1 Warum haben die Schweizer so grossartigen Sex? 2013 hat das Markt- und Meinungsforschungsinstitut YouGov eine viel beachtete Studie über das Sexualleben in dreizehn europäischen Ländern veröffentlicht. YouGov ist ein renommiertes Unternehmen für Demoskopie, dessen Chef einen berühmten Namen trägt: Shakespeare. Der Guardian bezeichnete Shakespeare einmal als «den Meinungsforscher mit der unheimlichen Fähigkeit, richtig zu liegen».(1) Und wer schnitt am besten ab? Die heissblütigen Südländer? Die freizügigen Niederländer? Die auf Klatschmedien versessenen Briten? Nein, sie alle nicht. Sowohl bei «meine sexuelle Leistungsfähigkeit» als auch bei «Qualität meines Sexlebens» lag die Schweiz vor Spanien, Italien und den skandinavischen Ländern; die Heimat Shakespeares landete abgeschlagen auf dem letzten Platz. Im Schweizer Boulevardblatt Blick wurde dieser erstaunliche Sieg am 24. Juni 2013 mit einer reisserischen Überschrift gefeiert: «Wir sind die Sex-Meister!» 1 2001 sagte YouGov den Sieg der Labour Party bei der britischen Unterhauswahl auf einen Prozentpunkt genau voraus, und ebenso für 2017 ein Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse – was laut Guardian «in der Tat mutig» war und in der Tat auch so eintrat. 11
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Zwei Jahre später wurden in einem Artikel des Onlinemagazins Alternet, der sich auf eine ganze Reihe unterschiedlicher Studien stützte, die zwölf Länder aufgelistet, in denen die Menschen mit ihrem Liebesleben am zufriedensten waren. Zwar gab es keine Rangliste, aber die Schweiz stand an erster Stelle. Dies führte zu einer Flut von Berichten (in The Independent, The Mirror, Salon, Metro News, Elite Readers etc.), in denen behauptet wurde, die Schweizer seien die besten Liebhaber der Welt. «Die Schweiz ist sowohl scharf als auch sicher», so das Frauen-Onlinemagazin Bustle. Diese Nachricht verbreitete sich bis nach Indien, wo das im Internet tätige Medien- und Nachrichtenunternehmen Scoopwhoop fragte: «Ist der Grund die pittoreske Landschaft? Sind es die romantischen Filme von Yash Raj? Oder liegt es an der schon im Kindergarten beginnenden sexuellen Aufklärung?»(2) Die exzellenten Ergebnisse von 2013 und 2015 sind umso bemerkenswerter, als die Schweizer Liebenden seit dem 18. April 2012 offensichtlich riesige Fortschritte gemacht hatten. Denn damals titelte ebenderselbe Blick vernichtend: «Schlappe Nummer – Schweizer sind Flaschen im Bett!» Der Blick berief sich dabei auf eine Umfrage unter Nutzern von C-Date, laut der die Brasilianer die besten Liebhaber und die Italienerinnen die besten Liebhaberinnen seien, während die Schweizer kurzerhand auf den letzten Platz verwiesen wurden. Wenn sich die Schweiz innerhalb eines Jahres vom letzten auf den ersten Platz hochschlafen konnte, fragt man sich nach den Höhen und Tiefen im Lauf der Jahrhunderte. Riskieren wir also einen verstohlenen Blick zurück. 2 Inwiefern die 75 von der indischen Entertainment-Gesellschaft Yash Raj produzierten Bollywoodfilme die sexuelle Leistungsfähigkeit der Schweizer gefördert haben könnten, wird nicht ganz klar, doch der etwas überraschende Ruf der Schweiz als Land der Liebe ist unverkennbar bis nach Indien vorgedrungen. 12
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Vor 600 Jahren besuchte der Kardinalstaatssekretär Poggio Bracciolini – Vater von 14 Kindern mit seiner Geliebten und weiteren 6 mit seiner Ehefrau – im Jahr 1417 die Thermalbäder von Baden im Kanton Aargau und verfasste darüber folgenden Bericht: Alle, die verliebt sind, alle, die auf Freiersfüssen gehen, alle, für die das Leben im Genuss sich gründet, eilen hierher, um zu geniessen, was sie sich erwünschen. Viele körperliche Leiden täuschen sie vor, während sie sich innerlich bedrängt fühlen. So siehst du hier zahllose sehr schöne Frauen ohne ihre Männer, ohne Verwandte, mit zwei Zofen und einem Knecht oder irgendeinem alten Mütterchen aus der weitläufigen Verwandtschaft, das man geschwinder hinters Licht führen als satt machen kann […] Ich behaupte, dass es nirgends auf der Welt ein Bad gibt, das für die Fruchtbarkeit der Frauen förderlicher wäre […] Und ich glaube gar, dass unser Ort der ist, wo der erste Mensch erschaffen wurde; Gan Eden nennen ihn die Juden, das heisst Garten der Lust. Dies muss eins der guten Jahre gewesen sein – vielleicht sogar noch besser als 2013. Poggio machte einige weitere bemerkenswerte Beobachtungen: […] auch Äbte, Mönche, Ordensbrüder, Priester leben hier in grösserer Freiheit als die übrigen, und zumal, wenn sie mit den Frauen zusammen im Bad sind und auch ihr Haar mit Kränzen schmücken, sind alle ihre religiösen Skrupel verflogen. Zwei Jahrhunderte nach Poggios Besuch liessen die Schweizer in Baden immer noch die Puppen tanzen. Thomas Coryat, ein 13
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britischer Reisender und Hofnarr zu Zeiten des berühmteren Shakespeare (der keine Meinungsumfragen machte), war schockiert und verwirrt über die Bäder – was vielleicht nahelegt, dass auch 1608 eins der schlechten Jahre für die Briten war: Doch lassen wir diese Deutschen und Helvetier tun und lassen, was sie wollen und diese liederlichen Sitten pflegen, solange sie es wünschen; was mich jedoch angeht, wäre ich verheiratet und sollte hier mit meiner Frau ein wenig Zeit verbringen, um Trost und Erholung zu finden, könnte man mich kaum überreden zu dulden, dass sie nackt in ein und demselben Badkasten wie auch nur ein Junggeselle oder verheirateter Mann badet, denn wenn sie schön wäre und ein ansprechendes Gesicht hätte, könnte sie mir Hörner aufsetzen. Aber auch der Schweizer Sex hatte seine weniger spannenden Phasen. 1685 war Gilbert Burnet, der zukünftige Bischof von Salisbury, in Bern und stellte fest, dass das dritte Mal Ehebruch mit dem Tode bestraft wird, «wie auch die Hurerei, falls man sich das fünfte Mal darinnen ertappen lässt.»(3) Burnet wurde Zeuge der Hinrichtung einer Frau, die gestanden hatte, «viele Male dieses Lasters schuldig» zu sein, und er fand, bei ihrer Enthauptung sei man recht zartfühlend zu Werke gegangen: Nachdem das Urteil verlesen, fasste der Avoyer(4) die Missetäterin sacht bei der Hand und betete für ihre Seele; und nach der Hinrichtung wurde zur Belehrung des Volks eine Predigt gehalten. 3 Heutzutage haben nahezu 40 Prozent der Schweizer Erwachsenen mit mehr als zehn Partnern Sex gehabt. Würde das Berner Recht aus der Zeit nach der Reformation immer noch konsequent angewendet, wären wohl nicht mehr viele Schweizer am Leben. 4 Anm.d.Ü.: Avoyer (franz.), früher der Stadtschultheiss in Städten der französischen Schweiz. 14
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Laut Burnet waren Ehebruch und Unzucht allerdings nicht an der Tagesordnung. Ein «bedeutender Medicus» hatte ihm erzählt, dass die Frauen in Bern, auch die vornehmsten, alle Hausarbeiten selbst erledigten, weswegen […] die Arbeit, welches ihr Blut reiniget, ihnen einen sanften Schlaf bringet, sodass sie nicht Zeit vertändeln mit vielem Denken, noch wüssten, was Affären wären. Unterdessen wurde auch oben in den Alpen Unzucht missbilligt – allerdings nur bei Tageslicht. Nach Einbruch der Dunkelheit konnte es Zeit für einen Kiltgang sein. Wörtlich meint Kiltgang Spaziergang zur Zeit des Sonnenuntergangs, das Historische Lexikon der Schweiz allerdings definiert es als das «von der Sitte geregelte Werbeverhalten junger Männer, wonach sie nachts einzeln oder in Gruppen heiratsfähige Mädchen zuhause besuchten, sei es durch Einstieg in ihre Kammern oder Zusammensein in der Stube». Der Schweizer Maler Franz Niklaus König beschrieb den Kiltgang 1814 als […] eine eingewurzelte und unvertilgbare Sitte im Canton Bern. Die Jünglinge besuchen nämlich die Mädchen Nachts, bald einzeln, bald in Gesellschaft. Der Weg geht durchs Fenster; vorher aber werden Zärtlichkeitsreden gehalten, die meist drollig genug sind; und auf diese folgt eine Art Capitulation. Endlich auf dem Gade (obere Stube) angelangt, werden sie von den Mädchen mit Kirschwasser erfrischt. Alles weitere geht dann (wie man sagt) in der grössten Zucht und Ehrbarkeit zu! Ich mag das gerne glauben, obschon mir’s nicht in den Kopf will: wie ein rüstiger Aelpler zum platonisieren kommen soll? und ob er blos dafür einen rauhen Bergweg von drey bis vier Stunden, oft bey Regen 15
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und Wind, machen würde, wie es manchmal der Fall ist. Zu dem giebt es oft Symtome, die nicht weniger als platonisch aussehen und zum Glücke meistens nach der Kirche führen. Die Kirche wetterte jahrhundertelang, aber vergeblich, gegen den Kiltgang. Die Dörfler akzeptierten stillschweigend diesen Brauch – wohl auch, weil eine voreheliche Schwangerschaft am besten bewies, dass ein Paar das zuwege brachte, was für Bergbauern existenziell war, nämlich Kinder zu bekommen. 1836 publizierte Heinrich Hössli, ein bekannter Hutmacher im Kanton Glarus, Eros. Die Männerliebe der Griechen – die erste Monografie über Homosexualität in der modernen westlichen Welt. Mit seiner Argumentation, dass Homosexualität nicht als Verbrechen bestraft, als Krankheit behandelt oder als Sünde verdammt werden sollte, war er seiner Zeit weit voraus.(5) Das Who’s Who in Gay and Lesbian History sekundiert Hösslis Biograph, der Hösslis Buch «das wichtigste Werk über männliche Liebe seit Platons Symposium» nennt. War es also ein gutes Jahr für den Schweizer Sex? Ja und nein. Die Kantonsregierung verbot den Verkauf von Eros, und die meisten der noch vorhandenen Exemplare fielen 1861 beim Brand von Glarus (siehe Frage 13) den Flammen zum Opfer. Hössli selbst, einst ein gefragter Putzmacher mit untrüglichem Gespür für weibliche Mode, starb als verbitterter und verarmter Vagabund. Wie überall in Europa wuchs auch in der Schweiz Ende des 19. Jahrhunderts das Bewusstsein für sexuellen Missbrauch in der weit verbreiteten Prostitution. Verarmte Frauen, Jugendliche und sogar Sexsklaven im Kindesalter wurden von Zuhältern 5 Seit 1942, also gerade einmal gute 100 Jahre nach dem Erscheinen von Hösslis Buch, ist Homosexualität in der Schweiz legal – und schlägt damit England (1967), Deutschland (1969), Finnland (1971) und Spanien (1979), allerdings waren Vatikanstadt (!) und Italien noch eher dran (beide 1890), und Frankreich steht an der Spitze (1791). Tessin, Wallis und Waadt allerdings waren den anderen Schweizer Kantonen voraus, sie vollzogen diesen Schritt bereits 1798. 16