3 minute read

Richard von Weizsäckers protestantische Prägungen

Ende März 2020 fiel nicht nur das wissenschaftliche Symposium zum 100. Geburtstag Richard von Weizsäckers der Covid-19-Pandemie zum Opfer. Wie alle kulturellen Einrichtungen musste in Berlin auch das Deutsche Historische Museum schließen und konnte seine große Ausstellung zu Wilhelm und Alexander von Humboldt nicht mehr zeigen. Dort hatten die Besucher im Ausstellungsteil über die jugendliche Bildung der aufstrebenden Brüder und die Offenheit der Berliner Salonmilieus lesen können, der Bildungsweg der Humboldts sei »ohne protestantische Moral« erfolgt, stattdessen sei er beherrscht gewesen von Geschichte und Geografie. Es gehört zum festen Repertoire der deutschen Kulturgeschichte, individuelle Bildungsgänge und soziale Bildungsmilieus immer auch auf ihre religiösen Imprägnierungen hin zu befragen. Wie es sich bei Richard von Weizsäcker verhielt, ist Gegenstand dieses Beitrags: Inwieweit können wir bei Richard von Weizsäcker von einer intellektuellen Prägung mit protestantischer Moral sprechen? Welche protestantische Ethik war es, die seine politische vita activa beeinflusst hat? Und wie beherrscht waren Denkstil und Lebensweg von »Geschichte«?

Religiöse Prägungen müssen auf jeden Fall stark und erkennbar gewesen sein, denn Bundeskanzler Helmut Schmidt konnte sich halb anerkennend mokieren über »das fromme Gerede des Freiherrn«1. Wissenschaftlich beglaubigt wird diese Taxierung durch den Soziologen Ralf Dahrendorf, der das geflügelte Wort von der »protestantischen Mafia« kreiert und ihr auch Weizsäcker zugerechnet hat. Gemünzt hat Dahrendorf den Topos auf eine Reformgruppe der frühen 1960er Jahre, primär auf Carl Friedrich und Richard von Weizsäcker, Ludwig Raiser, Klaus von

Advertisement

Bismarck, Werner Heisenberg, Georg Picht, Hellmut Becker und Hartmut von Hentig. Den Kern bilden die Autoren des Tübinger »Memorandums der Acht« zu einer neuen Deutschland- und Ostpolitik von 1962. Es sind Köpfe, die Marion Gräfin Dönhoff seit diesem Memorandum als »Lobbyisten der Vernunft« in den liberalen Reformkurs ihrer Wochenzeitung Die Zeit einspannte. Unter der Fragestellung »Braucht Politik Intellektuelle?« zitierte Dahrendorf später noch einmal explizit die Zeit-Herausgeberin Dönhoff, um die »zugleich intellektuelle und politische Rolle« der genannten Vernunft-Lobbyisten zu beschreiben. Den Bedarf an Intellektuellen in der Politik machte Dahrendorf nicht nur an Theodor Heuss fest, sondern explizit auch an Richard von Weizsäcker.2 Dem Freiherrn selbst gefiel Dahrendorfs Bild von der »protestantischen Mafia«. Er nahm es in seine Memoiren auf, wandelte es aber leicht zur »evangelischen Mafia« ab3 und identifizierte die Gruppe zusammen mit Marion Dönhoff politisch als »mein Nest, aus dem ich geschlüpft bin«4.

Im Folgenden soll die »intellektuelle und politische Rolle« des protestantischen Mafioso unter fünf Aspekten erörtert werden. Auszugehen ist von den Prägungen im familiären Milieu; zu klären ist, welches intellektuelle Milieu sich hinter der »protestantischen Mafia« in Netzwerken, Medienpräsenz und politischer Gestaltungskraft verbirgt; jeweils für sich zu betrachten sind Weizsäckers Stationen als Kirchenpolitiker in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und als Berufspolitiker, für den weniger die Parteiräson als eine intellektuelle Politik des Wortes maßgeblich war; in der Summe stellt sich die Frage, inwieweit Weizsäckers permanente Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte und die Geschichtsbilder seiner politischen Reden eine religiöse Färbung erkennen lassen.

Die Familie und der Protestantismus

In Reden, Interviews und natürlich in seinen Erinnerungen ist Richard von Weizsäcker immer wieder auf die Prägekräfte seiner Herkunft zu sprechen gekommen. An erster Stelle nannte er regelmäßig seine Familie, Eltern und Geschwister, die geistig rege und politisch sensible Atmosphäre seiner Schulzeit und anschließend die elitär abgeschottete Kameradschaft des Potsdamer Infanterie-Regiments 9, in dem aus den zwei Dienstjahren sechs Kriegsjahre mit wachsender Verantwortung für den bei Kriegsende 25-jährigen Wehrmachtsoffizier wurden. In Konfrontation mit den barbarischen Kriegserfahrungen habe ihn der Freundeskreis der »IR 9er« zum »Kern der menschlichen Existenz« geführt.5

2 Ralf Dahrendorf: Umbrüche und normale Zeiten: Braucht Politik Intellektuelle?, in: Gangolf Hübinger/Thomas Hertfelder (Hrsg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 269–282, hier S. 279. – Zum Topos »protestantische Mafia« ausführlicher Ralf Dahrendorf: Liberal und unabhängig. Gerd Bucerius und seine Zeit, München 2000, S. 162 f.

3 Vgl. Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 180.

4 Zit. nach Hofmann: Weizsäcker, S. 180.

Protestantische Einflüsse sind kaum notiert, einer besonderen innerprotestantischen Bekenntnisrichtung fühlte er sich nicht zugehörig. Auf dem Kölner Kirchentag von 1965, auf dem Weizsäcker als Kirchentagspräsident die Schlussansprache zum Thema »In der Freiheit bestehen« hielt, ging er darauf ein: »Viele von uns – mich eingeschlossen – sind herangewachsen, ohne zu merken, ob sie Lutheraner, Reformierte oder Unierte sind.«6 Sich in den innerprotestantischen Strömungen und Kulturgegensätzen nicht zu einer kirchlich bindenden Glaubensrichtung zu bekennen, macht nun seit Friedrich Schleiermacher eine spezifische und attraktive Auffassung von Protestantismus aus. Seit Ende des 19. Jahrhunderts sprach diese kulturliberal orientierte Richtung von »freiem Protestantismus« oder

5 Interview mit Harald von Troschke nach seinem 50. Geburtstag im Norddeutschen Rundfunk, in: Harald von Troschke Archiv, online unter: https://troschke-archiv.de/interviews/richard-von-weizsaecker (Zugriff am 9. September 2021).

6 Richard von Weizsäcker: In der Freiheit bestehen (1. August 1965), in: ders.: Die deutsche Geschichte geht weiter, Berlin (West) 1983, S. 43–50, hier S. 45; vgl. auch Hofmann: Weizsäcker, S. 121.

This article is from: