Praxisbuch Demokratiepädagogik

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Demokratie als Praxis und Demokratie als Wert .................................................................. (Wolfgang Edelstein)

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Baustein 1: Demokratische Schulgemeinschaft ......................................................................................... (Wolfgang Althof / Toni Stadelmann)

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Arbeitsblätter ..............................................................................................................................

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Baustein 2: Klassenrat ................................................................................................................................. (Birte Friedrichs)

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Kopiervorlagen ...........................................................................................................................

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Baustein 3: Mediation und konstruktive Konfliktbearbeitung ................................................................ (Helmolt Rademacher)

91

Baustein 4: Partizipation im schulischen Umfeld ...................................................................................... (Heinz Schirp)

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Schülermaterialien und methodische Anregungen .....................................................................

133

Baustein 5: Service Learning – Lernen durch Engagement ..................................................................... (Susanne Frank/Anne Seifert/Anne Sliwka/Sandra Zentner)

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Planungsbögen für Lehrer .......................................................................................................... Arbeitsbögen für Schüler ............................................................................................................

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Baustein 6: Demokratisches Sprechen ........................................................................................................ (Anne Sliwka/Susanne Frank/Christian Grieshaber)

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Planungsbögen für Lehrer .......................................................................................................... Arbeitsbögen für Schüler ............................................................................................................

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Magdeburger Manifest zur Demokratiepädagogik ..................................................................... Zum Begriff der »Kompetenz« .................................................................................................. Literatur und Materialien zur Demokratiepädagogik ................................................................. Demokratiepädagogische Elemente (Toni Stadelmann / Wolfgang Althof) ............................... Autorenverzeichnis....................................................................................................................... Literaturverzeichnis ....................................................................................................................

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Anhang:


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formen beschrieben. Wir erinnern an einige von ihnen und ergänzen einige weitere, die sich als mit dem JustCommunity-Konzept besonders kompatibel erwiesen haben. Kooperative Lernformen ermöglichen die Erfahrung wechselseitiger Unterstützung und unterstreichen den Wert von Rücksichtnahme, Verbindlichkeit getroffener Absprachen und gemeinsamer Reflexion von Arbeitsschritten und Ergebnissen. Die Projektmethode, für die all dies ebenfalls zutrifft, ist vielfach unter dem Gesichtspunkt von Selbstorganisation, Demokratisierung und Enthierarchisierung eingeführt worden. Der Klassenrat sollte die Keimzelle von Just-Community-Schulen sein. Er gibt Raum für Austausch und Entscheidungsfindung bei Themen, die die Klasse betreffen, für Problembearbeitung und Konfliktlösung. Hier werden auch Kompetenzen trainiert, die in Versammlungen mit viel größerer Teilnehmerzahl dringend gebraucht werden: Argumentieren und Zuhören, Organisieren und Moderieren. Und nicht zuletzt ist der Klassenrat der passende Ort, an dem die Klasse Themen bespricht, die die gesamte Schule beschäftigen, und für die Vor- und Nachbereitung von Just-Community-Vollversammlungen. Verantwortungsübernahme für gemeinschaftliche Aufgaben lässt sich bei vielen Gelegenheiten lernen; das »Chefsystem« ist eine besonders durchdachte Form der Verteilung von Kompetenzen. Eine Sensibilisierung für Fairnessfragen und eine Schulung moralischer Argumentationsfähigkeiten ist Ziel von Dilemmadiskussionen; im Fachunterricht bieten sich vielfältige Gelegenheiten, Stoff zu vermitteln und zugleich moralische Wertkonflikte zu behandeln, die mit der Unterrichtsthematik verbunden sind. Jedes dieser Elemente ist auch für sich wertvoll. Eine Schule mit kooperativen Arbeitsformen ist, bei sonst gleichen Bedingungen, besser als eine Schule, in der nur individuelles Lernen stattfindet. Eine Schule, die den Klassenrat institutionalisiert hat (und nutzt), ist auf dem Wege zur Schülerpartizipation schon einen großen

Schritt gegangen. Wir werden die genannten Elemente im nächsten Abschnitt deshalb eigens eingehen. Der pädagogische Effekt wird aber größer, wenn Schulen nicht nur ein einzelnes Element einführen, sondern mehrere miteinander verbinden und integrieren. Dies liegt nicht nur daran, dass soziale Lerngelegenheiten dann häufiger angeboten werden. Ein weiterer Grund ist der, dass der Transfer von Lernerfahrungen von einem zum anderen Bereich nicht so automatisch eintritt, wie wir uns dies vielleicht wünschten. Wie Forschungsergebnisse zeigen, führen Dilemmadiskussionen tatsächlich zu einer Verbesserung moralischer Denk- und Argumentationsfähigkeiten. Sie haben aber – solange die Themen nicht unmittelbar die eigene Lebenswelt betreffen – keine nennenswerten Effekte auf das moralische Verhalten. Dieses wird erst beeinflusst, wenn zusätzliche Erfahrungen die Verantwortung bewusst machen, die man für andere Menschen und für die Gemeinschaft hat. Ein anderes Beispiel: Partizipation im sozialen Bereich fördert soziales Lernen, aber nicht politisches Lernen. Politisches Lernen findet nur statt, wenn die gesellschaftliche und politische Dimension eines Handlungsbereichs ausdrücklich thematisiert wird. Wer im Rahmen eines Service-Learning-Projekts bedürftigen Menschen hilft, lernt vieles über Bedürftigkeit und Verantwortung; erst wenn die Frage nach möglichen strukturellen Ursachen von Bedürftigkeit im Raum steht (z. B. nach den Ursachen von Altersarmut und Möglichkeiten ihrer Überwindung), entwickelt sich hingegen auch ein Verständnis für politische Verhältnisse. Die Methode der Dilemmadiskussion wird im folgenden Abschnitt ausführlicher beschrieben. Auf einige weitere demokratiepädagogische Elemente gehen wir in einem getrennten Beitrag im Anhang dieses Bandes ein (siehe S. 238). Wir werden uns dort außerdem der traditionellen Schülervertretung (SV) zuwenden – vor allem an großen Schulen kommt Schuldemokratie ohne repräsentative Vertretungsformen nicht aus.

2. Demokratiepädagogische Elemente: Das Beispiel Dilemmadiskussion Die Dilemmadiskussion ist eine lernbare, altersgemäß entwickelte Form der kognitiven Verarbeitung von Interessens- und Wertekonflikten. Mithilfe dieser Methode ist es möglich, die persönliche Urteilsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zu schulen und ihre Dialogfähigkeit als Grundform demokratischer Kommunikation zu entwickeln: »Die Auseinandersetzung mit Werten, Wertvorstellungen und daran festzumachenden Konflikten hat für die Entwicklung von Urteilsfähigkeit eine ganz entscheidende Bedeutung. Wer Schülerdemokratie und die damit verbundenen Kompetenzen aufseiten der

Schülerinnen und Schüler fördern will, muss auf die Wertvorstellungen eingehen, die für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen konstitutiv sind und die für verantwortungsbewusstes Handeln und Verhalten prägend sind« (Schirp 2003, S. 57). Dilemmadiskussionen sind eine bewährte Methode, wenn es darum geht, die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit zu fördern. Ein Dilemma ist ein Entscheidungskonflikt – eine Zwickmühle, in der kein Kompromiss möglich ist und eine Option gewählt wird, die von anderen aber verworfen werden muss. In einem mo-

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ralischen Dilemma stehen sich Werte gegenüber, die nicht gleichzeitig praktiziert werden können; die Entscheidung für den einen Wert bedeutet zwangsläufig die Verletzung des anderen. Es geht also nicht »einfach« um die Frage von Moral oder Unmoral, sondern ein Problem wird gerade dadurch zum Dilemma, dass es für gegensätzliche Standpunkte gute moralische Argumente gibt. Haben die widerstreitenden moralischen Anforderungen ein ähnliches Gewicht, wird das Dilemma als besonders schwierig erlebt. Hier ein Beispiel, das Christine Lutter-Link und Sibylle Reinhardt (1995) entwickelt haben: Die Firma Waba erhält einen Großauftrag zum Bau einer Laboranlage für Gifte in einem Land des Nahen Ostens, das versichert, dass die Gifte gegen Insekten eingesetzt werden sollen. Der Geschäftsleitung ist jedoch bekannt, dass Oppositionelle dieses diktatorischen Regimes mit Gift umgebracht wurden und dass die mit Hilfe dieser Anlage produzierbaren Gifte die Umwelt stark belasten. Die Firma Waba ist ein mittelständischer Betrieb und von Großaufträgen dieses Umfanges abhängig. Die Erfüllung des Auftrages würde der Firma wirtschaftlich gut tun und sogar kurzfristig die Schaffung neuer Arbeitsplätze bedeuten. Wenn der Auftrag nicht angenommen würde, müssten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlassen werden. Frau Großkopf, die Eigentümerin und Geschäftsführerin der Firma, bittet Herrn Ringelhuber (Kaufmännischer Leiter) und Herrn Tüftel (Techni-scher Leiter) zu sich: »So, meine Herren – wie sehen Sie die Lage?« Herr Ringelhuber: »Frau Großkopf, ich denke, dass wir auf jeden Fall den Auftrag annehmen müssen. Die finanzielle Lage der Firma erfordert dies. Es geht doch um unsere Gewinne und die neuen Arbeitsplätze.« Herr Tüftel: »Frau Großkopf, ich denke, wir müssen den Auftrag ablehnen. Wir können doch in Konflikt mit dem Außenwirtschaftsgesetz geraten. Denken Sie auch an die Konsequenzen, wenn die Gifte Menschen töten.« Wie würdest Du entscheiden, wenn Du Frau Großkopf wärst – für oder gegen die Annahme des Auftrags? Moralische Urteilsfähigkeit entsteht nicht durch Belehrung, also eine direkte Vermittlung von Werten und Normen, sondern durch die Reflexion von Erfahrungen – Erfahrungen mit dem fairen oder unfairen, rücksichtsvollen oder rücksichtslosen, verantwortungsbereiten oder unverantwortlichen Handeln anderer Menschen, Erfahrungen mit der Reaktion anderer auf das eigene Verhalten, Erfahrungen mit Konflikten zwischen Menschen (oder Gruppen von Menschen) und eigenen Entscheidungskonflikten.

Die Beschäftigung mit Wertkonflikten stimuliert das Denken in besonderem Maße: Sie provoziert kognitive Konflikte, sie führt zu Verunsicherung und bietet so die Chance, neue Argumente zu verstehen, den eigenen Denkhorizont zu erweitern und festzustellen, dass einfache Antworten auf komplexe Fragen meist falsch sind. Die Strategie der Dilemmadiskussion, die auf den amerikanischen Psychologen und Pädagogen Lawrence Kohlberg und seinen seinerzeitigen Doktoranden Moshe Blatt zurückgeht, macht aus diesem psychologischen Sachverhalt eine pädagogische Strategie. Schüler/innen werden regelmäßig mit Entscheidungskonflikten konfrontiert, in denen die Handlungsalternativen unterschiedliche Werte repräsentierten. Konflikte zwischen Ökonomie und Ökologie (z. B. zwischen Wirtschaftswachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen oder aber dem Schutz der Natur und der Gesundheit zukünftiger Generationen) sind ein typisches Beispiel. In der Diskussion solcher moralischen Dilemmata geht es nicht darum, einen Konsens bezüglich der richtigen Entscheidung und damit bezüglich der Rangfolge von Werten zu finden. Ein Dilemma ist nur dann eines, wenn tatsächlich gute Argumente für beide Optionen sprechen. Die Diskussion konzentriert sich deshalb darauf, die bestmöglichen Argumente vorzutragen und auszutauschen, die den Beteiligten in den Sinn kommen.

2.1 Ziele Das Ziel dieser Form moralischer Erziehung ist es nicht, Kinder und Jugendliche »gut zu machen«, denn dies ist durch Eingriff von außen nicht möglich. Das Hauptziel ist vielmehr, die Schüler/innen dabei zu unterstützen, ihr eigenes moralisches Urteil zur Interpretation und Lösung moralischer Probleme einzusetzen, selbst auf den Prüfstand zu stellen und dadurch zu entwickeln. Sie lernen, sich differenzierter mit eigenen und fremden moralischen Positionen und Argumentationen auseinanderzusetzen, können sich besser in die Perspektive anderer hineinversetzen und verbessern ihre moralische Argumentationsfähigkeit. Zur gleichen Zeit kann eine ganze Anzahl weiterer Ziele verfolgt werden. »Eine fruchtbare unterrichtliche Anwendung der Dilemmadiskussionen beinhaltet eine Vielzahl kommunikativer, affektiver und kognitiver Zieldimensionen, sodass eine Beschränkung auf die Stufenförderung eine unzulässige Reduktion der Möglichkeiten wäre. Einige, hier nur unsystematisch herausgegriffene Lernziele sind Verhaltensdispositionen wie: ● ●

zuhören können, Gedanken formulieren und präzisieren können,


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Positionen begründen und vergleichen können, Argumente, Positionen und Handlungen an ausweisbaren Maßstäben bewerten können, Alternativen erkennen können, Sensibilität für soziale Konflikte, Wertebewusstsein, Bereitschaft und Fähigkeit, sich an der Austragung von Konflikten zu beteiligen (Konfliktfähigkeit), Ursachen für die Inkonsistenz Handeln/Urteilen erkennen können, Toleranz und Offenheit, Widersprüche zwischen rechtfertigbarem Urteil und Handeln erkennen (und gegebenenfalls überwinden) können, Fähigkeit, die eigene Moralphilosophie und Motive reflektieren zu können (Selbstreflexion)« (Dobbelstein-Osthoff 1995, S. 55 f.).

Mit der Entwicklung einer sachbezogenen Streitkultur, die sich auf Argumente konzentriert und persönliche Herabsetzungen vermeidet, wird ein weiteres Ziel verfolgt: ●

die Förderung einer Atmosphäre des gegenseitigen Respekts.

Wie gleich ausgeführt werden soll, lassen sich in den meisten Schulfächern und Lernbereichen vielfältige moralisch relevante Konflikte identifizieren, die sich für eine Bearbeitung mittels Dilemmadiskussion anbieten. Wird diese Methode für den Fachunterricht genutzt, statt im Stundenplan Platz für zusätzliche Stunden »Moralerziehung/Dilemmadiskussion« zu suchen, werden zwei weitere Ziele realistisch: ●

vertieftes Verständnis von sozialen/politischen/moralischen Konzepten und von inhaltlichen, moralisch relevanten Zusammenhängen Verbesserung des Verhältnisses zur Schule durch steigende Interessantheit und Relevanz des Unterrichts

2.2 Typische Arbeitsformen Je nach Herkunft des als Dilemmageschichte aufbereiteten Wertekonflikts lassen sich drei Typen moralischer Dilemmata unterscheiden: Hypothetische (fiktive) Dilemmata Ein Wertekonflikt wird auf einen Protagonisten zugespitzt, der unter einem unmittelbaren Entscheidungsdruck steht. Die Diskussion konzentriert sich auf die Frage, wie diese Person entscheiden sollte und warum (und nicht auf Spekulationen, wie sie sich vermutlich entscheiden würde). Weil der Konflikt fiktiv ist, sind die Schüler/innen nicht persönlich involviert. Dies kann ein

Nachteil sein, wenn die Diskussion in der Folge unverbindlich wird. Der Vorteil andererseits ist, dass wer nicht persönlich betroffen ist, auch nicht versuchen wird, dem Entscheidungskonflikt auszuweichen oder ihn nur aus der Perspektive eigener Erfahrungen zu betrachten. Semireale oder reale Dilemmata Die Geschichte ist der Lebenswelt der Schüler/innen entnommen und erlaubt Bezüge auf ihre Alltagserfahrung. Semireal ist die Diskussion, wenn das Dilemma vertraut ist und in diesem Sinne als real angenommen werden kann, die Handlungsentscheidung aber hypothetisch bleibt. Realkonflikte sind akut und verlangen nach einer tatsächlichen Lösung. Hier verschieben sich die Lerngelegenheiten gegenüber einer Diskussion hypothetischer Dilemmata. Persönliche Interessen, Befürchtungen und Sorgen (z. B. vor unangenehmen Konsequenzen) werden neben moralischen Rechtfertigungen zum Gesprächsgegenstand und verlangen einen nachdenklichen und respektvollen Meinungsaustausch. Geht es beim gegebenen Konflikt nicht um das Problem einer einzelnen Person, sondern um ein Problem innerhalb der Klasse, muss diese zu einer Entscheidung finden. In diesem Fall werden »Dilemmadiskussion« und »Klassenrat« deckungsgleich. Fachbezogene Dilemmata behandeln Wertkonflikte, die sich in Themenbereichen des jeweiligen Faches finden. »Ob es sich dabei um Deutsch/Literatur, Geschichte, Politik, Biologie, Religion oder Sport handelt, es lassen sich wertbezogene Problemstellungen identifizieren, in denen Entscheidungen über ›richtig‹ oder ›falsch‹, ›gerecht‹ oder ›ungerecht‹, ›angemessen‹ oder ›unangemessen‹ an Wertvorstellungen gebunden sind. Diese Wertvorstellungen lassen sich auf Dilemmata zurückführen, in denen zwei unterschiedliche Werte miteinander konkurrieren: Freundschaft vs. Ehrlichkeit, Solidarität vs. Eigennutz, Fairness vs. Erfolg, Gehorsam vs. Solidarität mit der eigenen Gruppe etc.« (Schirp 2003, S. 57). In aller Regel findet die Dilemmadiskussion erst relativ spät innerhalb einer Unterrichtseinheit statt, nachdem Kenntnisse über die Fakten erarbeitet worden sind. Der große Vorteil dieses Typs der Dilemmadiskussion ist es, dass sie einen integrierten Teil des Unterrichts darstellt und nicht als zusätzliches Element vorbereitet werden muss. Nützlich sind dementsprechend Unterrichtsmaterialien, die es zur gleichen Zeit erlauben, dem normalen Lehrplan zu folgen und moralische Konflikte zu thematisieren. Der Lehrer Markus Niederastroth beispielsweise hat einige hervorragend aufbereitete Unterrichtseinheiten ins Internet gestellt: ●

zu steuerrechtlichen Fragestellungen (www.lehreronline.de/steuern.php),

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zu Urheberrechtsproblemen am Beispiel »Filesharing im Internet« (www.lehrer-online.de/illegalesfilesharing.php), zum Thema Schwarzarbeit (www.lehrer-online.de/ schwarzarbeit.php).

Die Dilemmadiskussionen sind hier Teil des Fachunterrichts in Wirtschaftslehre, Sozialkunde bzw. Politik; sie folgt auf einführende Unterrichtsteile, in denen die Schüler/innen unter anderem rechtliche und wirtschaftliche Fakten recherchieren. Die mitgelieferte Materialsammlung (Hintergrundinformationen, Arbeitsblätter) erlaubt einen sofortigen Einsatz. Das Szenario zum Thema »Schwarzarbeit« hat Niederastroth (2005) als semireale Dilemmageschichte aufbereitet: Lehrerimpuls Nach Ihrer Ausbildung sind Sie arbeitslos. Ihren Lebensunterhalt bestreiten Sie von den Leistungen der Arbeitsagentur. Sie erhalten 60 Prozent Ihrer Netto-Ausbildungsvergütung als Arbeitslosengeld. (Berechnen Sie diesen Betrag kurz und überlegen Sie sich, wie es Ihnen dann finanziell gehen wird.) In dieser Situation wendet sich Ihr Lieblingscousin mit einer Bitte an Sie. Er hat sich vor Kurzem selbstständig gemacht und benötigt dringend kaufmännische Unterstützung. Da er Ihre kaufmännische Kompetenz schätzt und weiß, dass Sie momentan (bedauerlicherweise) Zeit haben, bittet er Sie, ihn bei seiner Buchführung zu unterstützen. Sie sollen Ordnung in das vorhandene Chaos bringen und bis auf Weiteres alle diesbezüglich relevanten Aufgaben übernehmen. Er schätzt den durchschnittlichen Arbeitsaufwand auf ca. 20 Wochenstunden. Die Arbeit dürfen Sie natürlich, falls Sie wollen, zu Hause machen. Da sich Ihr Cousin mit seinem Betrieb noch in der Gründungsphase befindet, kann er Ihnen leider kein angemessenes Gehalt zahlen. Aber er verspricht, sich regelmäßig im Rahmen seiner Möglichkeiten erkenntlich zu zeigen – »Cash auf die Kralle und natürlich ohne Steuern«, wie er sagt. Weiterhin stellt er Ihnen in Aussicht, dass er Sie, sobald es ihm finanziell möglich ist, fest einstellen wird. Werden Sie Ihren Cousin unter diesen Bedingungen unterstützen?

Die Übersicht auf Seite 45 hilft bei der Suche nach praktisch einsetzbaren Dilemmageschichten für den Unterricht.

2.3 Merkmale guter Dilemmadiskussionen Ausgangspunkt ist ein moralisches Dilemma, also eine Situation, in der (a) Fragen des zwischenmenschlichen bzw. sozialen Zusammenlebens angesprochen sind und in der (b) sich Werte gegenseitig ausschließen, die jeder für sich geschätzt und gut begründet werden können. Konflikte zwischen Ökonomie und Ökologie sind nach diesem Kriterium moralische Di-

lemmata; Geschmacksfragen nicht. Fragen der persönlichen Lebensgestaltung (»Gehe ich heute Fußballspielen oder bleibe ich zu Hause und spiele ein Computerspiel?« bzw. »Studium oder Beruf«) können als Dilemma erlebt werden, haben aber meist keinen moralischen Gehalt. Für nicht moralische Konflikte ist es typisch, dass sich kaum ein rationales, »objektives« Entscheidungskriterium finden lässt; während besonders bei Gerechtigkeitskonflikten sich schnell die Suche nach einem Entscheidungsprinzip und einer Problemlösungsprozedur aufdrängt, in der alle Interessen in gleichem Maße zum Zuge kommen können und in unvoreingenommener Weise geprüft werden. – Für Grundschulkinder sind natürlich Konflikte im konkreten zwischenmenschlichen Bereich (z. B. Pflichten gegenüber Freunden; helfen, auch wenn man jemanden nicht mag) von besonderem Interesse. Bei der Arbeit mit Jugendlichen sollte es besonders interessant (und entwicklungsfördernd) sein, den moralischen Dimensionen gesellschaftlicher Konflikte und Entscheidungsprozesse nachzuspüren Offenes Ende Eine gute Moraldiskussion konzentriert sich auf einen Austausch von Gedanken und auf die argumentative Verteidigung von Standpunkten, nicht auf eine Entscheidung, welche Handlung im gegebenen Dilemma die richtige sei. Meinungen sollen nicht als richtig oder falsch deklariert werden. Sie dürfen aber sehr wohl daraufhin überprüft werden, ob sie »gut«, d. h. folgerichtig begründet wurden. Am Ende der Stunde können Anregungen für weiteres Nachdenken gegeben werden; es sollte aber auf keinen Fall eine Abstimmung erfolgen (= großer Unterschied zu realen Entscheidungssituationen in Klassen- oder Schulversammlungen). Ungezwungene Atmosphäre Ein Grunderfordernis für die Bereitschaft, in einen offenen Diskurs einzutreten, ist, dass die Atmosphäre als nicht bedrohlich erlebt wird. Wer sich sorgen muss, ausgelacht, gedemütigt, als Person mit »so einer Meinung« kritisiert zu werden, verhält sich in der Stunde dementsprechend: eingeschüchtert, bedeckt oder konformistisch. Beides läuft dem Ziel, Entwicklungsprozesse anzuregen, diametral zuwider. Grundschulkinder lernen nach und nach die Grundregeln argumentativer Auseinandersetzung. Sie müssen nicht nur lernen, was »argumentieren« bedeutet (und dass es eben kein Argument ist, wenn man den anderen überschreit und auslacht), sondern brauchen die ganz praktische Erfahrung von Respekt. Moral ist im Kern Respekt vor dem anderen Menschen. Man kann von niemandem erwarten, Regeln und Menschen zu respektieren, der selbst nicht weiß, wie es ist, geschätzt und respektiert zu werden. Wichtige Erziehungsziele auf der Primarstufe sind die Überwindung von Egozentrismus und die Fähigkeit, die Bedürf-


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nisse anderer Leute und mehr und mehr auch die Interessen sozialer Gemeinschaften im Denken und Handeln zu berücksichtigen. Das offene, vertrauensvolle Gespräch verstärkt das Interesse, zuzuhören und sich in andere Standpunkte hineinzudenken. Insofern ist eine von Druck und Missbilligung freie Atmosphäre für diese Stufe und Altersgruppe besonders wichtig. Zur Herstellung einer ungezwungenen Atmosphäre kann natürlich das räumliche Arrangement sehr beitragen. Im Stuhlkreis unterhält es sich besser; frontale Ausrichtung der Sitzordnung auf die Lehrerin bzw. den Lehrer erschwert die gedankliche Ausrichtung auf die Gesprächspartner: die Mitschülerinnen und Mitschüler. Deshalb: Gespräch unter Schüler/innen, nicht Dialog zwischen Lehrer/in und einzelnen Schüler/innen Die Beteiligten sollen sich aufeinander beziehen, ihre Argumente wechselseitig hinterfragen und sich zu »besserer« Begründung herausfordern. Frontalunterricht kann nicht funktionieren, wenn – wie in diesem Fall – der Weg das Ziel ist: die intensive Auseinandersetzung mit dem Dilemma als solche und nicht ein inhaltliches Lernziel. Die Lehrkraft sollte sich darauf konzentrieren, das Gespräch auf das Dilemma zu zentrieren und in Gang zu halten. Herausfordernde Argumente Eine Diskussion ist dann ergiebig, wenn das Denken der einzelnen Schüler/innen sich an dem der anderen »reiben« kann, sie also angestoßen werden, ihre eigene Sicht der Dinge zu überprüfen. Anregend sind (a) die Argumente der Mitschüler/innen, vor allem wenn sie eine gewisse Stufendifferenz repräsentieren. Anregend sind (b) Nachfragen, die vor allem auch die Lehrerin bzw. der AB 3 auf S. 48). Lehrer stellt (s. u. Kap. 2.4 und Anders gesagt: Die Dilemmadiskussion ist insofern eine besondere Unterrichtsstrategie, weil sie von einem Wertkonflikt – eben: einem Dilemma – ausgeht und sich ständig auf diesen Wertkonflikt bezieht. Ansonsten sind Dilemmadiskussionen nichts Besonderes, sondern folgen Prinzipien, die auch sonst angestrebt werden: aktives Lernen, Erfahrungsbezug, Lernen aus Fehlern und so weiter. Ein im Unterrichtskontext entwickeltes Dilemma ist gut, wenn ●

es eine einfache, prägnante Geschichte hat, in der die wichtigsten Fakten, Figuren und Themen schnell erkannt werden können; es eine kontroverse Diskussion erlaubt (die Problematik ist generell umstritten, oder es lässt sich erwarten, dass die Schüler/innen je nach Entwicklungstand, Geschlecht und kulturellem Hintergrund unterschiedliche Standpunkte einnehmen werden). Es müssen sich also Handlungsalternativen (und mit

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ihnen: Wertorientierungen) gegenüberstehen, die in etwa als gleich gewichtig (oder gleich schwierig) wahrgenommen werden und von denen keine durch die Logik der Situation oder über kulturelle Standards sofort als »richtig« identifiziert werden kann; es einen Bezug auf Erfahrung und Vorwissen ermöglicht; es dennoch allen Schüler/innen erlaubt (auch denjenigen, die keine spezielle Erfahrung mit der Problematik haben), ihre Gedanken einzubringen.

Die »klassische« Strategie zur Durchführung von AB 2 Dilemmadiskussionen wird auf Arbeitsblatt (S. 47) beschrieben. Stellt die Dilemmadiskussion im Fachunterricht nur einen Teil der Unterrichtseinheit dar, wird sie durch andere Aktivitäten gerahmt bzw. vorbereitet. Im oben wiedergegebenen Beispiel zum Thema »Schwarzarbeit« (www.lehrer-online.de/schwarzarbeit.php) geht es beispielsweise um die Vielschichtigkeit wirtschaftlicher Zusammenhänge und Abhängigkeiten insgesamt. Die Schüler/innen am Berufskolleg, für die diese Unterrichtseinheit entwickelt wurde, erarbeiten sich zuerst die juristische Sachlage und setzen sich mit verschiedenen Standpunkten zum Thema auseinander, bevor sie in eine Diskussion eintreten, in der es um moralische Fragen ebenso geht wie um rechtliche und betriebs- und volkswirtschaftliche.

2.4 Rolle der Lehrkraft Diese Art des Unterrichts ist das Gegenteil von »Instruktion«. Lerneffekte treten nur ein, wenn die Schüler/innen sich wirklich selbsttätig austauschen. Die Hauptrolle der Lehrkraft ist die Moderation eines Gesprächs, an dem sich möglichst alle beteiligen. Die aktiven Beiträge der Lehrerin bzw. des Lehrers (der ein aufmerksamer Zuhörer bleiben sollte, wann immer dies möglich ist) sind dazu da, die Diskussion als moralische Diskussion zu erhalten, das Gespräch also immer wieder auf die zentralen moralischen Aspekte zu lenken. Dies geschieht vor allem durch Fragen (siehe unten). Bei zunehmender Diskussionserfahrung können die Vertiefungsfragen mehr und mehr Leistung der Klasse selbst werden. Die Aufgaben der Lehrerin/des Lehrers konzentrieren sich auf das Folgende: ● ● ●

das Thema für die Diskussion einbringen bzw. aufgreifen; dazu beitragen, dass eine offene, ungezwungene Atmosphäre im Klassenraum entsteht; Organisation des Ablaufs der Stunde: Wechsel vom Plenum in kleine und größere Gruppen und zurück,

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