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Sebastian Märkl, Thomas Haim

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Sebastian Märkl, Thomas Haim

Wie Sie Systems Engineering für Ihr Unternehmen praxistauglich und zukunftsorientiert einführen

Systems Engineering liegt voll im Trend

Erfolg und Zukunftsfähigkeit von Industrieunternehmen werden neben der richtigen Wahl von Strategie und Geschäftsmodell durch zwei weitere Faktoren bestimmt: Die Fähigkeit Innovationen „auf die Straße“ zu bringen und die mit der Lösung verbundene Komplexität zu beherrschen.

Neue und digitale Geschäftsmodelle, hochvernetzte Systemverbunde (z.B. im Internet of Things), mechatronische und software-intensive Produkte, anspruchsvolle Zulassungsund Zertifizierungsanforderungen (Automotive SPICE, ISO26262, etc.) stellen für etablierte sowie neue Unternehmen sehr hohe Herausforderungen dar. Mit den bisherigen, oft heldenbasierten Vorgehensweisen ist die Komplexität nicht mehr zu beherrschen.

In unseren Beratungsprojekten adressieren wir gemeinsam mit unseren Klienten unterschiedliche Herausforderungen: „ Den besten Kundenwert generieren – Wie richten wir Entwicklung und die Wertschöpfungskette konsequent am Kunden aus?

„ Customization und Varianz optimieren – Wie erzeugen wir kundenindividuelle Lösungen und bedienen ggf. Marktnischen mit beherrschbaren Kosten und Aufwand? „ Komplexe Lösungen beherrschen – Wie gestalten wir (hoch)vernetzte, interdisziplinäre und arbeitsteilige Systeme, Systemverbunde und Geschäftsmodelle mit tragbarem Risiko? Als Komponenten-Zulieferer: Wie gestalten wir die Komponente, damit sie am besten den komplexen Kontext bedient? „ Speed und gleichzeitig Qualität – Wie sind wir schnell, flexibel und wettbewerbsfähig am Markt und halten gleichzeitig unsere Premium-Positionierung? „ Zertifizierungsfähigkeit und Nachweisführung – Wie stellen wir die zulassungsrelevante Durchgängigkeit, Nachweisführung und Dokumentation sicher, ohne die Organisation zu lähmen? „ Effizienz und Automatisierung – Wie nutzen wir Model Based Systems Engineering und digitale Automatisierungsmöglichkeiten, um den Produktlebenszyklus ohne Redundanz und manuelle Brüche effizient zu managen?

Aktuell ist bei großen wie mittelständischen Unternehmen ein klarer Trend in Richtung Systems Engineering (SE) zu beobachten. Unternehmen unterschiedlichster Branchen wie Automobil-, Nutzfahrzeug-, Landtechnik-, Medizintechnik-, Schiffbau-Industrie setzen Programme zur Verankerung von Systems Engineering auf, um die neue Komplexität und Marktdynamik in den Griff zu bekommen und überhaupt handlungsfähig zu bleiben.

Passt der „klassische“ Systems Engineering Ansatz für heutige Industrieunternehmen?

Das ursprünglich in der Raumfahrt v.a. durch das Apolloprogramm in den 1960er Jahren entstandene SE beinhaltet bereits hilfreiche Ansätze, große und neue Vorhaben systematisch zu strukturieren (z.B. Funktionale Analyse, Architektur) und in interdisziplinären Teams anforderungs- und standard-konform zu realisieren.

Für die neuen Herausforderungen sind die „klassischen“ SE-Prozesse aber nicht mehr hinreichend nutzbar. Es bedarf einer Auffrischung und pragmatischen Auslegung für heutige Industrieunternehmen. Systems Engineering braucht neben den klassischen SE-Prozessen moderne Komponenten, wie z.B. agile und modellbasierte Methoden, UX (User Experience) sowie Ansätze der Modularisierung, um schnell und flexibel genug am Markt zu sein sowie besten Kundenwert und individuelle Lösungen wirtschaftlich liefern zu können.

Modernes SE… … ist voll am Kundenwert ausgerichtet … ist interdisziplinär (Cross-Department, Cross- Business Unit, CrossCompany) … ermöglicht modulare und skalierbare Systeme/Architekturen … ist schlank, schnell und flexibel … arbeitet iterativ und inkrementell … ist durchgängig und holistisch … ist modellbasiert und automatisiert … ist standard-konform

Erfolgreiches Systems Engineering braucht mehr als nur Prozesse

SE-Prozesse, wie sie in der ISO15288 beschrieben sind, sind ein wesentlicher Bestandteil des SE Ansatzes. Für eine wirkungsvolle Verankerung braucht es jedoch mehrere Dimensionen, die gleichermaßen zusammenspielen müssen.

Das 3DSE Systems-Engineering Referenzmodell ist die Ausgangsbasis für die erfolgreiche Einführung oder Optimierung von Systems Engineering in einem Unternehmen. Anhand von 8+1 Dimensionen analysieren und erarbeiten wir kundenspezifische Lösungen für einen passenden Gesamt-Ansatz:

1. Zielsystem, Führungsmodell und Anreizsysteme #Kundenwert #Stimmigkeit

Um Produkte stimmig zu entwickeln, benötigt es ein von Kunde, Geschäftsmodell und Unternehmensstrategie abgeleitetes Top-Down Zielsystem und zentral gesteuertes Zielemanagement. Basis für die Kundensicht ist zum Beispiel ein Produkteigenschaftsprofil, welches die Produkteigenschaften und Funktionen beschreibt, sowie die Marktpositionierung festlegt. Dieses dient über den gesamten Entwicklungszyklus als zentrale Orientierung für (System-) Entscheidungen.

Für das Treffen von stimmigen Systementscheidungen sollten alle relevanten Perspektiven (z.B. Kunden- und Nutzersicht, Architekt, Domänen und Disziplinen, Produktion, Aftersales) in Entscheidungsgremien vertreten sein. Ein häufig vernachlässigter, aber entscheidender Aspekt sind Anreiz- und Bonifikationssysteme – Wird das Handeln zugunsten einer Gesamtheit durch Anreize für lokale Optimierung (z.B. in einzelnen Fachbereichen) verhindert, entstehen bestenfalls in sich stimmige Teilsysteme/Komponenten, aber kaum ein kundenwertes beziehungsweise optimiertes Gesamtsystem.

2. Entwicklungsorganisation und SE-Rollen mit X-funktionaler Ausrichtung #Interdisziplinarität

Für das erfolgreiche Etablieren von Systems Engineering im Unternehmen braucht es eine interdisziplinäre Organisation ohne Abteilungsbarrieren. Systemarchitekten, Funktions- & Eigenschaftsverantwortliche bilden die Klammer über das System, moderieren die unterschiedlichen Disziplinen und haben das Mandat, Entscheidungen auf Systemebene herbeizuführen. Sie stellen sicher, dass eine gesamtoptimierte, kundenwerte Lösung entsteht, welche alle Stakeholder-Interessen und zutreffenden Randbedingungen bestmöglich abwägt. Für eine optimale Zusammenarbeit bildet die Gebäudeinfrastruktur idealerweise die Systemlogik ab und bietet mit interdisziplinären Projektflächen kurze Wege. Systems Engineering wird mit einer zentralen, organisatorisch verankerten „SEHeimat“, die mit „SE-Satelliten“ in den Projekten und Domänen vernetzt ist, institutionalisiert.

3. Produktarchitektur #Komplexität #Customization #Varianz

Eine generische und standardisierte Produktstruktur, die zwischen Systemebenen und -Sichten (z.B. funktional, logisch, technisch, Wert/Kosten) unterscheidet, bildet den Rahmen oder „Backbone“ für ein System und dessen Entwicklung.

Eine modulare und skalierbare Architektur wird ausgehend vom ZielProduktportfolio abgeleitet und zum Beispiel mittels einer Plattform-/Baukasten- und Variantenstrategie definiert. Dabei ist die Abwägung zwischen kundenindividuellen Lösungen und technischer Varianz (Wiederverwendung, Standardisierung) maßgeblich für Produktdifferenzierung vs. Kosten. Beispielsweise wird die Wirkung einer Plattform erst mit einem konsequenten und organisatorisch verankertem Plattform-Management erzielt.

Komplementär zur Architekturdefinition stellt Produkt-Reifegradmanagement sicher, dass das System stimmig zur definierten Architektur ist und ausgerichtet an Systemfunktionen und -eigenschaften integriert und abgesichert wird.

4. Systemdenken und Changemanagement #Mindset

Das Denken in Systemen und Handeln zugunsten einer Gesamtheit ist oftmals eine große Umstellung für Mitarbeiter wie Management. Ein klares, vom Top-Management getragenes und kommuniziertes Ziel zur SE-Ausrichtung ist die Grundlage für den Kulturwandel. Es gilt ein gemeinsames und durchgängiges Bild zu schaffen, was das „System“ und Systems Engineering für das Unternehmen bedeutet. Pilotprojekte, welche mit Pilotteams schnelle und spürbare Erfolge hervorbringen, wirken als Verstärker für den notwendigen Wandel der Arbeitsweisen. Langfristig angelegtes und professionelles Veränderungsmanagement (z.B. Kommunikationsoffensiven, Qualifizierungsmaßnahmen, Coaching, Assessments) ist notwendig für die nachhaltige Verankerung von SE.

5. Systemkompetenz, Karrierepfad und Qualifizierung #Systemarchitekt #Hochkaräter

Die Systemgestaltung braucht Hochkaräter. Beispielsweise ist der Anspruch an einen typischen System-/ Produktarchitekten, die Systemzusammenhänge zu überblicken, Entscheidungen begründet zu treffen und inhaltlich die Systementwicklung zu führen. SE muss also als Rolle und Karriere attraktiv sein, um diese Hochkaräter anzusprechen. Ein Stellhebel hierbei ist ein langfristig angelegter Karrierepfad, der mehrere Rotationen über unterschiedliche Disziplinen (im Engineering bzw. über die Wertschöpfungskette) und den Aufbau von Führungserfahrung sicherstellt. Basis-Schulungen sollten durch langfristig ausgelegte Qualifizierungsmaßnahmen und gezieltes Coaching entlang der Karrierestationen komplettiert werden.

6. Entwicklungslogik und SEProzesse #Speed #Qualität #Zertifizierung #Nachweisführung

Die Basis von Systems Engineering bilden auch weiterhin das „V-Modell“ und die SE-Prozesse nach ISO15288, insbesondere für Zertifizierung und Nachweisführung. Entscheidend ist jedoch den Grad der Prozessdetaillierung und die geeigneten Methoden zur Prozessanwendung unternehmensspezifisch auszuwählen, um die Organisation nicht unnötig zu lähmen und branchenspezifische Prozessanforderungen (z.B. Automotive SPICE) zu erfüllen. Grundsätzlich empfehlen wir, dass eine Systementwicklung immer architekturgeführt stattfinden und eine über Projekte durchgängig gelebte Entwicklungslogik über den Lebenszyklus erkennbar sein sollte. Agile Ansätze bieten deutliche Potenziale, um Schnelligkeit und Flexibilität der Entwicklung zu erhöhen, müssen aber stimmig und skalierbar zu Umfeld und Systemarchitektur eingeführt werden.

7. Methoden zur Systementwicklung #Anwendung

Um die über Projekte etablierte SEEntwicklungslogik zu unterstützen, brauchen Mitarbeiter konkrete Methoden, um SE anwenden zu können. Dabei ist es günstig, ein Set an geeigneten Methoden für die unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben zur Verfügung zu stellen. Beispielsweise, um Anforderungen zu kategorisieren, hierarchisieren und priorisieren, die wesentlichen Funktionen herauszukristallisieren, Architekturen zu modellieren, zu kommunizieren und abzustimmen, technische Reviews durchzuführen, eine Integrationsstrategie zu entwickeln, Verifikationsund Validierungsmaßnahmen zu planen und Anforderungserfüllung durchgängig nachzuweisen. Modellbasierte Ansätze (MBSE) und durchgängiges Product Lifecycle Management (PLM) bilden einen signifikanten Effizienz-Stellhebel durch Automatisierung von administrativen Tätigkeiten (z.B. Dokumentation, Pflege von Verknüpfungen, Informationsbereitstellung). Grundlage für das Heben der Potenziale sind jedoch eine reife SE-Arbeitsweise mit hinreichend standardisierten Prozessen, Methoden und Rollen. Ist dies gegeben, ist es entscheidend, die digitale Transformation maximal an den Anwendern (Fachbereiche) und deren Bedürfnissen/Use Cases auszurichten. Zu oft kann eine Ablehnung in Unternehmen gegenüber neuen IT Tools beobachtet werden, bei deren Einführung lediglich auf technische Aspekte Wert gelegt wurde.

9. Übergreifende Stimmigkeit der Referenz-Dimensionen

Zusammenfassend gilt, dass die Strukturen und Logik der Dimensionen ineinandergreifen (z.B. spiegelt sich die Systemarchitektur in der Organisation wider) und zueinander stimmig ausgelegt werden müssen. Systems Engineering muss stets auf das spezifische Unternehmen und dessen Bedarf zugeschnitten werden, wobei man sich auf viele erfolgreiche Einführungs- und Anwendungserfahrungen aus unterschiedlichen Branchen abstützen kann.

Wie führe ich Systems Engineering pragmatisch und nachhaltig ein?

Für die Einführung oder Reifeerhöhung von Systems Engineering in einer Organisation empfehlen wir einen Dreisprung – Engage, Shape und Implement.

Zuerst gilt es in der Phase „Engage“ die relevanten Stakeholder zu aktivieren und ins Boot zu holen. Auf Basis unseres Referenzmodells schaffen wir schnell Bewusstsein und Klarheit über die Ist-Situation. Wesentlich für den Erfolg einer Einführung ist zu Beginn gemeinsam mit den Stakeholdern den Mehrwert, den strategischen Fit und den spezifischen Wertbeitrag von Systems Engineering für das Unternehmen zu klären. Dies ermöglicht einerseits Führungskoalitionen im Management zu bilden und andererseits Verständnis für die anstehende Veränderung zu schaffen.

In der Phase „Shape“ wird im Rahmen einer Workshop-Reihe mit einem interdisziplinären Team des Unternehmens die Systems Engineering Einführung gestaltet. Einer der Schlüsselerfolgsfaktoren ist es, den Systems Engineering Ansatz und die stufenweise Einführung (Entry, Target, Vision) abhängig von Ziel, Kontext und Ausgangssituation des jeweiligen Unternehmens in einem emergenten Vorgehen zu definieren. Die Gestaltung durch das interdisziplinäre Team und die kontinuierliche Einbindung der Stakeholder fördert die Akzeptanz für die notwendigen Veränderungen. Klare Vorgaben zur Umsetzung, Schaffung der organisatorischen Voraussetzungen sowie die Auswahl von passenden Pilotprojekten fördern die nachhaltige Implementierung.

Zu Beginn der Phase „Implement“ werden die Schlüsselrollen (z.B. Systemarchitekten, Requirements Engineers) gezielt qualifiziert. Mittels pragmatischen Transfer-Workshops werden für die Pilotprojekte auf deren Bedürfnisse angepasste Elemente des Systems Engineering Ansatzes direkt zur Umsetzung gebracht. Mittels on the job support und Coaching wird die Anwendung intensiv begleitet, der Systems Engineering Ansatz kontinuierlich validiert und adaptiert sowie

Zusammenfassung

Systems Engineering ist ein etablierter und w i rku ngsvoller Ansatz, um komplexe Herausforderungen systematisch zu meistern. Abhängig von individuellen Zielen, Geschäftsmodell, Kontext und Historie eines Unternehmens muss der „klassische“ SEAnsatz angepasst und beispielsweise mit agilen Methoden oder Modularisierungsansätzen ergänzt sowie spezifisch interpretiert werden. SE-Prozesse sind nur eine Facette von Systems Engineering.

Entscheidend für wirkungsvolles Systems Engineering ist aber dieses in allen notwendigen Dimensionen, wie z.B. Systemdenken/Mindset, Zielsystem und Organisation im Unternehmen zu verankern.

Für die Einführung bzw. Reifeerhöhung von Systems Engineering hat sich ein Dreisprung mit Engage zur Aktivierung der Organisation, mit Shape zur Gestaltung des unternehmensspezifischen Systems Engineering Ansatzes sowie der Einführungsstufen und mit Implement zur pragmatischen und nachhaltigen Umsetzung bewährt.

Autoren:

Sebastian Märkl ist Manager und Practice Leader „Systems Engineering“ bei der 3DSE Management Consultants GmbH in München und berät seit 9 Jahren Unternehmen in der Optimierung der F&E. Als Berater und Trainer liegen seine

Sebastian Märkl Manager und Practice Leader „Systems Engineering“ bei der 3DSE Management Consultants GmbH, München

Thomas Haim Gründer und geschäftsführender Partner der 3DSE Management Consultants AT GmbH, Linz

Schwerpunkte in der Einführung von Systems Engineering, Produktarchitektur, Modularisierung und Variantenmanagement, Organisations- und Prozess-Gestaltung, Präventive Qualität sowie Projekt- und ProgrammManagement.

Sein Branchenfokus liegt in den Bereichen Automobil, Nutzfahrzeug, Luft- & Raumfahrt und Medizintechnik.

Thomas Haim ist Gründer und geschäftsführender Partner der 3DSE Management Consultants AT GmbH in Linz und berät seit fast 20 Jahren Unternehmen bei der Steigerung der F&E Leistung.

Als Berater und Trainer liegen seine Schwerpunkte in der Einführung von Systems Engineering, Gestaltung und Umsetzung von F&E Optimierungsprogrammen sowie Coaching und Begleitung von Innovationsprojekten. Sein Branchenfokus liegt in den Bereichen Automobil, Transportation sowie Maschinen- und Anlagenbau.

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