zusammengehörigkeit der Menschen aus der DDR mit den Gästen aus dem Westen.«6 Und ja: Nie wieder Krieg von deutschem Boden aus – das war bei den Kirchentagsteilnehmern natürlich unstrittig. Friedrich Schorlemmer schmiedete sogar ein Schwert zu einer Pflugschar. Richard von Weizsäcker erinnerte aber auch daran, dass er unbequeme Wahrheiten aussprechen musste. Er hielt den NATO-Doppelbeschluss angesichts der sowjetischen Mittelstreckenraketen für unausweichlich, gerade weil »Frieden nicht Unterwerfung bedeuten durfte.«7
Von scheinbar gegensätzlichen Zielen war auch die Deutschlandpolitik jener Zeit gekennzeichnet: eine Balance zwischen »Sicherheit und Entspannung, zwi-
5 Ders.: Vier Zeiten, S. 261.
6 Ebd., S. 272.
7 Ebd schen Konfrontation in den Prinzipien und Kooperation in der Praxis, zwischen konkreten Schritten zugunsten der Deutschen in der DDR, die ohne Mitwirkung ihrer Machthaber nicht zu haben waren, und dem späteren Ziel der Einheit, auch wenn niemand wußte, wann und wie und ob es überhaupt erreichbar sein würde.«8
Richard von Weizsäcker auf dem 21. Evangelischen Kirchentag, 31. Mai 1983.
Richard von Weizsäckers kluge Beiträge zur Ambivalenz zwischen Moral und Politik, zwischen Werten und Interessen in der Außen- und Sicherheitspolitik, auch davon würde ich mir mehr in unseren – sehr deutschen – Debatten wünschen.
Seine Expertise in der Außen- und Sicherheitspolitik konnte er im Bergedorfer Gesprächskreis einbringen. Daran nahmen und nehmen hochrangige Politiker und Experten aus aller Welt teil – und diskutieren in vertraulicher Runde die Grundfragen der deutschen und europäischen Politik. Bereits 1973 nahm er zum ersten Mal an einem Bergedorfer Gesprächskreis teil, 1994 wurde er dessen Vorsitzender. Weizsäcker lobte den Bergedorfer Gesprächskreis als »ein Trainingslager für alle, die bereit sind, die Grenzen der eigenen Disziplin, der jeweiligen Parteien und Interessen zu überschreiten, um in der Konfrontation mit der Vielfalt von Erfahrungen und Perspektiven anderer zu lernen.«9
8 Ebd., S. 268.
9 Zit. nach: »Reden ist Handeln«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 9. März 2010.
Dass er sich an solchen Gesprächen beteiligte, lässt mich – sechstens – feststellen, dass Richard von Weizsäcker ein erfolgreicher Intellektueller in der Politik war. Auch wenn sich viele vielleicht gern so gesehen hätten, traf es nur auf wenige zu: Carlo Schmid, Peter Glotz und Kurt Biedenkopf könnte man hier nennen. Richard von Weizsäcker verfügte über die Gabe, aus dem Kleinen das Große entwickeln zu können. Und umgekehrt: Aus dem großen Weltgeschehen konnte er meisterhaft und scheinbar mühelos Konsequenzen und Bedeutungen für den Einzelnen ableiten.
Er konnte die Dinge auch deswegen so meisterhaft ins Verhältnis setzen, weil er ein umfassend und breit gebildeter Mensch war. Ich betone das, weil diese Art von umfassender Bildung – im besten Sinne humanistische Bildung – heute nicht mehr allzu oft anzutreffen ist. Er selbst hat einmal gesagt: »Humanistische Bildung ist nicht dazu da, unsere Probleme zu lösen, sondern sie sichtbar und verständlich zu machen.«10
Was mich neben seiner umfassenden Bildung stets beeindruckte, war Weizsäckers meisterhafter Umgang mit Sprache. Auch das zeichnete ihn als Intellektuellen aus. Sprache war für ihn kein Mittel zum Zweck. Im Gegenteil: Seine Sprache war für ihn Ausdruck seiner Haltung. Auch sie musste vor allem eines sein: verständlich, klar und eindeutig. Es bleibt unvergessen, wie er sich als Bundespräsident darüber erregen konnte, dass alle immer nur von »Versöhnung« mit dem polnischen Volk sprachen. Das sei ein falsches, ein anmaßendes Wort. Mehr als »Verständigung« dürften wir Deutschen nicht erwarten.
Seine immer wieder gelobte Wortgewalt entsprang auch seiner Fähigkeit, zuhören zu können. Weizsäcker trat seinen Gesprächspartnern mit einer ihm eigenen Mischung aus Offenheit und Empathie – mit ungeteilter Aufmerksamkeit – gegenüber.
Als Bundespräsident wagte Richard von Weizsäcker einen intellektuellen Durchbruch mit politischer Wirkung im Umgang mit der Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus. In seiner Rede zum 40. Jahrestag nach Kriegsende kulminierten seine historische Bildung, sein politischer Verstand, sein Gefühl für Sprache und seine Fähigkeit zur Empathie sowie sein scharfsinniger Intellekt. Er sprach vieles aus, was viel zu lange ungesagt geblieben war. Originalton von Weizsäcker: »Wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und Einseitigkeit.«11
10 Richard von Weizsäcker: Dankrede bei der Preisverleihung des Humanismuspreises am 17. April 1998, in: Forum Classicum 1998, H. 2, S. 68–71, das Zitat S. 68.
11 Ders.: Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa am 8. Mai 1985, online unter: https://www.bundespraesident.de/
Richard von Weizsäcker als Beispiel eines erfolgreichen Wechsels von der Wirtschaft in die Politik;
– die Versöhnung seiner Partei – ja, der Politik – mit der der Evangelischen Kirche; seine vorausweisende Ost- und Deutschlandpolitik in Wort und Tat;
– die Modernisierung der West-Berliner CDU;
– seine Verbindung von Werten und Interessen, von Freiheit und Sicherheit, von Wünschbarem und Notwendigem;
– ein Intellektueller in der Politik, und doch so nah an den Menschen.
Mit diesen sechs Facetten aus Richard von Weizsäckers beruflicher wie politischer Laufbahn habe ich hier versucht, seine bleibenden Spuren aufzuzeigen.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf Weizsäckers Selbstdisziplin hinweisen.
Noch im hohen Alter, mit über 80 Jahren, legte er das Sportabzeichen in seinem Lieblingssport, dem Schwimmen, ab. Ganz ähnlichen Ehrgeiz entwickelte er beim
SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html (Zugriff am 27. Oktober 2021).
Richard von Weizsäcker und sein Beitrag zur deutschen Politik
Schachspiel. Seine Disziplin durchzog sein ganzes Leben. Helmut Schmidt nannte ihn einmal »einen preußischen Schwaben oder einen schwäbischen Preußen«.12 Sicherlich lässt sich auch ohne den Bezug auf Regionalklischees sagen, dass Richard von Weizsäcker geleitet war von unbedingter Pflichterfüllung – als Politiker, als Versöhner, als Protestant.
Auch wenn die Herrschaft über die Geschichte nicht in unserer Hand liegt, steht doch »jede Generation zu ihrer eigenen Zeit vor neuen Herausforderungen der Freiheit.«13 Aus der Ausübung von Freiheit entsteht Geschichte für die nächste Generation. Das hat Richard von Weizsäcker gelebt und erläutert. Mögen es ihm viele in unserer Zeit gleichtun.
12 Helmut Schmidt: Laudatio, in: Richard von Weizsäcker. Reden bei der Festveranstaltung aus Anlaß der Ernennung von Dr. Richard von Weizsäcker zum Ehrenbürger der Universität Stuttgart, 18. Dezember 1995. Hrsg. von Heide Ziegler (= Reden und Aufsätze, Bd. 52), Stuttgart 1996, S. 15–22, hier S. 15 f.
13 Weizsäcker: Vier Zeiten, S. 469.