Christina Bacher & Ulrich Noller: Bolle und die Bolzplatzbande. Die Casting-Falle

Page 1

ande latzb p z l o B le nd die asting-Fal u e l l C Bo 5: Die Band

Bolle5_Umbruch.ind4 1

19.01.11 10:37


Bolle5_Umbruch.ind4 2

19.01.11 10:37


CHRISTINA BACHER & ULRICH NOLLER

ande b z t a olzpl g-Falle B e i und d ie Castin e l l o B 5: D Band

Illustriert von Birgit Jansen

Bloomsbury Kinderb端cher & Jugendb端cher

Bolle5_Umbruch.ind4 3

19.01.11 10:37


© 2011 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin | Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher | Alle Rechte vorbehalten | Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Illustration von © Birgit Jansen | Gesetzt aus der Stempel Garamond und der Air Mail durch psb, Berlin | Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck | Printed in Germany | ISBN 978-3-8270-5460-9 | www.berlinverlage.de

Bolle5_Umbruch.ind4 4

19.01.11 10:37


Mittwoch, 20. Oktober,

7.45 Uhr, Erich-Kästner-Str. 17, bei Familie Pauli Wunderschöne leuchtende Augen – das ist immer gut. Scheinwerfer, die alles überstrahlen. Große glänzende Blüten, betont durch einen Lidstrich. Zum Versinken! Wichtig: Die feine schwarze Linie rund ums Auge, die nicht verrutschen darf. Sonst war’s das mit der tollen Wirkung, und man sieht aus wie ein trauriger Clown. Oder ganz einfach wie jemand, der nicht dazu in der Lage ist, sich auch nur ein klein wenig schön zu machen. Was ja wohl das Mindeste ist … Die Wimpern tuscht sie ganz zum Schluss, sie werden länger und dichter als sonst. Klick, klick – Wimpernklimpern. Einmal, zweimal – der Spiegel leuchtet fast. Ja, das funktioniert. Laura findet das schön, denn jetzt leuchten ihre Augen noch blauer als sonst. Schwarze Wimperntusche im Kontrast zum Blau. Augen wie Scheinwerfer hat er gestern zu Laura gesagt. Tarik aus der 7a hat manchmal wirklich nette Bemerkungen drauf, ganz unvermittelt. Speziell dann,

5

Bolle5_Umbruch.ind4 5

19.01.11 10:37


wenn man gerade gar nicht damit rechnet. Er selbst ist ein ganz normaler Typ: schlank, zurückhaltend, eher unauffällig. Zumindest, solange er schweigt. Wenn er redet, kommt er einem plötzlich vor wie ein ganz anderer. Denn Tarik hat eine ziemlich abgefahrene Stimme. Spricht er, hören automatisch alle zu. Und wenn er singt, ist man manchmal sogar zu Tränen gerührt. Weshalb Tarik aus seiner Klasse auch fürs Casting ausgewählt wurde. Mit einem kleinen Schwämmchen tupft Laura noch zwei Farben aufs Lid: hell- und weiter außen dunkelgrün. Perfekt. Klick, klick. Ein bisschen übertrieben, jetzt noch die Lippen anzumalen, oder? Ach was, heute ist alles erlaubt. Rosa Lippenstift zu dem rosa Minirock, eine Leggings in Lila drunter. Dazu Chucks, klar.

6

Bolle5_Umbruch.ind4 6

19.01.11 10:37


Oder doch die Schuhe von Mama, deren Absätze höher sind als die Bordsteinkante? Hm. Würde sicher cool aussehen. Aber zum Bewegen sind die Dinger nicht so gut geeignet, zumindest nicht zum ausgelassenen Tanzen. Große, schöne, strahlende Laura. Klick, klick. Ja, das passt. Nicht so brav wie sonst. Das wird den anderen, das wird auch Tarik sicher gut gefallen. Wer wagt, gewinnt! »Sag mal! Wie siehst du denn aus!?« Im Badspiegel ist ein Gesicht aufgetaucht. Laura sieht schon am Blick ihrer Mutter, die in der Tür steht, dass etwas nicht stimmt. Dieser Blick drückt ganz Verschiedenes zugleich aus: zunächst Erstaunen und Verwundern. Gleich danach: Entsetzen. Und schließlich Ärger – und Wut. Bedächtig schüttelt sie den

7

Bolle5_Umbruch.ind4 7

19.01.11 10:37


Kopf. Als wollte sie sagen: Also, das geht nun wirklich überhaupt nicht! Angriff ist die beste Verteidigung, denkt Laura. Sie muss etwas sagen, und zwar schnell, sonst wird sie überhaupt nicht mehr zu Wort kommen; wird untergehen in dem Schwall aus Geschimpfe, der sie dann erwartet. »Heute ist das Casting, Mama. Da darf ich das!« »Wer sagt das?« Die Wangen ihrer Mutter röten sich. Ein schlechtes Zeichen. Gleich wird es losgehen, wird die erste Welle anrollen. Der Verteidigungsangriff hat nichts genutzt. »Na, ich. Das muss sein!« Ein skeptischer Blick. Er wandert von oben nach unten und wieder von unten nach oben. Auf dem Rückweg wandelt er sich. Aus Skepsis wird Ablehnung. Gemischt mit Verachtung. »Wie meinst du das, das muss sein? Nichts muss sein! Du siehst auch ohne Schminke und knallbunte Klamotten toll aus. Du brauchst das nicht!« Schon klar, das hast du mir schon hundertmal gesagt. Und ich kann’s nicht mehr hören, denkt Laura. Warum kapierst du nicht endlich, dass ich anders bin? Ich bin nicht du in Klein! Lauras innere Stimme ist laut geworden, in ihrem Kopf kreischt es. Aber sie bleibt ganz ruhig. Nur so wird sie ihre Mutter überzeugen, wird sie gegenhalten können. Und das muss sie. Also, tief durchatmen, nächster Versuch.

8

Bolle5_Umbruch.ind4 8

19.01.11 10:37


»Doch, Mama. Ich brauche das! Außerdem laufen die anderen genauso rum. Verglichen mit Karla oder Janine sehe ich sogar total brav aus …« »Das sehe ich anders! Und du brauchst mir auch nicht mit irgendwelchen Vergleichen zu kommen. Nicht, wie irgendjemand aussieht oder sich herausputzt, zählt. Es ist wichtig, dass man selbst einschätzen kann, was gut ist und was nicht. Und wenn Kinder dazu nicht in der Lage sind, dann müssen ihre Eltern das entscheiden!« Die Mutter wirkt, als würde sie gleich platzen. Laura könnte verzweifeln. Diese Diskussion haben sie schon Dutzende Male geführt. Immer mit denselben Argumenten. Und immer mit einem Streit am Ende. Ohne Einigung. Sie muss sich beherrschen, sie muss ihre Argumente für sich behalten. Sie darf sich keinesfalls auf eine Diskussion einlassen. Sonst kann sie den Tag und vor allem ihr Outfit knicken. »Hör mir doch mal zu, Mama! Bitte! Das ist wichtig, heute! Total wichtig! Weil unsere Klasse mit dem Schülerband-Casting dran ist. Da muss man besonders cool aussehen, da braucht man Bühnenkleider. Ich will schließlich gewinnen!« Jetzt geht’s wieder los, denkt sie, denn in letzter Zeit haben viele Streitgespräche mit ihrer Mutter genauso angefangen. Schließlich kann Mama ebenso schrill und laut werden wie sie selbst. Mindestens. Aber es kommt – nichts, außer Schweigen und Stille.

9

Bolle5_Umbruch.ind4 9

19.01.11 10:37


Als Laura vom Badewannenrand wieder in den Spiegel guckt, ist ihre Mutter nicht mehr zu sehen. »Mama? Maaaaaaaaama!?« Keine Reaktion. Und jetzt ist Laura verärgert. Wohin ist Mama denn jetzt schon wieder verschwunden? Eben noch textet sie mich zu, denkt Laura, und jetzt kann ich sie wieder mal im ganzen Haus suchen. Die hat kein bisschen Interesse an dem, was für mich wichtig ist! Noch nicht mal, wenn sie eigentlich schimpfen würde. Und das alles bloß wegen Systra, diesem schreienden, brustsaugenden und nixpeilenden Kleinstlebewesen! Wäre bloß dieses Minimonster niemals bei uns erschienen! Prompt ertönt ein Babyschreien und ein lauter Furz – Systra! Laura bekommt ein schlechtes Gewissen: Sie liebt ihre kleine Schwester Systra über alles. Und sie könnte sich ein Leben ohne sie überhaupt nicht mehr vorstellen. Und schließlich kann die Kleine ja nichts dafür, dass sie seit ihrer Geburt Blähungen hat. Trotzdem: Seitdem die Kleine da ist, wird sie selbst vernachlässigt. Auch große Kinder brauchen Mütter, zum Beispiel bei der Stilberatung. Aber da kommt – einfach nichts. Nichts außer Motzen, Ablehnung und Unverständnis. Und selbst das bringt ihre Mutter noch nicht einmal zu Ende, weil sie kurz vorher schon wieder mit Wickeln oder Stillen beschäftigt ist. Laura seufzt und wirft noch mal einen letzten Blick in den Spiegel. In diesem Moment vermisst sie ihren Vater sehr, der nun schon zehn Tage mit seiner Achten auf

10

Bolle5_Umbruch.ind4 10

19.01.11 10:37


Klassenfahrt ist. Der Oberstudienrat Carlo Pauli hat früher selbst mal in einer Band gespielt. Häufig hat er seiner Tochter von den legendären Black Cars vorgeschwärmt. Deshalb würde Papa verstehen, wie wichtig für Laura das Casting ist. Doch er ist jetzt eben nicht hier. Noch viermal schlafen, denkt Laura, dann kommt er wieder nach Hause. Klick, klick. Klick, klick. Nein, an diesem Outfit wird nichts mehr geändert. Alles bestens. Basta! »Na dann, drücken wir mir mal die Daumen!«, murmelt sie, als sie das Haus unbemerkt verlässt, und zwar in voller Casting-Montur. Mit Minirock und Kriegsbemalung. Sie redet sich Mut zu, richtig wohl ist ihr aber nicht dabei. Ein Hauch von schlechtem Gewissen schleicht durch ihre Gedanken. Ihre Scheinwerfer-Augen leuchten nicht ganz so hell wie letztens bei Tarik. Und das komische Gefühl hat sich auch wieder in ihr Herz geschlichen. Irgendwie unheilvoll: Eine Vorahnung – als würde an diesem Tag etwas richtig Schreckliches passieren …

10.45 Uhr, Gesamtschule Agnesstein, auf dem Schulhof An Unterricht war heute Morgen nicht zu denken. Auf Englisch konnte sich Laura in der ersten Stunde ebenso wenig konzentrieren wie auf Mathe in der darauf folgenden Doppelstunde.

11

Bolle5_Umbruch.ind4 11

19.01.11 10:37


Sie ist jetzt doch ziemlich aufgeregt. Mehr, als sie das erwartet hat. So ein Casting ist eben doch kein Kinderspiel. Da geht es um was, nämlich ums Weiterkommen. Und dafür, denkt Laura, müssen auch einmal die Freunde zurückstehen, zumindest für einen halben Tag. In der Pause ist sie nämlich allein über den Schulhof getrottet, hat sich auf ihren Auftritt konzentriert, ist in Gedanken den Text noch mal durchgegangen und ihre Choreografie. Na ja, Choreografie konnte man das eigentlich nicht nennen. Sie hatte ja keine perfekte Show vorbereitet, bei der jeder Schritt genau geplant war. Aber ein paar Tanzschritte müssen schon sein. Und um die richtig hinzubekommen, brauchte sie Konzentration. Auch wenn Wladi, Sema und Kevin sie ziemlich irritiert anguckten. »Alles okay bei dir?« Sema guckt ziemlich besorgt. Beim Gang zurück in die Schule hat sie sich neben Laura platziert und ihr sogar eine Hand auf die Schulter gelegt. »Ja, lass mal, alles bestens …« So nett Laura es findet, aber sie kann jetzt niemanden brauchen. Doch Sema lässt sich nicht abschütteln. »Ich dachte nur … du hast vorhin so traurig ausgesehen … War wieder was mit deinen Eltern?« »Nö, alles okay. Was meinst du denn mit traurig?« Traurig auszusehen, das kann Laura jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Wer gewinnen will, muss gut

12

Bolle5_Umbruch.ind4 12

19.01.11 10:37


drauf sein. Muss fröhlich und selbstbewusst wirken. Positiv. Bloß nicht irgendwie Trübsal blasen. Das weiß jeder, der mal ein paar Castingshows im Fernsehen verfolgt hat. Laura lächelt Sema an. Aber die bleibt dabei. »Weiß nicht. Du hast irgendwie so – schattig gewirkt. Als ob etwas Dunkles über deinem Gesicht liegen würde …« »Nö, wirklich nicht. Lass mal. Ich hatte heute Morgen ein bisschen Stress mit meiner Mutter, aber das war halb so wild. Bin heut einfach nicht so gesprächig. Lass uns einfach diesen Casting-Kram hinter uns bringen, dann wird’s schon wieder. Ist halt irgendwie ein komischer Tag heute …« Sema schaut ihr immer noch fragend ins Gesicht. Sie lässt sich nicht täuschen. »Ist es deswegen? Wegen des Wettbewerbs? Vielleicht, weil Kevin auch mitmacht?« »Na, deswegen garantiert nicht …«, sagt Laura patzig. »Aber?« »Kein aber. Es stört mich nicht, dass Kevin sich bewirbt. Ist sein gutes Recht. Und wenn ich es einem gönne, dass er weiterkommt, dann ihm. Er ist immerhin einer meiner besten Freunde …« »Aber?« Sema ist ganz schön hartnäckig. Die Freundinnen reden sonst eigentlich über alles, haben keine Geheimnisse voreinander. »Nichts aber … Ich möchte meine Ruhe haben.

13

Bolle5_Umbruch.ind4 13

19.01.11 10:37


Okay? Sei mir nicht böse. Hat wirklich nichts mit euch zu tun …« Sema zögert kurz. Dann nickt sie, streicht Laura mit der Hand sachte über die Schulter, wendet sich ab in Richtung Toilette. Laura trottet zunächst weiter, macht aber schon nach ein paar Sekunden halt auf einem Treppenabsatz. Was, fragt sie sich, wenn Sema recht hat? Was, wenn ausgerechnet Kevin, ihr Freund, besser sein wird als sie? Ob das so gut wäre für ihre Freundschaft und für die Bolzplatzbande? Immerhin haben Sema, Wladi, Kevin und sie als Detektive schon vier verzwickte Fälle zusammen gelöst. Im letzten April haben sie einer Bande von Fahrraddieben das Handwerk gelegt, im Juli einen entführten Elefanten wiedergefunden, im September einen Brandanschlag aufgeklärt und im November einen verschwundenen Dichter aufgespürt. Das Jahr war erfolgreich für die Bolzplatzbande, und so etwas schweißt zusammen. Vielleicht, denkt Laura, sollte ich all das nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Schließlich gibt sie sich einen Ruck und geht weiter nach oben. Verdrießlichkeit und Verzagtheit, das weiß Laura ebenfalls aus dem Fernsehen, sind keine guten Helfer, wenn man eine Castingshow gewinnen möchte. So ein bisschen Konkurrenz muss eine richtig gute Freundschaft aushalten. Sie wird sich jetzt zusammenreißen. Und sie wird gut sein. Richtig gut!

14

Bolle5_Umbruch.ind4 14

19.01.11 10:37


11.27 Uhr, Gesamtschule Agnesstein, Klassenraum der 6c Die Regeln sind eigentlich ganz einfach. Maximal 20 Punkte sind zu erreichen: zehn für den Auftritt, »die Performance«, und zehn für den Gesang. Bewertet wird von einer vierköpfigen Jury. Als Beisitzerin dient Klassenlehrerin Frau Pahl. Offiziell darf sie mit entscheiden. Laura ist sich aber ziemlich sicher, dass sie bloß aus Höflichkeit in die Jury eingeladen wurde. Schließlich findet das Casting in den Klassenräumen der Gesamtschule Agnesstein statt. Wirklich entscheiden werden die Macher vom Fernsehen: Anja Zaccharias, eine bekannte Musikexpertin, und Torben Tombstone, der früher ein berühmter Rockstar war. Torben macht einen ganz sympathischen Eindruck. Obwohl er ziemlich verbraucht und fast ein bisschen unheimlich wirkt, mit den vielen Narben in seinem ausgemergelten Gesicht und mit seiner merkwürdig tiefen Stimme. Dazu noch die auffallend knallroten Haare – Torben Tombstone sieht aus wie eine Mischung aus Pumuckl und Zombie. Anja Zaccharias hat Laura überrascht: Sie ist viel kleiner als im Fernsehen, und wirklich freundlich ist sie nicht. Das ist dann wohl vor der Kamera eher nur gespielt. Im Gegenteil: Anja Zaccharias verhält sich so, als wolle sie ganz ihrem Namen gerecht werden. Sie ist zackig und ungeduldig, kommandiert Torben Tombstone herum, sieht ständig auf die Uhr – und hat über-

15

Bolle5_Umbruch.ind4 15

19.01.11 10:37


haupt kein Verständnis für die Aufregung der Kinder. »Perfektionismus, ich erwarte Perfektionismus!«, sagt sie immer und immer wieder und verlangt damit von den Kindern etwas, das noch nicht mal ein Erwachsener hinbekommen kann. Wer, bitte schön, ist schon perfekt? Na, das kann ja ein Spaß werden, denkt Laura, von dieser Hexe beurteilt zu werden. Ihre Chancen schätzt sie aber ganz gut ein, trotz der großen Konkurrenz aus der eigenen Klasse: Die Messel-Zwillinge können zwar klasse singen, aber sie haben sich für ein Potpourri aus alten deutschen Volksliedern entschieden: Weißt du, wie viel Sternlein stehn, Das Wandern ist des Müllers Lust, Im Frühtau zu Berge und Ähnliches. Ihre Performance ist entsprechend: Dirndl und Strickjacken. Im Gegensatz zu vielen anderen in ihrem Alter hört Laura diese Lieder manchmal ganz gern, und die beiden Messels tragen sie mit angenehm hellem Gesang vor. Aber bei einer Castingshow, das ist allen außer den Zwillingen klar, hat man mit so etwas keine Chance. Ebenso wie Michi Mense übrigens, der Sohn des Hausmeisters, der in einer Arbeitslatzhose seines Vaters erschienen ist und einen Song namens »Presslufthammer Bernhard« singt, wozu er auf einer riesigen Hilti-Bohrmaschine Luftgitarre spielt. Ein bemühter Applaus ertönt, dem man anmerkt, dass sich die Klatschenden dazu zwingen müssen. »Junge, das war wirklich das Schärfste, was mir bei den Schul-Castings bis jetzt untergekommen

16

Bolle5_Umbruch.ind4 16

19.01.11 10:37


ist …«, reagiert Anja Zaccharias zur allgemeinen Überraschung. Dann macht sie eine lange Pause. Alle sind gespannt, Michi guckt verwirrt, Anja Zaccharias lässt ihn und die Klasse sicher 30 Sekunden warten, bevor sie fortfährt: »… scharf wie ein Erbseneintopf, in den ein hirnverbrannter Koch ein Kilo Salz gekippt hat … Vielleicht sollte mal einer mit deinen Eltern reden …« Jetzt gucken alle betreten zu Boden – außer Michi Mense, der die Jurorin mit offenen Augen verdutzt anschaut. Aber die lässt sich nicht beirren. »So was ist ja ein Fall fürs Jugendamt. Ein Fall von Vernachlässigung der Aufsichtspflicht. Wie kann man sein Kind mit solch einem Schwachsinn an die Öffentlichkeit lassen?« Puh, das sind jetzt aber harte Worte, denkt Laura. Michis Vorführung war wirklich grottenschlecht, das stimmt schon. Aber muss man ihn deshalb so fertigmachen? Genau in dem Moment steht Frau Pahl, die Klassenlehrerin, auf, geht zu Michi, klopft ihm auf die Schulter. »Na, jetzt mal halblang, Frau Jurorin«, sagt sie in Richtung Anja Zaccharias. »Wir sind hier nicht im Fernsehen. Und wir sind nicht unter Erwachsenen. Sie brauchen nicht so übertrieben zu hetzen, um die Zuschauer am Schirm zu halten. Mir jedenfalls hat Michis Aufführung gut gefallen. Man könnte zwar

17

Bolle5_Umbruch.ind4 17

19.01.11 10:37


noch ein wenig feilen hier und da, zum Beispiel an der Choreografie. Aber insgesamt war es doch recht originell, was der Junge sich da ausgedacht hat …« Applaus kommt auf. Kein begeistertes, aber immerhin zustimmendes Klatschen. Jeder weiß, wie schlecht Michis Darbietung gewesen ist. Aber das ist ja wohl kein Grund, ihn fertigzumachen. Und das scheint auch Anja Zaccharias einzusehen. »War ja bloß ein kleiner Scherz. Danke fürs Mitmachen, Presslufthammer-Michi. Und jetzt ist der oder die Nächste dran, … und zwar … Laura Pauli.« Schon in den letzten Minuten ist Lauras Aufregung immer mehr gestiegen. Auch sie hat sich einen sehr ungewöhnlichen Song ausgesucht, und zwar einen mit großem Anspruch. Einen mit Gefühl. Mit viel Gefühl. Ob das gut gehen wird? So peinlich wie bei Michi wird es sicher nicht werden, zumindest nicht auf dieselbe Weise, weil ihr Stück auf jeden Fall viel geschmackvoller ist. Was aber, wenn ihre Performance misslingt? Wenn ihre Stimme versagt? Wenn die Zicke Zaccharias ihre schlechte Laune aus der Presslufthammerkritik in ihre Bewertung mitnimmt? Dann kann es ebenfalls richtig peinlich werden. Es ist ruhig im Klassenzimmer, nur hier und da ist ein Flüstern zu hören. »Laura, kommst du?«, fragt Frau Pahl. Alle warten, die Spannung steigt. Egal, alles egal! Wer wagt, gewinnt! So heißt das

18

Bolle5_Umbruch.ind4 18

19.01.11 10:37


Sprichwort, das Laura durch den Kopf schießt. Sie wird jetzt alles wagen, um alles zu gewinnen. Und wenn’s peinlich wird, dann wird’s eben peinlich. Nicht ihr Problem, sondern das der anderen. Laura gibt sich einen Ruck, sie steht auf und geht in die Mitte der Klasse. Ein kleiner Begrüßungsbeifall ertönt, ihr Herz schlägt bis zur Halskrause. Laura räuspert sich, sie lässt einen Akkord auf ihrer Gitarre erklingen, sie stimmt noch einmal kurz nach. Es wird ruhig. Laura holt tief Luft, schaut in die Gesichter ihres Publikums. Eine Sekunde später legt sie los – und im nächsten Moment hat sie alles um sich herum vergessen.

12.45 Uhr, Neusser Straße, Richtung Ebertplatz So fühlt es sich also an, wenn man gemischte Gefühle hat. Diesen Ausdruck hat Laura schon öfter gehört. Jetzt, auf dem Weg in Richtung Ebertplatz, wird ihr zum ersten Mal richtig bewusst, was er bedeutet: Dass man gleichzeitig glücklich und traurig sein kann – ohne dass eines dieser beiden Gefühle dabei weniger stark wäre. Lauras Gedanken kehren zur vierten Stunde und zu ihrer Vorstellung vor der Jury des SchülerbandCastings zurück. Als sie »Jungle Bass« von Emilia Mancini angestimmt hat, haben viele von Lauras Mitschülern sehr erstaunt geschaut. So viel Mut hatten sie ihr wohl nicht zugetraut – ein Lied über das Auf

19

Bolle5_Umbruch.ind4 19

19.01.11 10:37


und Ab der Liebe. Laura verliebt? Vielleicht sogar unglücklich verliebt? Da hätten garantiert einige aus der Klasse gerne herausgefunden, um wen es gehen könnte. Vor allem Lauras beste Freunde Sema, Wladi und Kevin haben große Augen gemacht. Eigentlich haben die vier ja keine Geheimnisse voreinander. Nun aber guckten die anderen aus der Bolzplatzbande Laura an, als würden sie sie nicht mehr so recht verstehen. Egal, denkt Laura, so was muss eine gute Freundschaft auch mal aushalten. Wenn die wüssten! Lauras Applaus war jedenfalls lauter als bei den anderen Kandidaten. Ein Felsbrocken fiel von ihrem Herzen, als sie zum Ende des Auftritts aus ihrer Versunkenheit wieder erwachte. So laut war das Klatschen, dass sie sich eigentlich ihres Sieges schon sicher war. Sie hatte etwas gewagt – und sie hatte gewonnen. Und peinlich, so schien es ihr, hatte überhaupt keiner irgendetwas an ihrer Aufführung gefunden. Die Aufregung ließ nach, ein Glücksgefühl strömte durch ihren Bauch. Doch dann kam als Letzter Kevin mit einem selbst geschriebenen Hip-Hop-Stück. Mit einem wirklich starken Rhythmus und einem genialen Text, dem man Kevins lange Erfahrung als Blogger und Radiomacher im Internet anmerken konnte. Kein überragendes Stück, wie Laura fand, aber schon ein gutes. Besser als ihres? »20 Punkte für Kevin Diesler«, hat Laura die Stimme des Jurors Torben Tombstone noch im Ohr. »Kevin

20

Bolle5_Umbruch.ind4 20

19.01.11 10:37


ist Sieger der 6c und kommt in die nächste Runde – obwohl die Kleine da echt auch nicht schlecht war.« Dabei zeigte er auf sie. Woraufhin Mitjurorin Anja Zaccharias bloß antwortete: »Es kann aus jeder Klasse nur einer beim Endausscheid dabei sein, Torben, das weißt du doch.« Nur einer! Nur einer! Nur einer! Aus jeder Klasse nur einer, denkt Laura immer wieder. Das ist so ungerecht! Jetzt überwiegt wieder die Traurigkeit: So gerne wäre sie eine Runde weitergekommen, so gerne wäre sie nach Berlin zum Bundesentscheid gefahren. Aber das kann sie vergessen. Kevin wird fahren, ausgerechnet ihr Freund Kevin ist ihr größter Konkurrent!

12.50 Uhr, Neusser Straße, Ecke Ebertplatz Grelle, laute, aufgeregte, panische Stimmen reißen Laura aus ihren Gedanken. Eine Sirene tönt – absolut ohrenbetäubend. »Autsch! Kannst du nicht aufpassen?« Laura ist versehentlich einer älteren Dame auf den Fuß getreten. Überall stehen Menschen, die die Köpfe recken. Ein Baby schreit, ein Fahrradfahrer muss absteigen. Auf der Straße um den Ebertplatz herum stauen sich die Autos. Die hinteren hupen. Da ist es wieder, dieses unheimliche Gefühl. Laura weiß sofort, dass hier etwas passiert sein muss.

21

Bolle5_Umbruch.ind4 21

19.01.11 10:37


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.