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Dr. Martin Thüne, Thüringer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung

„Algorithmic Policing“ – wie Polizeiorganisationen durch algorithmische Innovationen beeinflusst werden

► Dr. iur. Martin Thüne M.A., Dozent und Beauftragter für Forschung bei der Thüringer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Polizei

Polizistinnen und Polizisten müssen in Ermittlungsverfahren immer größere Datenmengen auswerten. Das geht oftmals nur noch durch technische Unterstützung, etwa den Einsatz von Algorithmen. Foto: © Blue Planet Studio, stock.adobe.com

Big Data, Data Mining, Künstliche Intelligenz (KI), Maschinelles Lernen – diese und weitere Schlagworte fallen regelmäßig, wenn über das Thema „Digitalisierung“ berichtet wird. Obgleich Inhalte und Grenzen der einzelnen Konzepte oft im Unklaren bleiben und sich mitunter der Eindruck einer gewissen Beliebigkeit in der Begriffswahl aufdrängt, so wird – gewissermaßen als kleinster gemeinsamer Nenner – schnell klar, dass bei all diesen Verfahren Computer eine Rolle spielen, die mit Algorithmen operieren. Allgemein versteht man darunter eindeutige Handlungsvorschriften zum Lösen eines vorab definierten Problems oder einer Klasse von Problemen. Das maschinelle Lösen komplexer Aufgaben zielt letztlich darauf ab, menschliche Arbeit zu erleichtern, zu optimieren oder diese gar obsolet werden zu lassen. Algorithmen können in diesem Zusammenhang zum Beispiel entscheidungsunterstützend arbeiten. Ganz wesentlich sollen mit ihrer Hilfe große Datenmengen gesichtet, zusammengeführt und ausgewertet werden. Es ist hinlänglich bekannt, dass die Sicherheitsbehörden – neben anderen Professionen – vor der Herausforderung einer anschwellenden Informationsflut stehen, mit der sie dennoch möglichst effizient umgehen müssen. Dies betrifft neben dem Bereich strafprozessualer Ermittlungen auch das Feld der operativen Bewältigung von Einsatzlagen, mithin die Gefahrenabwehr. Konnte etwa die Polizei ihre Aufgaben über lange Zeit mit Stift und Notizblock, diversen Formularen, Handakten und „Lichtbildmappen“ bewältigen, so schreitet die Datafizierung ehemals analoger beziehungsweise dinglicher Tätigkeiten unaufhaltsam voran. Algorithmen und (teil-)automatisierte Auswerte- und Ermittlungsprozesse bilden zunehmend die Grundlage sowohl von hochspe-

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zialisierter, aber auch „ganz gewöhnlicher“ Polizeiarbeit. Allerdings wandeln sich dabei nicht nur die genutzten Medien und Instrumente („aus analog mach digital“), sondern auch Organisationsstrukturen, Abläufe, Berufsbilder und vieles andere mehr werden teils erheblich angepasst. Man spricht in diesem Zusammenhang von komplexen soziotechnischen Transformationsprozessen.

Möglichkeitsraum für bessere Polizeiarbeit?

Wie sich beispielsweise an den mehrjährigen und mitunter wechselvollen Erfahrungen rund um die Thematik Predictive Policing oder am zunehmenden KI-Einsatz im Rahmen von Ton-, Bild- und Videoanalysen zeigt, resultieren aus primär technischen Innovationen mannigfaltige Veränderungsprozesse, die eine Organisationskultur im Ganzen tangieren – positiv wie negativ. Demzufolge kann die ernsthafte Auseinandersetzung mit algorithmenbasierten Techniken Innovationspotenziale für Polizei- und sonstige Sicherheitsbehörden bereithalten. Bei abstrahierter Betrachtung lassen sich „direkte“ und „indirekte“ Potenziale unterscheiden. Als direkt werden hier solche Potenziale bezeichnet, die auf den ersten Blick sichtbar sind und die unmittelbar aus dem Einsatz entsprechender Anwendungen resultieren, etwa • Arbeitserleichterung beziehungsweise -ermöglichung in diversen

Einsatz- und Ermittlungskontexten (Umgang mit exorbitanten

Datenmengen und/oder psychisch belastendem Material;

Reduzierung spezifischer Gefährdungen in operativen Einsatzsituationen), • Einsparung personeller und materieller Ressourcen in bestimmten Bereichen; zugleich werden teils neue Ressourcen benötigt (Computer-, Speicher- und Netzwerktechnik, IT-Fachkräfte, Datenanalysten), • Gewährleistung der (gegebenenfalls verbesserten) Erfüllung gesetzlicher Aufgaben, • im Ergebnis: Erhalt beziehungsweise Steigerung des Vertrauens in die Arbeit von Sicherheitsbehörden.

Daneben lassen sich indirekte Potenziale identifizieren, also solche, die sich womöglich nicht sofort erschließen, die aber mit algorithmenbasierter Polizeiarbeit mittelbar verbunden sind. Dazu gehören unter anderem: • Förderung technischer Innovationen, die einmal umgesetzt auch für andere Arbeitskontexte hilfreich sein können (ertüchtigte

IT-Infrastruktur, vorhandene Mobile Devices etc.), • Aufbau eigener Forschungs- und Entwicklungskompetenzen, • Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien, Studienergebnissen und Ähnlichem und somit gegebenenfalls Stärkung von evidenzbasierter Polizeiarbeit, • Notwendigkeit der (frühzeitigen) Auseinandersetzung mit relevanten und in Teilen strittigen Fragen in den Bereichen

Datenschutz, Grundrechtsberührungen, Rechtsgrundlagen,

Ethik, Sicherheitsgefühl der Bevölkerung etc.

„Es erscheint zielführend, zum einen eigene Kompetenzen und (Forschungs-) Strukturen aufzubauen und zum anderen über jedwede Projekte im Bereich „Algorithmic Policing“ proaktiv sowie öffentlich zu informieren.“

Forschen und proaktiv kommunizieren

In der Gesamtbetrachtung lohnt es demnach, wenn Sicherheitsbehörden die Entwicklungsprozesse im Bereich daten- beziehungsweise algorithmengetriebener Ansätze sowie insbesondere im Feld der KI aufmerksam verfolgen. Allerdings sollten sie dabei nicht in die passive Rolle außenstehender Betrachterinnen und Betrachter geraten beziehungsweise sich darauf zurückziehen, bei Bedarf externe Anwendungen einzukaufen. In diesem Fall besteht u. a. die Gefahr, mit zumeist nicht unerheblichem Mitteleinsatz (vermeintliche) Lösungen zu beschaffen, ohne deren konkrete Funktionsweise nachvollziehen zu können. Gerade in einem Themenfeld, das durch die Öffentlichkeit zu Recht kritisch beäugt wird und in dem Transparenz ein hohes Gut darstellt, ist ein solches Vorgehen mit Risiken und Nebenwirkungen behaftet. Im Umkehrschluss erscheint es vielmehr zielführend, zum einen eigene Kompetenzen und (Forschungs-) Strukturen aufzubauen und zum anderen über jedwede Projekte im Bereich „Algorithmic Policing“ proaktiv sowie öffentlich zu informieren. Erst damit versetzen sich Sicherheitsbehörden selbst in die Lage, Prozesse aktiv mitzugestalten, organisationsexterne und -interne Friktionen von vornherein mitzudenken und nicht zuletzt vollumfänglich auskunftsfähig zu sein.

Dr. iur. Martin Thüne M.A. ist Dozent und Beauftragter für Forschung bei der Thüringer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Polizei.

Foto: privat

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