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Siegfried Vössner
from WINGbusiness Heft 01 2020
by WING
Siegfried Vössner
Foto: (c) fineartpictures
Das 1x1 des Systems Engineering
Kaum eine andere Ingenieurdisziplin hat in den letzten Jahren so stark an Bedeutung gewonnen, wie Systems Engineering. Heutzutage ist Systems Engineering die Basis moderner Systemarchitekturen und Entwicklungsprozesse. Gleichzeitig blickt diese Ingenieurdisziplin auf eine lange und erfolgreiche Tradition zurück. Dieser Beitrag soll die Grundprinzipien erläutern und damit einen einfachen Einstieg ermöglichen.
Begriffsbestimmung
Systems Engineering ist ein Disziplinen übergreifender, integrativer Ingenieuransatz, um erfolgreich Systeme zu realisieren, betreiben und auch wieder außer Betrieb zu nehmen. Und zwar unter Zuhilfenahme von systemischen Prinzipien und Konzepten sowie von wissenschaftlichen, technologischen und Management-Methoden. Dabei sind die in einem solchen planmäßigen Vorgehen geschaffenen Systeme so weitgefasst wie möglich zu sehen und können aus Menschen, Produkten, Dienstleistungen, Informationen, Prozessen und natürlichen Umweltelementen bestehen. So definiert es das „International Council on Systems Engineering (INCOSE)“ 1 , eine internationale Vereinigung, die dieses Thema sowohl in Wissenschaft als auch Praxis vertritt.
Es geht hierbei also um ein Fachgebiet, welches auf einer sehr breiten Basis aus verschiedenen Ingenieurund Wirtschaftsingenieurdisziplinen steht. Moderne Studienprogramme im Maschinenbau, wie sie beispielsweise auch an der TU Graz gelehrt werden, vermitteln angehenden Ingenieurinnen und Ingenieuren heutzutage die notwendigen Grundkenntnisse in beiden Bereichen.
Im Kern des Systems Engineering steht nicht die „ingenieurmäßige Umsetzung der Lösung eines Problems“, sondern die systemische Analyse von Anforderungen, Interessen, Nutzen sowie die Lösungsgestaltung, die eben diesen Prinzipien folgt. Diesem philosophischen Überbau sind viele bekannte, altbewährte aber auch hochmoderne Methoden und Verfahren als „Werkzeuge“ quasi hierarchisch untergeordnet und werden in einem vorher definierten Anwendungsbereich gezielt verwendet. Dazu gehören beispielsweise die Anforderungsanalyse, Entwicklungsmethoden, Arbeitsprozesse, Risikomanagement, Projektmanagement, sowie eine Reihe rein technischer Disziplinen wie Maschinenbau, Bauingenieurwesen, Elektrotechnik – um nur einige zu nennen.
Geschichtliche Entwicklung
Der Name „Systems Engineering“ wurde das erste Mal in der 1940er Jahren in den Bell-Labs in den USA für die gesamtheitlichen Gestaltungsmethoden komplexer Systeme (in erster Linie für militärische Systeme) verwendet 2 .
Die stark steigenden Anforderungen an die Technik und die daraus resultierende Komplexität der zugehörigen Lösungen machten es bald unmöglich, die bisher so bewährten linearen, evolutionären Vorgehensmodelle weiter beizubehalten. Neue Verfahren, welche die bald unbeherrschbare Komplexität meistern konnten, wurden und werden aus dieser Notwendigkeit heraus entwickelt. Das Faszinierende an Systems Engineering ist, dass dieses „sich ständige Weiterentwickeln“ ein intrinsisches Grundprinzip ist. Glaubte man in den 1990er Jahren noch fest an FMEA als „DIE Wunderwaffe“ zur analytischen und systematischen Erfassung und
Analyse möglicher Fehler und Risiken eines komplexen Systems, so gilt diese Methode im Systems Engineering nur mehr als „notwendige, jedoch keinesfalls ausreichende Basistechnik aus dem letzten Jahrtausend“ 3 – im Vergleich zur „System Theoretic Process Analysis“ (STPA) – ohne hier auf die Details eingehen zu wollen.
Ein weiteres Ergebnis dieser Agilität ist, dass nunmehr neben einer damals aus der Softwareentwicklung entlehnten „Unified Markup Language“ (UML), auch weit mächtigere Werkzeuge zur modellhaften Beschreibung dieser komplexer werdenden Systeme zur Verfügung stehen – beispielsweise die Systems Modeling Language (SysML). Seit 1995 gibt es auch eine internationale Gesellschaft für Systems Engineering (International Council on Systems Engineering (INCOSE)) und seit 1997 mit der „Gesellschaft für Systems Engineering e. V. (GfSE)“ einen deutschen Ableger. Die Europäische Schule des Systems Engineering In Europa entstand in den 1970er Jahren mit dem Systems Engineering Konzept des BWI der ETH Zürich eine eigene Richtung des europäischen Systems Engineering, welches zwar auf den Grundlagen von Arthur David Hall aus den 1960er Jahren aufbaut 4 , jedoch weniger die Systemtechnik als einen konzeptionellen 3 Leveson, N.G. Engineering a Safer World, MIT Press, 2012. 4 Arthur D. Hall (1962). A Methodology for Systems Engineering. Van Nostrand Reinhold Überbau im Fokus hat. Schon bald nach seiner erstmaligen Veröffentlichung im Jahr 1972 etablierte es sich als Standardmethodik zur systematischen Bearbeitung von komplexen Projekten in Industrie, Dienstleistung und Verwaltung, wie beispielsweise in der Produktentwicklung, der Prozess-, Organisations-, Anlagen-, und Informationstechnologieplanung.
Der Erfolg dieser Variante des Systems Engineering Konzepts basiert auf wenigen, praktisch anwendbaren Grundprinzipien sowie einfachen, nachvollziehbaren und anpassbaren Ansätzen, die nicht nur hochqualifizierten Spezialisten verständlich sein sollen, sondern möglichst vielen Anwenderinnen und Anwendern, die in unterschiedlichen Projekten und Disziplinen tätig sind. Die Kompaktheit und klare Struktur der Methodik überzeugten und überzeugen zahlreiche Bildungsinstitute, Universitäten und Unternehmen, dieses Konzept zu übernehmen 5 . Grundkonzept Das Prinzip einer einfachen, kompakten und klaren Grundstruktur findet sich auch im Systems Engineering Grundkonzept wieder, in welches sich die einzelnen Bereiche einordnen lassen (siehe Abbildung 1). 5 Teilweise übernommen aus dem Vorwort von: Haberfellner, de Weck, Fricke, Vössner (2018): Systems Engineering. 14. Auflage, Zürich: Orell Füssli Verlag AG Die Systemphilosophie ist der gedankliche Überbau des Systems Engineering. Dazu gehört einerseits das „Systemdenken“, um Situationen und Sachverhalte zu strukturieren, in ihren Zusammenhängen darzustellen und damit besser verstehen, abgrenzen und gestalten zu können (siehe dazu auch Abbildung 2) und andererseits das „Vorgehensmodell“, welches aus verschiedenen Grundprinzipien und Komponenten besteht, die helfen sollen, die Entwicklung und Realisierung einer Lösung in überblickbare Teilschritte zu untergliedern. Außerdem kann das Vorgehensmodell bausteinartig aus seinen Komponenten (Modulen) zusammengesetzt und damit der Größe und Komplexität eines Projekts angepasst werden 7 .
Diese Module lassen sich auch iterativ oder zyklisch kombinieren. Dadurch sind sowohl Phasenmodelle als auch agile Vorgehensmodelle oder Zwischenformen wie das in der Automobilindustrie so beliebte V-Modell realisierbar. 8
Innerhalb der Vorgehens-Module (siehe Abbildung 3) nehmen zwei aus meiner Sicht eine besonders wichtige Stellung ein: Zum einen ist dies die konsequente „Variantenbildung“, welche zu jeder Phase des Projekts (von der Lösungsprinzipienebene, über die Gesamtkonzeptebene bis hin zur Detailkonzeptebene) anwendbar 6 Haberfellner, de Weck, Fricke, Vössner (2018): Systems Engineering. 14. Auflage, Zürich: Orell Füssli Verlag AG, p. 10. 7 Haberfellner, de Weck, Fricke, Vössner (2018): Systems Engineering. 14. Auflage, Zürich: Orell Füssli Verlag AG, p. 11. 8 Haberfellner, de Weck, Fricke, Vössner (2018): Systems Engineering. 14. Auflage, Zürich: Orell Füssli Verlag AG, p. 28. Abbildung 1: Die Komponenten des Systems Engineering – das „SE-Männchen“ mit der Systems Engineering-Philosophie als Kopf, dem eigentlichen Problemlösungsprozess als Körper und den verschiedenen technischen und Management-Methoden als Beine 6 . Abbildung 2: Systemische Betrachtung von Systemen mit ihren Elementen und deren Beziehungen zueinander 8 .
um das „Projektmanagement“, welches die organisatorischen Aspekte (Projektauftrag, Projektteam, organisatorische Eingliederung, Projektsteuerung, Berichtswesen etc.) behandelt.
Je komplexer die zu „lösenden Probleme“ bzw. die zu erstellenden Lösungen in den letzten Jahren wurden, umso mehr Bedeutung kommt der Systemgestaltung zu, welche sich wiederum in die grundlegende, Struktur- und Lösungsprinzip bezogene „Architekturgestaltung“ und in die umsetzungsorientierte „Konzeptgestaltung“ gliedert.
Anwendungsbeispiele
ist und einen möglichst großen Lösungsraum erschließen soll. Um die Variantenvielfalt auf ein sinnvolles Maß zu reduzieren, ist ein zweites Modul, der „Problemlösungszyklus“ erforderlich, der ebenso universell anwendbar ist (siehe Abbildung 4). 9
Hierbei dient nach ausreichender Situationsanalyse die „Zielformulierung“ sowohl als Leitlinie für die Entwicklung der Lösungsvarianten als auch für die anschließende Bewertung und letztendlich Auswahl der finalen Variante(n). Die Kombination aus den Modulen „Variantenbildung“ und „Problemlösungszyklus“ bildet quasi den „Motor“ des Systems Engineering. Haberfellner, de Weck, Fricke, Vössner (2018): Systems Engineering. 14. Auflage, Zürich: Orell Füssli Verlag AG, p. 107. 10 modells. Hier geht es um die „Systemgestaltung“, womit der inhaltliche Aufbau der Lösung gemeint ist und Systems Engineering ist bereits heute ein fester Bestandteil von zivilen und militärischen Projekten in der Luft- und Raumfahrt. Ebenso verwenden beispielsweise die meisten Fahrzeughersteller weltweit Systems
Engineering, um die immer höher werdenden Anforderungen an ihre Produktentwicklungsprozesse meistern zu können. Abbildung 3: Systems Engineering - Vorgehensmodell / Komponenten (Module) und deren logische Zusammenhänge 9 .
Problemlösungsprozess
Der Problemlösungsprozess behandelt die eigentliche Anwendung der Systems Engineering -Philosophie und insbesondere jene des Vorgehens9 Haberfellner, de Weck, Fricke, Vössner (2018): Systems Engineering. 14. Auflage, Zürich: Orell Füssli Verlag AG, p. 107. 10 Haberfellner, de Weck, Fricke, Vössner (2018): Systems Engineering. 14. Auflage, Zürich: Orell Füssli Verlag AG, p. 153.
Die immer komplexer und vernetzter werdenden Anforderungen an Systemlösungen, die heutzutage gebaut werden und der nicht zu bändigende (blinde) Fortschrittsglaube haben dazu geführt, dass momentan Systeme gebaut und in Betrieb genommen werden, ohne dafür die notwendigen Entwurfsprinzipien und Testverfahren zu haben. Die fatalen Abstürze von Boeings 737 Max, die ersten holprigen Versuche, autonome Fahrzeuge zu bauen, sind nur eines der vielen Beispiele.
Hier ist Systems Engineering als Disziplin alternativlos und daher gefordert, seine Methoden besonders für richtig große („large scale-„) Systeme weiter zu entwickeln – woran im Moment viele Forschergruppen international auch arbeiten.
Ausblick
Systems Engineering hat sich von einer losen Sammlung von Methoden seit den 1940er Jahren innerhalb von 80 Jahren zu einem zentralen Konzept für die Entwicklung technischer und soziotechnischer Systeme entwickelt. Die darin zusammengefassten Methoden (besonders jene der Systems Engineering-Philosophie) eignen sich auch für andere als technische Aufgabenstellungen. Die zunehmende Digitalisierung wird aus heutiger Sicht hoffentlich auch eine Verbesserung der Effektivität und Effizienz der Systems Engineering Methoden bringen.
Die kreative Kernaufgabe der Analyse und Synthese wird jedoch wohl noch lange ein kreativer Freiraum für natürliche, menschliche Intelligenz bleiben.
Literaturverzeichnis
[1] International Council on Systems Engineering (INCOSE), www.incose. org [2] Schlager, J. (July 1956). "Systems Engineering: key to modern development". IRE Transactions. EM-3 (3): 64–66. [3] Leveson, N.G. Engineering a Safer World, MIT Press, 2012. [4] Arthur D. Hall (1962). A Methodology for Systems Engineering. Van Nostrand Reinhold. [5] Haberfellner, de Weck, Fricke, Vössner (2018): Systems Engineering. 14. Auflage, Zürich: Orell Füssli Verlag AG
Autor:
Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Siegfried Vössner leitet seit 2004 das Institut für Maschinenbau- und Betriebsinformatik an der TU Graz. Nach Studien an der Stanford University war er als Unternehmensberater bei McKinsey&Company im Bereich Strategie und Operations tätig. Seine Forschungsaufenthalte führten ihn an die University of California Berkeley, die Naval Postgraduate School in Monterey und an die University of Auckland in Neuseeland. In seiner Forschungstätigkeit beschäftigt er sich mit Systems Engineering bzw. System Architektur sowie den Grundlagen von Modellierung und Simulation und deren Anwendungen in sozio-technischen Systemen und allen Aspekten betrieblicher IT-Systeme.