Stewart's Botanisches Barbuch

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Die Kl a ssiker Wir beginnen mit der Behandlung der Klassiker, also den Pflanzen, die am häufigsten zu Alkohol verarbeitet werden, und gehen dabei in genauer Reihenfolge durch das Alphabet,

von  Agave  bis  Z uckerrohr.

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A g av o i d e a e ( A g av e n g e wä c h s e )

Agave A gav e t e quil an a

Die Agave ist wohl eher für das bekannt, was sie nicht ist, als für das, was sie ist. Manche glauben, sie sei eine Art Kaktus, tatsächlich aber gehört sie zur Familie der Asparagaceae, der Spargelgewächse, und ist damit unserem Spargel und anderen ungewöhnlichen Verwandten ähnlich: der schattenliebenden Herzblattlilie, der blauen Hyazinthe und der stacheligen Wüsten-Yucca. Ein weiterer Irrtum wird kundgetan, wenn man Agaven Jahrhundertpflanzen nennt, da sie angeblich nur einmal in hundert Jahren blühen. Tatsächlich blühen sie nach acht oder zehn Jahren, aber »Jahrzehntpflanze« hört sich eben nur halb so romantisch an. Die lang erwartete Blüte jedoch ist von entscheidender Bedeutung, denn sie liefert die Ausgangsstoffe für Tequila, Mezcal und Dutzende anderer Getränke, die man aus dieser seltsamen, hitzeliebenden Saftpflanze destilliert oder fermentiert.

Pulque Das erste aus Agaven gewonnene Getränk ist Pulque, ein mildes Gärprodukt aus Aguamiel, dem Saft der Pflanze. Wir wissen aufgrund von Überresten, die man bei archäologischen Ausgrabungen entdeckt hat, dass die Agave – die in Mexiko Maguey heißt – schon vor achttausend Jahren angebaut, geröstet und gegessen wurde. Man kann davon aus­gehen, dass auch der süße Saft verköstigt wurde. Wandmalereien in der Pyramide in Cholula, die bis 200 v. Chr. zurückgehen, zeigen Pulque trinkende Menschen. Der Codex Fejérváry-Mayer, eines des wenigen präkolumbianischen Dokumente, das die Spanier nicht zerstörten, stellt Mayahuel dar, die Göttin der Agave, wie sie ihre betrunkenen Kanin20


chenkinder säugt – wahrscheinlich mit Pulque statt mit Milch. Insgesamt hatte Mayahuel vierhundert Kinder, die »Centzon Totochin«, die als Kaninchengötter des Pulque und des Rauschs bekannt sind. Der außergewöhnlichste Beleg für den frühen Ursprung des Pulque stammt von einem Botaniker namens Eric Callen, der in den 1950er Jahren mit der Analyse von Koprolithen begann, also der Unter­suchung von fossilen menschlichen Exkrementen an Aus­gra­ bungs­stätten. Seine Kollegen machten sich über die Kot­forschung lustig, doch Callen machte erstaunliche Entdeckungen zur Ernährung früh­geschichtlicher Menschen. Er behauptete, er könne »Maguey-Bier« in zweitausend Jahre altem Kotstein nachweisen, und zwar allein durch die Riechprobe an befeuchteten Probestückchen – womit entweder bewiesen ist, dass er eine sehr feine Nase besaß, oder aber, dass altes Pulque einen besonders kräftigen Duft verströmt. Zur Herstellung von Pulque wird der sich gerade erst bil­den­ de Blütenstand der Agave abgeschnitten. Die Pflanze wartet ihr gesamtes Leben auf diesen Moment und sammelt in Erwartung dieses einma­ligen Fortsatzes gut zehn Jahre lang Zucker an. Wenn man nun die Knospe abschneidet, schwillt der Stamm an, ohne weiterzuwachsen. Die Wunde wird verschlossen und darf mehrere Mo­nate ruhen, während sich der Saft bildet. Anschließend wird sie wieder angeschnitten, wodurch der Kern verrottet. Der verrottete Kern wird entfernt, und die so entstandene Vertiefung wird mehrmals ausgekratzt. Dies irritiert die Pflanze so sehr, dass sie heftig auszufließen beginnt. Sobald diese Reaktion eingetreten ist, wird der Saft täglich mit einem Gummischlauch oder, wie in alter Zeit, mit einer Acocote, einer aus einem Kürbis hergestellten Pipette, abgezogen. (Die Acocote wird meist aus dem langen, dünnen Teil des Lagenaria vulgaris gewonnen, einem Flaschen­ kürbis, aus dem auch Gefäße und Musikinstrumente gemacht werden.) 21


Eine einzige Agave kann über Monate täglich bis zu 3,5 Liter Saft produzieren und liefert insgesamt etwa 940 Liter Flüssigkeit. Das ist mehr, als die Pflanze unter normalen Umständen je enthalten würde. Irgendwann aber trocknet der Stamm aus, die Agave schrumpft und stirbt. (Agaven gehören zu den hexapanthen Pflanzen, das heißt, sie blühen nur ein Mal und sterben danach ab. Also ist die Sache nicht so tragisch, wie es vielleicht scheint.) Der Agavensaft gärt schon nach einem Tag – früher fand dies in Holzfässern oder Beuteln aus Schweine- oder Ziegenleder statt – und ist damit trinkfertig. Für gewöhnlich wird ein Teil der vorherigen Por­ tion, der »Mutter«, hinzugegeben, um den Prozess anzukurbeln. Die Fermentation tritt unter anderem deshalb so schnell ein, da die natürlich vorkommende Bakterie Zymomonas mobilis auf der Agave vorkommt – wie auch auf anderen tropischen Pflanzen, aus denen Alkohol gewonnen wird, also etwa auf Zuckerrohr, Palmen und Kakao. (Diese Bakterien sind derart eifrige Ethanolproduzenten, dass man sie inzwischen zur Herstellung von Biokraftstoff nutzt.) In anderen Brauverfahren ist die Mikrobe allerdings vollkommen unerwünscht. Sie ist der Grund für die Fehlgärung bei Most. Auch Bier kann sie verderben und verursacht dann einen unangenehmen Schwefelgeruch. Zur Umwandlung von Agavensaft in Pulque jedoch ist Zymomonas mobilis der perfekte Katalysator. Auch Saccharomyces cerevisiae, die übliche Back- bzw. Bierhefe, unterstützt die Fermentierung, genau wie das Bakte­rium Leuconostoc mesen­ teroides, das auf Gemüsen wächst und Eingelegtes und Sauerkraut fermentiert. Diese und andere Mikroorganismen sorgen für eine rasche, schaumige Fermentierung. Pulque hat einen geringen Alkoholgehalt von nur etwa vier bis fünf Volumenprozent und einen leicht säuer­lichen Geschmack, wie überreife Birnen oder Bananen – und ist damit eher etwas für Kenner. Der spanische Historiker Francisco Lopéz de Gómara schrieb im 16. Jahrhundert: »Weder tote Hunde noch Bomben können so schnell Wege freimachen wie der Geruch [von Pulque].« Gómara hätte wahrscheinlich mehr Freude an pulque curado gehabt, also Pulque, 22


das mit Kokos, Erdbeeren, Tamarinde, Pistazie oder anderen Früchten aromatisiert wird. Da keine Konservierungsstoffe beigemischt werden, wird Pulque immer frisch getrunken. Die Hefen und Bakterien sind weiter aktiv, und der Geschmack ändert sich innerhalb weniger Tage. Es gibt Pulque auch pasteurisiert in Dosen, doch dabei sterben die Mikroben ab und der Geschmack leidet. Schließlich sind es die lebenden Mikroben, die bei Pulque an Joghurt oder Bier denken lassen. Dank seines hohen Gehalts an Vitamin B, Eisen und Ascorbinsäure gilt Pulque nahezu als Gesundheitstrank. Zwar ist Bier in Mexiko seit langer Zeit das Getränk der Wahl, doch Pulque feiert sein Comeback, und das auch in Grenzstädten wie San Diego.

Mezc al und Tequil a Sämtliche populäre Literatur über Tequila und Mezcal gibt an, die Spanier hätten, als sie nach Mexiko kamen, eines stärkeren Getränks bedurft, um sich für den bevorstehenden langen und blutigen Kampf zu wappnen – und seien deshalb darauf gekommen, Pulque zu destillieren, um es in eine stärkere Spirituose zu verwandeln. In Wahrheit aber werden Tequila und Mezcal aus einer ganz anderen Agavenart gewonnen als Pulque. Auch die Ernte und die Zubereitung unterscheiden sich. Es stellt sich als sehr schwierig heraus, aus Pulque einen stär­ke­ren Alkohol zu gewinnen. Die komplexen Zuckermoleküle der Agave lösen sich während der Fermentierung nur widerstrebend auf, und die Hitzeeinwirkung während der Destillation führt zu unerwünschten chemischen Reaktionen, die einen unangenehmen Geschmack nach Schwefel und verbranntem Gummi hinterlassen. Um den Agaven­zucker zur ­Destillation zu gewinnen, benötigt man ein anderes Verfahren – eines, das schon vor der Ankunft der Spanier perfek­tioniert wurde. Archäologische Funde und unter anderem die oben erwähnte Koprolithanalyse belegen, dass die Bewohner Mexikos schon lange vor Ankunft der Spanier Agaven zubereiteten, indem sie deren Inneres garten. Tonscherben, frühe Werkzeuge, Malereien und Überreste verdauter 23


Agave bestätigen dies. Geröstete Agave ist etwas Köstliches: Man stelle sich eine vollmundigere, fleischigere Version gegrillter Artischockenherzen vor. Schon für sich genommen wäre das ein köstliches Mahl gewesen. Aber auch ein hochprozentiger Schnaps kann aus gegarten Agaven­ herzen bereitet werden. Durch das Rösten wird der Zucker anders aufgebrochen, es setzt angenehme Karamellnoten frei, die für ein kräftiges, rauchiges Getränk sorgen. Als die Spanier eintrafen, beobachteten sie, wie die Einheimischen in den Agavenfeldern tätig waren, die Pflanzen ständig im Auge behielten und sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ernteten, nämlich kurz bevor sich am Stamm eine Knospe bildete, aus der ein Blütenstiel wachsen sollte. Statt nun das Innere der Pflanze auszukratzen, um den Saftfluss anzuregen, wie es zur Herstellung von Pulque praktiziert wurde, schlug man die Agavenblätter ab und legte so eine dichte Masse frei: die sogenannte Piña, die einer Ananas oder einem  Artischockenherz ähnelt. Die Agavenherzen wurden geerntet und in Öfen geröstet, die man mit Steinen oder Ziegeln in den Boden gebaut hatte. Anschließend deckte man die Masse zu und ließ sie mehrere Tage gären.

Me zc a l , Me s c a l o de r Me s ka l? Amerikaner und Europäer bevorzugen vielleicht die Schreibweise Mescal oder auch Meskal, Mexikaner jedoch schreiben ihre Spiritu­ ose immer Mezcal, und so lautet auch die ordentliche Bezeichnung nach mexikanischem Recht.

Die Ureinwohner hatten also zweifelsfrei eine Methode zum Anbau und zur Verarbeitung der Agave ersonnen. Präkolumbianische gemauerte Vertiefungen, die zum Rösten der Pflanze dienten, sind noch heute in Mexiko und im Südwesten der USA zu sehen. Einige Archäo­logen verweisen zudem auf die Überreste einfacher Destillationsapparate, um 24


L umpe r, S pl i t t e r und H o wa r d S c o t t Ge n t r y Wahrscheinlich sind Sie noch nicht so oft mit einem Pflanzenführer durch die mexikanische Wüste gestreift, um zu versuchen, die dort wachsenden wilden Agaven zu identifizieren. Dieses Hobby bereitet bei weitem nicht so viel Vergnügen wie etwa das Beobachten von Vögeln, da viele Agaven­ Agaven­ arten fast nicht auseinanderzuhalten sind. Und die Agaven, die verschie­ verschie­ den aussehen, verdienen aus biologischer Sicht nicht unbedingt, unter­ unter­ schiedlichen Arten zuge­ordnet zu werden – es handelt sich dann einfach um verschiedene Spiel­arten. Denken wir an Tomaten: Kirschtomaten und Fleisch­tomaten sehen zwar nicht gleich aus und schmecken auch nicht gleich, aber beide gehören zur Spezies Solanum lycopersicum. lycopersicum. Ähnlich erging es den Agaven. Howard Scott Gentry (1903 – 1993) war weltweit die Autorität in Sachen Agaven. Als Pflanzenforscher des ameri­ ameri­ kanischen Landwirtschaftsministeriums sammelte er aus vierundzwanzig Ländern Exemplare der Pflanze zusammen. Er war der Ansicht, dass Taxo­ Taxo­ nomen (die manchmal Lumper oder Splitter genannt werden, je nachdem, ob sie zu viele Arten zusammenwerfen oder zu viele Varia­tionen in ver­ ver­ schiedene Arten aufspalten) im Falle der Agave zu kleine Trennungen vor­ vor­ genommen hatten. So brachte er vor, der Unterschied der A. tequilana zu anderen Arten sei so gering, dass man eigentlich nicht von einer eigenen Art sprechen könne. Er befürwortete dagegen, Agaven nach den Eigen Eigen­­ schaften ihrer Blüte zu klassifizieren – wenn dies auch bedeutete, dass Botaniker bis zu dreißig Jahre warten müssten, um ein Exemplar blühen zu sehen, das sie dann identifizieren könnten. Gentrys Kollegen Ana Valanzuela-Zapata und Gary Paul Nabhan, die seine Arbeit seit seinem Tod fortsetzen, haben dargelegt, dass mehrere Arten, darunter die A. tequilana A. tequilana,, aus rein wissenschaftlichem Blick­winkel eher einer breiter gefassten Art, nämlich der A. angustifolia untergeordnet werden sollten. Doch die beiden sehen ein, dass Geschichte, Kultur und die Verankerung von A. tequilana im mexikanischen Spiri­tuosen­gesetz diese neue Zuordnung erschweren. Manchmal triumphiert eben die Tradi­ Tradi­ tion über die Botanik – besonders in der mexika­nischen Wüste. 25


anzudeuten, dass man die Agave nicht nur zum Verzehr röstete, sondern schon vor dem europäischen Einfluss an Destillationsver­fahren ­arbeitete. Diese These wird unter Wissenschaftlern heiß diskutiert. Sicher bleibt aber, dass die Spanier eine neue Technik einführten. Viele frühe Destillationsanlagen in Mexiko sind Abwandlungen einer philippi­ nischen Erfindung: einer zauberhaft einfachen Apparatur, die komplett aus vor Ort zu findenden Materialien besteht, nämlich zum größten Teil aus Pflanzen. Nun waren es aber die Spanier, die philippinische Einflüsse nach Mexiko brachten – dank der Galeonen, die zwischen Manila und Acapulco verkehrten. Diese Handelsschiffe nutzen die günstigen Winde, um in nur vier Monaten von den Philippinen nach Acapulco zu segeln. 250 Jahre lang, von 1565 bis 1815, brachten die Schiffe Gewürze, Seide und andere Kostbarkeiten aus Asien in die Neue Welt und nahmen mexikanisches Silber, das als Währung diente, mit zurück. Die gegenseitige kulturelle Befruchtung zwischen Mexiko und den Philippinen hält bis heute an, wobei der philippinische Des­tillationsapparat nur ein Beispiel für die Verbindung der beiden Regionen ist. Die einfache Destillationsanlage bestand aus einem ausgehöhlten Baumstamm (meist ein Enterolobium cyclocarpum, ein Baum aus der Familie der Hülsenfrüchtler namens Guanacaste oder Elefantenohr) über einem in den Boden gegrabenen, mit Steinen umfassten Ofen. Die fermentierte Mixtur wurde in den Baumstamm gefüllt und zum Kochen gebracht. Am Ende des Baumstamms befand sich eine flache Kupferschale, in der sich die verdampfte Flüssigkeit sammelte wie in einem Topfdeckel. Das Destillat tropfte anschließend in eine hölzerne Rinne unter der Schale und lief durch ein Bambusrohr oder gerolltes Agavenblatt aus der Apparatur. Auch traditionelle spanische Destillen aus Kupfer fanden schon früh Anwendung. Wann auch immer die Destillation in Lateinamerika eingeführt wurde: 1621 war das Verfahren gut bekannt, und der in Jalisco tätige Priester Domingo Lázaro de Arregui schrieb, die gerösteten Agavenherzen lieferten einen wohlschmeckenden »Wein«, der nach der Destilla­ tion »klarer als Wasser und stärker als Zuckerrohrschnaps« sei. 26


In den vergangenen Jahrhunderten und beinahe bis ins letzte Jahrzehnt wurden Spirituosen auf Agavenbasis als derbe Erzeugnisse betrachtet, die man auf keinen Fall mit einem guten Scotch oder Cognac vergleichen könne. 1897 schrieb ein Reporter des Scientific American: »Der Geschmack von Mezcal wird beschrieben als eine Mischung aus Benzin, Gin und Strom. Tequila ist sogar noch schlimmer. Es heißt, er stifte zu Mord, Aufruhr und Revolution an.« Gin und Strom klingen zwar nach wunderbaren Zutaten für einen Cocktail, doch als heiße Empfehlung gemeint war dies sicher nicht. Heute jedoch fertigen Kleinbrennereien in Jalisco und Oaxaca durch eine Verbindung alter und moderner Technologien ausgesprochen milde und feine Spirituosen an. Mezcal ist im besten Fall eine hochwertige, handgemachte Spirituose, die in mexikanischen Dörfern unter Verwendung traditioneller Verfahren und einer Vielfalt wilder Agavensorten in kleinen Mengen produziert wird. Die Piñas werden zerkleinert und langsam in unterirdischen Öfen geröstet, wo sie mehrere Tage mit dem Rauch von Eichenholz, Süßhülsenbaumholz oder anderen Holzarten durchzogen werden. Anschließend werden sie mit einem steinernen Rad namens Tahona zermahlen. Das Rad dreht sich in einer runden Vertiefung und wurde einst von einem Esel angetrieben, inzwischen kommen aber moder­nere Ap-

Und wa s i s t Me s c a l in? Mezcal wird manchmal mit Mescalin verwechselt, dem hallu­­zino­genen Bestandteil des mittelamerikanischen Peyote-Kaktus ­(Lophophora ­williamsi). illiamsi ). Tatsächlich stehen die beiden Substanzen in keinerlei Ver­bindung, obwohl der Kaktus im 19. Jahrhundert als »Muscale Buttons« verkauft wurde, wodurch es zu dem linguis­­­tischen Miss­verständnis kam, das sich bis heute hält.

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paraturen zum Einsatz. (Das Tahona ähnelt übrigens erstaunlich dem Rad, das zur Apfelmostherstellung in Europa verwendet wurde. Ob folglich die Spanier das Tahona nach Mexiko gebracht haben, wird unter Archäologen und Historikern heftig diskutiert.) Sobald die gerösteten Piñas zermahlen sind, kann der Saft abgeschöpft und mit Wasser und Hefe fermentiert werden, um einen leichteren Mezcal zu gewinnen. Man kann aber auch die gesamte Maische mit den zerstoßenen Agavenstücken gären lassen, wodurch ein schwerer, rauchiger Mezcal entsteht, der Scotchfreunden gefallen könnte. In manchen Dörfern wird in traditionellen Brennereien aus Lehm und Bambus destilliert. Andere Brennereien verwenden modernere Kupferkessel, die den Apparaturen zur Whiskey- und Brandyherstellung ähneln. Viele Mezcalsorten werden zwei- oder dreimal destilliert, um den Geschmack zu optimieren. Es gibt Brennereien, die so sorgsam über den Destillationsprozess wachen, dass sie Besucher, die parfümierte Seifen verwendet haben, nicht in die Nähe der Anlage lassen, da sie befürchten, die Duftmole­küle könnten ihr Produkt verderben. Die besseren Mezcalsorten sind nach Agavenart und Herstellungsort benannt, wie bei einem guten französischen Wein. Heute darf ein Brand per Gesetz nur Mezcal heißen, wenn

K l a ss i sc h e M a r ga r ita 4,5 cl Tequila 1,5 cl frisch gepresster Limettensaft 1,5 cl Cointreau oder anderer hochwertiger Orangenlikör ein Spritzer Agavensirup oder einfacher Sirup Limettenscheibe Verwenden Sie hundertprozentigen Agave-Tequila. Ein Blanco wäre die klassische Wahl, aber experimentieren Sie ruhig mit älteren Sorten. Alle Zutaten außer der Limettenscheibe auf Eis schütteln und direkt in ein Cocktailglas oder auf Eis in einen Tumbler füllen. Mit der Limettenscheibe garnieren.

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er in Oaxaca, im Nachbarstaat Guerrero oder in den drei nördlichen Staaten Durango, San Luis Potosi oder Zacatecas gefertigt wurde. Durch eine besondere Zutat kann sich Mezcal von Whiskey oder Brandy abheben: ein totes Huhn. Pechuga ist eine besonders seltene und besonders köstliche Mezcalsorte, bei deren Herstellung wild wachsende einheimische Früchte mitdestilliert werden, um einen Hauch Süße zu erreichen. Zusätzlich aber wird die verdampfende Flüssigkeit über eine gehäutete und gewaschene Hühnerbrust gelenkt – um die Süße des Obstes auszugleichen, heißt es. Was auch immer die Absicht sein mag: es funktioniert. Verpassen Sie also nicht die Gelegenheit, Pechuga Mezcal zu kosten. Wodurch unterscheidet sich Tequila von Mezcal? Jahrhundertelang wurde die Bezeichnung »Mezcal« für alle aus gerösteten Agavenherzen gewonnenen mexikanischen Brände verwendet. Im 19. Jahrhundert dann stand Tequila für einen Mezcal, der aus der im Staat Jalisco ge­ legenen Stadt Tequila oder deren Umgebung stammte. Dieser wurde womöglich aus einer anderen Agavensorte gewonnen, aber das Verfahren blieb dasselbe. Im 20. Jahrhundert wurde aus Tequila das heute bekannte Getränk: eine Spirituose, die ausschließlich in einem bestimmten Gebiet rund um Jalisco gefertigt wird, in dem man die Agave tequilana oder auch Blaue Weber-Agave kultiviert. Sie wird auf großen Feldern an­gebaut, statt wild geerntet zu werden, und man gart und bedampft die Pflanzenteile in einem Ofen, statt sie in einer Grube zu rösten. In Tequilabrennereien sind Dampfdruckkessel mit einem Fassungsvermögen von zwanzig Tonnen inzwischen keine Seltenheit. Leider wurde die Bezeichnung Tequila auch auf Mixtos ausgeweitet – das sind Tequilas, die aus einer Mischung von Agaven- und anderen Zuckern destilliert werden, wobei bis zu 49 % des Zuckers zur Alkoholgewinnung anderen Ursprungs sein darf. Die meisten in Kneipen konsumierten Tequilas sind Mixtos. Wer einen hundertprozentigen Agave-Tequila wünscht, muss nachhaken. Doch die Anstrengung lohnt sich, und es lohnt sich auch, verschiedene Sorten zu probieren: Manche sind süß wie ein gereifter 29


Rum, andere so rauchig und holzig wie ein guter Whiskey, und wieder andere haben eine unerwartet blumige Note wie französischer Likör. Sie schmecken so, wie sie sind: Es besteht keine Notwendigkeit, einen guten, handgefertigten Tequila mit Zitronensaft und Salz zu verderben. Da Mezcal und Tequila nun ihre eigene Herkunftsbezeichnung (D. O., Denominación de Origen) haben, beanspruchen auch andere Agavenbrände ihr Gebiet. Raicilla stammt aus der Gegend um Puerto Vallarta, Bocanora aus Sonora, und Sotol, der aus der den Agaven verwandten Pflanzenart Dasylirion wheeleri hergestellt wird, aus Chi­huahua.

Schut z der Pfl anzen Da die verschiedenen Agavenbrände immer beliebter werden, stellt sich den mexikanischen Brennereien ein neues Problem: Wie lassen sich Pflanzen und Natur schützen? Viele Spirituosen, die nicht wie Tequila zubereitet werden, gewinnt man aus wilden Agaven. Manche Hersteller betrachten wilde Pflanzen als nahezu unbegrenzte Ressource – leider handelt es sich hierbei um denselben Irrtum, der zur Zerstörung der Küstenmammutbaum-Wälder und anderer wilder Pflanzenpopulationen geführt hat. Manche Agavenarten vermehren sich vegetativ und bilden Ableger, die nach der Ernte weiterwachsen könnten, doch das Ernteverfahren hindert sie daran, zu blühen. Indem man den Pflanzen die Möglichkeit zur Blüte und damit zur Fortpflanzung und Samenstreuung nimmt, wird die genetische Vielfalt stark beeinträchtigt. Selbst die Populationen der wilden Fledermäuse, welche die Agaven bestäuben, sind im Rückgang, da den Agaven eine natürliche Blüte verwehrt wird. Bei Tequila ist die Situation noch schlimmer, da dieser meist aus Pflanzen hergestellt wird, die kultiviert und nicht in der freien Natur ge­erntet wurden. Da nur eine Agavensorte, nämlich die A. tequilana, zur Verwendung kommt, ist eine Monokultur entstanden wie beim Wein in Nordkalifornien. David Suro-Piñera, Besitzer von Siembra Azul Tequi­la, tritt für Nachhaltigkeit und die Erhaltung der Tequila-Tradition ein und meint: »Wir haben die Pflanzen ausgenutzt und ihnen nicht erlaubt, sich in der Natur fortzupflanzen. Genetisch sind sie erschöpft und sehr 30


anfällig für Krankheiten. Das macht mir Sorge.« Er sieht den erhöhten Einsatz von Pestiziden, Fungiziden und Herbiziden in Zusammenhang mit der Schwächung der Pflanze. Zudem ist Wasser ein wichtiger Bestandteil von Tequila und anderen Spirituosen. Erhöhter Chemikalien­ einsatz und das Auslaugen der Böden können die Wasservorkommen verunreinigen. Es gab bereits Krankheitsausbrüche, die den angebauten Nutzpflanzen arg zugesetzt haben – ähnlich wie die katastrophale irische Kartoffelfäule oder die Phylloxera-Welle, die europäische Weinbau­flächen ­zerstörte. Der Agavenrüssler (Scyphophorus acupunctatus) überträgt Bakterien und legt Eier auf der Pflanze ab, aus denen winzige Larven schlüpfen, die das Herz der Agave fressen und sie von innen verrotten lassen. Da die Agavenrüssler im Innern der Pflanze sitzen, bleiben Insektizide meist ohne Wirkung. Um die Kulturpflanzen zu stärken und wild wachsende Agaven zu schützen, müsste man zum einen Zwischenfruchtanbau betreiben – also Agaven im Wechsel mit anderen Pflanzen anbauen –, und zum anderen wilde Wuchsgebiete und damit die genetische Vielfalt schützen, den Chemikalieneinsatz reduzieren und Maßnahmen zur Erholung der Böden ergreifen.

W ie ma n T e q uil a t r ink t Ein guter Tequila oder Mezcal sollte pur getrunken werden, in einem Tumbler, vielleicht mit einem Spritzer Wasser oder einem Eiswürfel, so wie man einen guten Whiskey genießen würde. Zitrone und Salz sind nicht vonnöten: Sie dienen allein dazu, den Geschmack minder­ minder­ wertiger Spirituosen zu übertünchen.

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W e r hat de n W e be r in die »Bl aue W e be r-Ag av e « ge s e t z t ? Wenn man einen der üblichen Tequila-Ratgeber liest (oder in den trunke­ trunke­ neren Ecken des Internets surft), wird man wahrscheinlich erfahren, dass A. tequilana nach einem deutschen Botaniker namens Franz Weber be­ be­ nannt wurde, der in den 1890er Jahren Mexiko bereist haben soll. Die bo­ bo­ tanische Literatur lehrt uns jedoch etwas anderes. Botaniker sind vielleicht nicht immer einer Meinung, wenn es darum geht, wo man eine Pflanze im Stammbaum einordnen sollte und wie man sie benennen könnte, aber in einem sind sich eigentlich immer alle einig: nämlich bei der Person, die die Pflanze zuerst benannt und beschrieben hat. Der Inter­national Plant Names Index (IPNI) ist ein globales Gemeinschafts­projekt von Botanikern, das sich zum Ziel gesetzt hat, sämtliche Pflanzen auf­zuführen, die bisher weltweit benannt wurden. Jede Pflanze wird mit ihrem wissenschaftlichen Namen aufgeführt, und in Klammern dahinter findet man die StandardAbkürzung für den Wissenschaftler, der sie zuerst beschrieben hat. Dank IPNI wissen wir, dass A. tequilana (F. A. C. Weber) zuerst von Frédéric Albert Constantin Weber beschrieben wurde, und zwar 1902 in einem Artikel für eine Pariser Fachzeitschrift. Aus dem 1903 erschie­nenen Nachruf wissen wir, dass F. A. C. Weber aus dem Elsass stammte, 1852 sei sei­­ nen Doktor der Medizin abschloss, eine Dissertation über Gehirnblutun­ Gehirnblutun­ gen veröffentlichte und sich eifrig dem französischen Militär anschloss, dem seine Fähigkeiten bestimmt dienlich waren. Er wurde nach Mexiko geschickt, als die Franzosen unter Napoleon III. mit den Briten und Spani­ Spani­ ern dort einfielen, um unbeglichene Schulden einzutreiben. Die kurze In­ In­ thronisierung des Habsburgers Maximilian I. und seine darauf­folgende standrechtliche Erschießung werden Dr. Weber nicht viel Zeit gelassen haben, sich seinem Hobby, dem Sammeln von Pflanzen, zu widmen. Den­ Den­ noch konnte er mehrere Agaven- und Kakteenarten erwerben und be­ be ­ schreiben, die er nach seiner Rückkehr nach Paris in botanischen Zeit­ Zeit­ schriften katalogisierte. Später war er Vorsitzender der Société Nationale d’Acclimatation de France, einer Naturschutzorga­nisation. Als seine Kolle­ Kolle­ 32


gen im Jahre 1900 die A. weberi nach ihm benannten, beschrieben sie sei­ sei­ nen Aufenthalt in Mexiko eingehender und bestätigten, dass er 1866/67 in offizieller Funktion dort war – und in seiner Freizeit als Pflanzensammler. Aber was ist nun mit Franz Weber? Wenn es einen deutschen Bota­ niker gab, der während der 1890er Jahre in Mexiko tätig war, dann wurde sein Name nicht einer einzigen wissenschaftlich beschriebenen Pflanze zugeordnet – und er kann jedenfalls nicht beanspruchen, A. tequilana be be­­ nannt zu haben.

F r e n c h I nte rv e nti o n Während die meisten Mezcalbrenner die Vorstellung irritiert, ihren Mezcal in einen Cocktail zu mischen, können amerikanische Bar­ keeper Experimenten nur schwer widerstehen. Tequila und Mezcal machen sich beide äußerst gut in jedem Cocktail, der Whiskey, Rye oder Bourbon verlangt. Der folgende Mix aus französischen und mexikanischen Zutaten ist nach der französischen Invasion Mexikos im Jahre 1862 benannt, die den Erstbeschreiber von A. tequilana, Dr. Weber, in das Land führte. 4,5 cl 2,2 cl

Tequila oder Mezcal reposado Lillet blanc 1 Spritzer grüner Chartreuse Grapefruitschale

Sämtliche Zutaten außer der Grapefruitschale mit Eis schütteln und in ein Cocktailglas geben. Mit der Grapefruitschale garnieren.

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K l e ine r T e q uil a- und Me zc a l-L e i t fa de n 1 0 0  % Agav e

Allein aus A. tequilana A. tequilana,, der Blauen Weber-Agave, im D. O.-Gebiet hergestellt, ohne Zucker anderen Ursprungs. Abgefüllt vom Erzeuger in Mexiko. Auch unter 100 100  % de agave, 100  100 % puro de agave und ähnlichen Bezeichnungen erhältlich. Der Mezcal muss aus ­einer der an­erkannten Agavensorten gefertigt sein, ebenfalls im D. O.-Anbaugebiet und ohne Zucker anderen Ursprungs. T eq ui la  Eine

Flasche, auf der nur »Tequila« steht, enthält einen Mixto, der aus bis zu 49 Prozent Zucker anderen Ursprungs hergestellt werden kann und unter bestimmten Bedingungen auch außerhalb des D. O.-Gebiets abgefüllt werden darf. Tun Sie sich einen Gefallen und machen Sie einen Bogen um die Mixtos. S i lv e r , b la n co o de r pl ata

Unmittelbar nach der Destilla­tion

­abgefüllt, nicht gereift. G ol d, j ov e n o d e r o ro  Nicht

gereift. Tequila darf mit Zuckercouleur, Eichenholzextrakten, Glyzerin und/oder Zuckersirup versetzt werden. Age d, r e p osa d o  Mindestens

zwei Monate in Eichenholzfässern g­ ereift.

E xt ra-ag e d, a ñ e j o  Mindestens

ein Jahr in Fässern aus dem Holz der Amerikanischen Weiß-Eiche oder der Stieleiche (»Deutsche Eiche«) gereift. Die Fässer können bis zu 600 Liter fassen. U ltra ag e d, e xtra-a ñe jo  Mindestens

drei Jahre in Eichenholzfässern (Amerikanische Weiß-Eiche oder Stieleiche) mit einem Fassungsvermögen von bis zu 600 Litern gereift.

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Au s ge wä hlt e Ag av e n und Ag av e nbr ä nde Nicht alle Agaven sind gleich. Manche liefern mehr Saft und sind besser für die Zubereitung von Pulque geeignet, während andere ein dickes, f­aseriges Herz haben, das sich besonders gut zum Rösten und Destil­lieren eignet. Manche Agavensorten kommen überhaupt nicht zum Einsatz, da sie Toxine und Saponine enthalten: Das sind schaumige, seifenartige In­ In­ haltsstoffe mit steroidalen und hormonellen ­Eigenschaften, die den Ver­ Ver­ zehr gefährlich machen. Hier einige der Arten, die – zum Teil seit Jahr­ tausenden – verwendet werden: Agava

A. tequilana (hergestellt in Südafrika) Baca n o ra A. angustifolia 1 0 0  % B lue Agav e A. tequilana (hergestellt in den USA) L ico r d e Co c uy A. cocui (hergestellt in Venezuela) M ezca l Laut Gesetz dürfen folgende Sorten verwendet werden: A. angustifolia (maguey espadin), A. asperrima (maguey de cerro, bruto o cenizo), A. weberi (maguey de mezcal), A. potatorum (Tobalá), A. salmiana (maguey verde o mezcalero). Andere Agavenarten düfen dann verwendet ­werden, wenn sie noch nicht für die Herstellung eines ande­ ande­ ren Agavenbrands eines anderen D. O.-Anbaugebiets im selben Staat ausgewiesen wurden. Ra i c i lla A. lechuguilla, A. inaequidens, A. angustifolia S oto l D. wheeleri (eine Verwandte der Agave, auch Mexico Desert Spoon genannt) T eq ui la Laut Gesetz darf nur A. tequilana, tequilana, die Blaue ­Weber-Agave, verwendet werden.

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F ür Ag av e nbie r v e r w e nde t e A g av e n Pu lq ue

A. salmiana (auch A. quiotifera A. quiotifera)), A. americana, A. weberi, A. complicate, A. gracilipes, A. melliflua, A. crassispina, A. atrovirens, A. ferox, A. mapisaga, A. hookeri

V ie c he r in F l a s c he n Wa s s o l l die La r v e im Me zc a l? Die Raupe (gusano gusano), ), die man manchmal am Boden einer Flasche Mezcal erblickt, ist die Larve des Agavenrüsslers (S. acupuctatus (S. acupuctatus)) oder der Aga­ Aga­ venmotte (Comadia (Comadia redtenbacheri) redtenbacheri) und nicht, wie vielerorts behauptet wird, von Hypota agavis, agavis, einer Motte, die sich ebenfalls von Agaven er­ er­ nährt, aber weniger Schaden anrichtet. Die Raupen werden nur als Marketing-Gag zugegeben und sind kei­ kei­ neswegs Teil des ursprünglichen Rezepts. Für gewöhnlich erkennt man an ihnen einen billigen Mezcal für anspruchslose Trinker. Hersteller von hoch­ hoch­ wertigem Mezcal haben sich erfolglos dafür eingesetzt, die Zugabe der Tierchen komplett zu verbieten, da sie ihrer Ansicht nach die gesamte Branche in Misskredit bringt. Der Wurm hat keinen offensichtlichen Ein­ Ein­ fluss auf den Geschmack des Mezcal, doch eine Studie aus dem Jahr 2010 hat gezeigt, dass die DNA der Larve im Mezcal nachzuweisen ist. Somit ist immer ein bisschen Wurm in jedem Schluck mezcal con gusano. gusano. Ein anderer unglücklicher Marketing-Gag beim Mezcal ist die Zu­gabe eines Skorpions, dem man den Giftstachel entfernt hat. Glücklicherweise verbietet der Regulierungsrat für Tequila solchen Unsinn. 36


R o s ac e a e ( R o s e n g e wäc h s e )

Apfel M al u s d o m e st i c a

Der Apfel, welcher sich am besten für Apfelwein und Apfelbrand eignet, schmeckt beim Hineinbeißen so bitter und tanninherb, dass man ihn am liebsten ausspucken möchte. Stellen Sie sich vor, Sie beißen in eine weiche grüne Walnuss, eine unreife Dattel oder eine Handvoll Bleistiftspäne, dann wissen Sie ungefähr, wie es sich anfühlt. Wie aber konnte dann jemand darauf kommen, dass man etwas Frisches und Klares wie Cidre oder etwas so Warmes und Weiches wie Calvados aus dieser Frucht bereiten kann? Die Antwort liegt in der außergewöhnlichen Genetik des Apfelbaums. Die DNA von Äpfeln ist weitaus komplexer als unsere: Eine kürzlich erfolgte Sequenzierung des Golden-Delicious-Genoms offenbarte siebenundfünfzigtausend Gene, das sind mehr als doppelt so viele als die zwanzig- bis fünfundzwanzigtausend des Menschen. Unsere genetische Vielfalt stellt sicher, dass unsere Kinder alle irgendwie einzigartig sind – sie sind nie die exakte Kopie ihrer Eltern, haben aber gewisse Ähnlichkeit mit der Familie. Äpfel hingegen sind ausgeprägt heterozygot, das heißt, sie produzieren Nachkommen, die ihren Eltern überhaupt nicht ähnlich sehen. Wenn man einen Apfelsamen einpflanzt und ein paar Jahrzehnte abwartet, wird der Baum Früchte tragen, die anders aussehen und anders schmecken als jene des Vorgängers. Tatsächlich wird sich die Frucht genetisch betrachtet von jedem anderen Apfel unterscheiden, der jemals irgendwo auf der Welt angebaut wurde. Dabei muss man bedenken, dass es Äpfel seit fünfzig bis fünfundsechzig Millionen Jahren gibt, nämlich seit dem Aussterben der Dinosaurier und dem ersten Auftauchen von Primaten. Über Millionen Jahre haben sich die Bäume ohne menschliches Einwirken fortgepflanzt 37


S e l b s t a nge b au t: Ä pf e l Volle Sonne Gelegentlich reichlich wässern Winterhart bis – 32 °C

Welche Sorte wählen?

In einer guten Baumschule gibt es eine Auswahl an Mostäpfeln, und man wird dazu beraten, welcher Baum für welches Kli­ Kli­ ma geeignet ist. Verschiedene Sorten benötigen unterschiedlich lange »Kältestunden« – die Zeiten zwischen November und Februar, in denen die Temperaturen unter 7 °C fallen –, bis sie die Keimruhe beenden und Blüten austreiben. Es ist also wichtig, den richtigen Baum für die jeweilige Witte­ Witte­ rung zu finden. Baumschulen wissen auch, ob ein Baum ein zweites Exem­ Exem­ plar zur Fremdbestäubung benötigt – was nicht bei allen Sorten der Fall ist. W u rz e l sto c k

Apfelbäume werden durch eine Wurzelunterlage ver­ ver­ edelt, die auch die Wuchsstärke, Frucht und Widerstandsfähigkeit beein beein­­ flusst. M 9 ist eine beliebte Unterlage, aus der kleine, etwa drei Meter hohe Bäume wachsen. EMLA 7 wird viereinhalb Meter hoch. Aus d ün n e n un d b e sc hne i d e n  Mostapfelbäume

tragen nur jedes zwei­ zwei­ te Jahr, wenn man sie nicht ausdünnt. Obstplantagen versprühen Chemi­ Chemi­ kalien, sobald sich ein Großteil der Apfelblüten geöffnet hat. Dadurch sterben die offenen Blüten ab und die Zahl der Früchte wird stark redu­ redu­ ziert. Hobbygärtner pflücken einfach ein paar Äpfel von jedem Trieb ab, wenn die Früchte gerade traubengroß sind. Erkundigen Sie sich bei einer Baumschule nach dem richtigen Verfahren – vielleicht werden dort auch Workshops angeboten. Pe sti z i d e  Einer

der großen Vorteile von Mostäpfeln ist ihre natürliche Resistenz gegen Schädlinge. Wenn es doch einmal zu einem Insektenbefall kommt, ist dies weniger schlimm, da die Früchte ohnehin zerstückelt ­werden. 38


und die Gene immer wieder neu kombiniert wie beim Würfelspiel. Wenn Primaten – und später dann die Menschen – einen neuen Apfelbaum sahen und in eine seiner Früchte bissen, wussten sie nie, was sie erwartete. Zum Glück haben unsere Vorfahren herausgefunden, dass man auch aus schlechten Äpfeln einen guten Wein machen kann.

Cidre, Cider, Apfelwein Griechen und Römer waren Meister in der Kunst der Apfelweinherstellung. Als die Römer um 55 v. Chr. nach England kamen, kannte und genoss man dort bereits Apfelwein. Zu der Zeit waren Apfelbäume schon seit langem aus den kasachischen Wäldern übergesiedelt und in Europa und Asien fest verankert. In England, Frankreich und Spanien wurde das Keltern und Destillieren von Äpfeln perfektioniert. Zeugen dieser frühen Kunst findet man noch heute in der europäischen Landschaft, wo die großen runden Mahlsteine zum Zerkleinern des Obstes gelegentlich halb vergraben auf Feldern liegen. Da die ersten Obstgärten aus Sämlingen wuchsen – und damit ein Mischmasch aus neuen, nie da gewesenen Äpfeln entstand –, wurden für den frühen Apfelmost wahrscheinlich alle Früchte des Gartens genommen, die nicht süß genug waren. Eine beliebte Apfelsorte ließ sich nur reproduzieren, indem man sie veredelte, also einen ihrer Triebe auf die Wurzel eines anderen Baumes propfte. Dieses Verfahren wird seit 50 v. Chr. angewandt. Durch das Veredeln stellten Apfelbauern Klone der beliebtesten Sorten her, die irgendwann auch Namen bekamen.  Im späten 16. Jahrhundert gab es in der Normandie mindestens 56 benannte Apfelsorten. Jahrhundertelang kamen die besten Äpfel zu Cidre­ herstellung aus dieser Gegend – ausgewählt aufgrund ihres ausgeglichenen Gehalts an Säure, Gerbstoffen (Tannin), Aroma und Süße. In Amerika ging es mit dem genetischen Zufallsspiel weiter, und zwar mit einem Mann namens John Chapman alias Johnny Appleseed, der Anfang des 19. Jahrhunderts entlang der »Frontier«, also am Rande des besiedelten Gebiets, Apfelgärten anlegte. Er empfand es als Frevel, einen Baum zu veredeln, und pflanzte deshalb ausschließlich Sämlinge, 39


A lt e S o r t e n e r ha lt e n Es ist gar nicht so einfach, die weltweit besten Mostapfelsorten zu be­ be­ wahren. Während des Zweiten Weltkriegs verlief die Front zwischen den Deutschen und den Alliierten ausgerechnet durch die Apfelgärten der berühmten Baumschule von Simon-Louis-Frères in Metz. Bei der Schlacht um Kursk (1943) wurde eine gedeihliche Baumschule und Obstplantage im Süden Moskaus zerstört. Heute setzen sich Pomologen überall auf der Welt dafür ein, alte Apfelsorten zu katalogisieren und zu erhalten.

Ap f e lb ow le Im Mittelalter bereitete man sich ein einfaches fermentiertes ­Getränk, indem man Äpfel und andere Früchte in Wasser gären ließ. Hier handelt es sich um eine etwas feinere Version, die so leicht ist, dass man sie getrost einen ganzen Sommernachmittag ­hindurch trinken kann. 2 Teile Apfelwein Äpfel, Orangen, Melonen oder anderes saisonales Obst in Scheiben gefrorene Himbeeren, Erdbeeren oder Weintrauben 1 Teil Ingwerbier oder Ingwerlimonade (ohne Alkohol) Apfelwein und Obstscheiben in einen großen Krug geben und drei bis sechs Stunden ziehen lassen. Anschließend die Obststücke ­abseihen. Highballgläser mit Eis und gefrorenen Beeren füllen, zu drei Viertel mit Apfelwein aufgießen und nach Geschmack mit ­Ingwerbier abrunden.

wie von der Natur vorgesehen. So kam es, dass die ersten Siedler allein in Amerika vorkommende Äpfel anbauten und zu Most verarbeiteten. Die englischen und französischen Zuchtsorten von der anderen Seite des Atlantiks kannten sie nicht. Historiker verweisen zu gerne auf Statistiken zum Apfelmostkonsum vor dem 20.  Jahrhundert, um zu beweisen, was für Säufer unsere 40


Vorfahren waren. In Gegenden mit Apfelanbau trank man täglich gut einen halben Liter. Doch es gab wenig Alternativen. Wasser konnte man nicht bedenkenlos konsumieren: Es enthielt Erreger von Cholera, Typhus, Ruhr, E. coli und eine Menge anderer unangenehmer Parasiten und Krankheiten, die man damals noch nicht alle kannte. Ein leicht alkoholisches Getränk wie Apfelmost war für Bakterien unwirtlich, es konnte über einen kürzeren Zeitraum gelagert werden und stellte so ein unbedenkliches, wohlschmeckendes Getränk dar, das man schon zum Frühstück genoss. Alle tranken es, sogar Kinder. Apfelmost hatte schon immer einen geringen Alkoholgehalt, da Äpfel relativ wenig Zucker enthalten. Selbst die süßesten Äpfel enthalten viel weniger Zucker als beispielsweise Trauben. In einem Bottich Apfelmost baut die Hefe allen vorhandenen Zucker ab und verwandelt ihn in Alkohol und Kohlendioxid. Wenn aber aller Zucker verbraucht ist, stirbt die Hefe wegen Nahrungsmangel ab und lässt einen fermentierten Apfel­ most zurück, der nur vier bis sechs Prozent Alkohol enthält. Heute fügen manche Apfelweinhersteller nach dem Abfüllen eine zweite Runde Zucker und Hefe hinzu, wodurch das Kohlendioxid in der Flasche verbleibt und wie beim Sekt perlend aufsteigt. Auf der anderen Seite des Spektrums gibt es industriell gefertigte Apfelweine, die nicht-

A pf e l s o r t e n f ür die Mo s t he r s t e l l ung S üS S  Wenig

Tannin, wenig Säure (Golden Delicious, Binet Rouge,

Wickson) Säue r li c h  Wenig

Tannin, viel Säure (Granny Smith, Brown’s, Harvey)

Säue r li c h -h e rb

Viel Tannin, viel Säure (Kingston Black, Stoke Red, Foxwhelp) S üS S - h e r b

Viel Tannin, wenig Säure (Royal Jersey, Dabinett, Muscadet de Dieppe) 41


gärende Süßstoffe wie Saccharin oder Aspartam enthalten, um dem Most die Süße zu geben, die der Massenmarkt verlangt.

Apfelbr ände: Ca l v a d o s u n d A p p l e j a c k Äpfel haben noch mehr zu bieten als Cidre & Co. 1955 schrieb der Franzose Gilles de Gouberville in sein Tagebuch, ein Besucher habe ihn darauf gebracht, einen klaren, hochprozentigen Schnaps aus Apfelmost zu brennen. Nach abgeschlossener Gärung, erklärte er, könne man den Most erhitzen, bis der Alkohol mit dem Dampf aufsteigt und sich in einem Kupferbehältnis sammelt, aus dem man ihn abschöpfen und in Flaschen füllen könne. Wenn man das Destillat im Anschluss eine Zeit in Eichenfässern lagere, würde die Qualität sogar noch verbessert. Anfangs wird man es wahrscheinlich Eau de vie de cidre genannt haben, da Eau de vie ursprünglich der Oberbegriff für sämtliche destillierte Spirituosen war. Bald aber sprach man nur noch von Calvados, nach der gleichnamigen Herkunftsregion in der Normandie.

A pf e l s pir i t u o s e n Apf e lb ra n d

Allgemeiner Begriff für Schnäpse aus fermentiertem Apfelsaft oder Apfelmaische, abgefüllt mit mindestens 40% vol., meist in Eichenfässern gereift. Apple jac k   Apfelbrand aus den USA. »Blended Applejack« enthält mindestens 20 Prozent Apfelbrand, der Rest ist Neutralalkohol. Ap f e lli kö r  Ein süßer Aperitif mit etwa 20% vol., der auf unter­ unter­ schiedliche Weise hergestellt wird. Eine Methode ist, Apfelbrand zu gärendem Apfelmost zu geben, bevor die Hefe den gesamten Zucker aufgebraucht hat. Der höhere Alkoholgehalt lässt die Hefe absterben, stoppt die Gärung, und heraus kommt ein süßes Getränk mit frischem Apfelgeschmack, ähnlich einem Dessertwein. Apfelliköre können vor dem Abfüllen in Eichenfässern reifen. 42


Apf e lw e i n

Fruchtwein, der aus einer Mischung verschiedener ­ Äpfel gekeltert und vergoren wird. Der natürliche Alkoholgehalt liegt bei 5 bis 7% vol. Ca lva d os   Apfelbrand aus der Normandie, hergestellt aus Äpfeln aus speziellen Anbaugebieten, mit mindestens 20 Prozent heimischen Sorten, mindestens 70 Prozent herben bis süß-herben Sorten und nicht mehr als 15 Prozent sauren Sorten. Calvados wird mit mindes­ mindes­ tens 40% vol. abgefüllt. Ca lva d os D o m f ro nta i s   Apfelbrand, dessen Herstellungsprozess den Regeln für Calvados folgt, aber mindestens zu 30 Prozent aus B ­ irnen gemacht ist. Er wird einfach in einem Kolonnenapparat ­gebrannt und reift mindestens drei Jahre in Eichenfässern. Ca lva d os Pays d’Au ge   Spezifisch für die Region Pays d’Auge. Folgt den Regeln der Herstellung von Calvados, wird in traditionellen Kupferkesseln doppelt destilliert und reift mindestens zwei Jahre in Eichenfässern. E au d e v i e   Klarer Obstbrand, der nicht in Eichenfässern reift und mit 40% vol. oder mehr abgefüllt wird. Das Obstäquivalent zu White Whiskey. P o m m e au  Wohlschmeckende Mischung aus frisch gepresstem Apfel­ Apfel­ saft und jungem Calvados, mit einem Alkoholgehalt von 16–18% vol.

Die Amerikaner machten sich schnell daran, ihren eigenen Calvados zu brennen. Die Laird & Company Distillery in New Jersey ist stolzer Besitzer von License No. 1: der ersten, 1780 ausgestellten Brennerei-Lizenz der Vereinigten Staaten. Laut der Familienchronik kam Alexander Laird 1698 aus Schottland nach Amerika und begann dort Äpfel anzubauen, aus denen er für Nachbarn und Freunde Apfelbrand bereitete. Als Robert Laird unter George Washingtons Befehl in den Krieg zog, schickte die Familie den Truppen eine Ladung Applejack. Es heißt, Wa­ sh­ington habe dieser so gut geschmeckt, dass er um das Rezept bat und 43


auf seinem Landsitz eine Applejack-Produktion starten wollte, doch es gibt keinerlei Belege für eine Brennerei auf Mount Vernon (wo das Familiengut lag). Apfelmost dagegen wurde für Washingtons Familie, Belegschaft und Sklaven regelmäßig hergestellt. Amerikanische Siedler, die sich keine kupfernen Destillations­ apparate bauen konnten, versuchten es mit einer anderen Methode. Sie ließen einfach ein Fass Apfelmost im Winter draußen stehen, wodurch das Wasser gefror und der noch flüssige Alkohol abgeschöpft werden konnte. Die Gefrierdestillation war gefährlich: Da es keine Möglichkeit gab, die konzentrierten giftigen Bestandteile herauszufiltern, die bei der Destillation normalerweise abgetrennt werden, verblieben Giftstoffe im Alkohol, die Lebervergiftungen und Blindheit hervorrufen können. Dies mag zum unverdient schlechten Ruf von Applejack beigetragen haben, doch zum Glück setzten sich bessere Destillationsverfahren durch. Aus Äpfeln lässt sich hervorragendes Eau de vie machen. Statt gegorenen Apfelsaft zu destillieren, werden hier ganze Äpfel zu Maische verarbeitet, vergoren und zu einem hochprozentigen, klaren Alkohol destilliert. Nach Ansicht des Pomologen Ian Merwin von der Cornell University entsteht durch die Verwendung ganzer zermahlener Äpfel viel mehr Aroma. »Ein gutes Eau de vie aus Maische schmeckt viel mehr nach Apfel als ein Calvados«, meint er. Zudem komme ein ausgeklügelter Kolonnenapparat zum Einsatz, mit dem Aromen feiner zurückbehalten werden könnten. Calvados muss laut Gesetz in altmodischeren Destillierhelmen (Alambic) gebrannt werden – ein traditionelles, aber auch gröberes Verfahren. Eau de vie werden nicht in Fässern gelagert, daher stammt der Geschmack allein aus der Frucht, nicht von der Eiche. »Beim Calvados«, erklärt Merwin, »nimmt man im Grunde nur aus Äpfeln gewonnenes Ethanol, das ein Lösemittel ist, und gibt dieses in Eichenfässer, um deren Aroma zu gewinnen – an und für sich eine feine Sache. Aber es bleibt nicht so viel Apfelgeschmack übrig, wenn es dann aus den Fässern herauskommt.«

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Das sollte man keinem Calvados-Liebhaber unter die Nase reiben. Ein schön gereifter Calvados hat eine ganz bestimmte goldene, sonnengereifte Qualität, die nur von Äpfeln stammen kann. Am besten trinkt man ihn unverdünnt vor oder nach dem Essen, oder auch mittendrin: In der Normandie nennt man das Glas Calvados auch trou normand, für das Loch im Magen, das Platz für den nächsten Gang schafft.

Die Waw il o w-A f fä r e Der russische Botaniker Nikolai Iwanowitsch Wawilow tat alles, um die wilden Vorfahren der Apfelbäume zu erhalten. Anfang des 20. Jahrhunderts bereiste er die Welt, um den geografischen Ur­ Ur­ sprung wichtiger Nutzpflanzen wie Äpfel, Weizen, Mais und anderer Getreide zu identifizieren. Wawilow sammelte Hunderttausende Pflanzensamen, um ein Saatgutarchiv anzulegen und die genetische Forschung voranzubringen. Sein Ziel war es, den Ernteertrag der rus­ rus­ sischen Bauern zu verbessern. Doch Josef Stalin betrachtete ihn als Staatsfeind. Stalin hatte ziemlich seltsame Ansichten zu Vererbung: Er glaubte, das Verhalten eines Menschen könne seine genetische Veranlagung verändern. Damit würden im Laufe des Lebens antrai antrai­­ nierte Gewohnheiten über die DNA weitergegeben. Wissenschaftler, die dieser These widersprachen, wanderten dafür in Gefängnis. Wawilow wurde 1940 aufgrund seiner Ansichten verhaftet. Er verbrachte seine letzten Tage da­ da­ mit, anderen Gefangenen Vorträge über Gene­ Gene­ tik zu halten – manche von ihnen werden sich bestimmt gewünscht haben, Stalin hätte Schlosser oder Dynamitexperten ver­ ver­ haften lassen anstatt Botaniker.

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Vav i lov A f fa i r Diese Abwandlung eines Klassikers wird mit gleichen Teilen ­Applejack und Bourbon gemixt und kombiniert so zu Ehren ­Wawilows Ä ­ pfel, Mais und Korn. 2 cl 2 cl

1 Stück Würfelzucker 2 Spritzer Angosturabitter Applejack Bourbon 2 Scheiben saurer Apfel, zum Beispiel Granny Smith oder Fuji

Den Würfelzucker in einen Tumbler geben. Den Bitter und ein paar Tropfen Wasser auf den Würfelzucker geben und diesen zerstoßen. Eis, Applejack und Bourbon hinzugeben und gut verrühren. Eine ­Apfelscheibe mit der Zitronenpresse auspressen und den Saft obenauf gießen. Die zweite Scheibe wird zum Garnieren verwendet.

(Eine Liebesgeschichte)

Hefe S a c ch ar o my c et al e s s pp. Der älteste domestizierte lebende Organismus ist nicht etwa das Pferd oder das Huhn, und auch kein Mais oder Weizen. Es ist ein wildes, einzel­ einzel­ liges, asexuelles Lebewesen, das Lebensmittel haltbar macht, Brot aufge­ aufge­ hen lässt und Bier zum Gären bringt. Hefe ist überall. Sie schwebt durch die Luft, sie lebt auf uns und in uns, sie legt sich auf die Haut von Früchten, weil sie hofft, an ein bisschen Zucker zu gelangen. Nach wilder Hefe braucht man nicht zu jagen – man stelle eine Schüssel mit Mehl und Wasser in die Küche, und die Hefe wird sie finden. Doch einige besondere Hefearten – besonders die der Gattung Saccharomyces – fermentieren so eifrig, dass die Menschen gelernt haben, 46


sie am Leben zu halten, in großen Mengen zu züchten und sie schließlich an Brauereien und Brennereien zu verkaufen. Überall auf der Welt gibt es Labore, die Hefestämme hegen und pflegen. Winzer, Brauer und Brenner zögern oftmals, ihre Anlagen zu erneuern, da sie befürchten, die dort an­ an­ gesiedelte Hefe zu zerstören, die doch ihrem Produkt seine besondere Eigenschaft verleiht. Untersuchungen von identischen Chargen Apfelwein haben ergeben, dass ein einzelner Hefestamm sich radikal auf den Ge­ Ge­ schmack auswirken kann, indem er dem Gärprodukt spezielle fruchtige und florale Aromen verleiht. Die Fermentation ist ein wunderbar einfacher Vorgang: Hefe frisst Zucker. Dabei entstehen zwei Abfallprodukte, nämlich Ethylalkohol und Kohlendioxid. Wenn wir ehrlich wären, würden wir zugeben, dass ein Spi­ Spi­ rituosenhandel im Grunde nichts anderes verkauft als den chemischen Abfall von Millionen domestizierter Hefeorganismen, gefüllt in hübsche Flaschen mit netten Etiketten. Aber verglichen mit anderem Abfall sind diese Produkte der Hefe außerordentlich nützlich. Nehmen wir zuerst das Kohlendioxid. Wenn die Fermentation in einem Bottich stattfindet, entweicht das Kohlendioxid. Bierbrauer lassen etwas davon zurück, damit der Gerstensaft schäumt. Auch wird zuweilen etwas Kohlendioxid beim Abfüllen in die Flaschen zu­ zu­ rückgegeben. Bei Sekt, Crémant oder Champagner stammt das Kohlendi­ Kohlendi­ oxid aus zweiter Gärung: Dem vergorenen Jungwein wird Zucker und Hefe beigefügt, wodurch die verkorkten Flaschen unter Druck stehen und der Wein perlt. (Bäcker und Brauer haben einiges gemeinsam: Kohlendioxid sorgt dafür, dass der Brotteig aufgeht.) Was ist aber mit dem anderen Abfallprodukt, dem Ethylalkohol? Wir sprechen hier von reinem Alkohol oder Ethanol. Aus diesem lässt sich ein netter Drink basteln – der aber den Hefen selbst nicht bekommt. Sie gra­ gra­ ben sich durch den abgegebenen Alkohol ihr eigenes Grab, denn bei hoher Konzentration des eigenen Abfallprodukts können sie nicht überleben. Wenn der Alkoholgehalt über 15 Prozent steigt, stirbt die Hefe ab. Das erklärt, warum vor der Erfindung der Destillation niemand ein stärkeres Getränk als Bier oder Wein gekannt hat. 47


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