Bebelplatz
Chaim Be’er Bebelplatz Roman
Aus dem Hebräischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Anne Birkenhauer
Berlin Verlag
Viele Figuren dieses Romans – unter ihnen Schlomo Rappoport, Thalma und Rafael Sussman, Professor Bilker-Bolker, Dr. Veronika Siegel, Ruby Stolman, Nikolai, Holger und seine Familie – sind der Phantasie des Verfassers entsprungen. Ihre Existenz beschränkt sich auf die Seiten dieses Buches; sie und ihr Handeln haben nichts mit der Realität zu tun, und Ähnlichkeiten zwischen ihnen und tatsächlichen Menschen oder Ereignissen sind absolut zufällig.
Die Arbeit der Übersetzerin wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel lifnej ha-makom bei Am Oved, Tel Aviv © 2007 Chaim Be’er Published by arrangement with The Institute for The Translation of Hebrew Literature Für die deutsche Ausgabe © 2010 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Nina Rothfos & Patrick Gabler, Hamburg Typografie: Birgit Thiel, Berlin Gesetzt aus der Filosofia durch Greiner & Reichel, Köln Druck & Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany isbn 978-3-8720-0861-9 www. berlinverlage.de
Und wir legen einen Stein unter den Kopf zur Erinnerung an das, was geschrieben steht: »Jakob nahm einen von den Steinen des Ortes und machte ihn zu einem Kopflager und legte sich hin an demselben Ort« [Gen. 28,11], denn siehe, er schaute die Tempelzerstörung und sagte: »Wie furchtbar ist dieser Ort, und hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.« [Gen. 28,17]. – Es kommt aber ganz darauf an, was einer für ein Mensch ist. kizzur schulchan aruch. Vorschriften für den Neunten Av, den Fastentag zum Gedenken an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, Paragraph 124, Absatz 2.
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Der Anfang der Begebenheiten, von denen ich in diesem Buch erzählen möchte, steckt im Schluss eines anderen Buches, das ich geschrieben habe, ähnlich wie der Schwanz in den Zähnen jenes mythologischen Urtieres – unklar ob Drache oder Leviathan – steckt, dessen Bild Veronika mir auf der Terrasse eines Restaurants am Savignyplatz zeigte, während sie ihre kleine Tochter in den Armen wiegte.
Die Wiederbelebung jenes früheren Buches verdanke ich in erster Linie Sussman. Wäre er mir nicht im richtigen Moment begegnet, hätte das Buch vermutlich noch eine Weile in den letzten Zügen gelegen und wäre schließlich eingegangen. Wie oft schon hatte ich, meist in den Semesterferien, mit Hoffen und Zagen die Aktenmappe hervorgeholt, auf die ich allen Warnungen meiner seligen Schwiegermutter zum Trotz leichtsinnig bereits seinen Titel geschrieben hatte. Bis heute klingen mir ihre Worte in den Ohren: »Ungeborenen gibt man keinen Namen. Kinder bekom men ihren Namen erst, wenn sie draußen sind.« Die Mappe enthielt die ersten Kapitel, von meiner Frau in einem Anflug von Edelmut für mich abgetippt, und Entwürfe für ein weiteres Kapitel, das meine wie derholt gescheiterten Versuche dokumentierte, einen Wendepunkt in der Handlung herbeizuführen. Meine Hoffnung, dass daraus doch noch ein Buch würde, gründete sich auf Dutzende neuer Zettelchen, die ich seit dem letzten Wiederbelebungsversuch in diese Mappe gelegt hatte: Dialogfetzen, auf die Rückseiten von Rechnungen, Vi siten- und Eisenbahnkarten notiert, sowie Anekdoten von Bouqui 7
nisten und Büchersammlern, die ich beim Schreiben einflechten wollte. Lange versuchte ich, den Roman aus meinen Entwürfen zu bergen. Als meine Hoffnung auf einen rettenden Fingerzeig von oben zunichte wurde, verlegte ich mich auf die Technik der Collage, mischte die Blätter immer wieder neu und versuchte, sie zu einem Mosaik zusammenzufügen. Doch in Ermangelung einer Kraft, die die Teilchen einer inneren Gesetzmäßigkeit folgend anzog und sie um sich herum ordnete wie ein Magnet verstreute Eisenspäne, blieben sie weiterhin zusammenhanglose Schnipsel. Im Winter des letzten Jahres, es waren die ersten Januartage des Jahres 2005, als ich schon drauf und dran war, mich mit dem traurigen Schicksal von Wörter ohne Land – so sollte mein Buch heißen – abzufinden, rief Sussman an. »Teurer Freund, schenken Sie mir doch bitte einen Augenblick Ihrer kostbaren Zeit«, begann der mir unbekannte Anrufer. Die höfliche Zurückhaltung, in die er seine Bitte hüllte, konnte jedoch nicht den leisen Befehlston verbergen, der nahelegte, dass es sich um eine sehr vermögende oder einflussreiche Person handelte, bei der jeder Wunsch einem Befehl gleichkam, den man nicht verweigern oder ignorieren konnte. Mit seinen äußerst feinen Sinnen bemerkte er mein Schweigen, deutete es als zögernde Ablehnung und fügte sogleich hinzu: »Ich werde bei Euch mit meinem Stock und meinem Geld erscheinen, an jedwedem Ort und zu jedweder Zeit, die Ihr verlangt.« »Mit Ihrem Geld können Sie gern bei mir vorbeikommen«, flachste ich, nicht ahnend, dass ich da etwas Prophetisches aussprach, und zitierte weiter: »aber es soll an dem Tag geschehen, auf den nach Eurer Berechnung der Versöhnungstag fällt.« Hier muss ich erklären, warum ich meine anfängliche Zurückhaltung so schnell aufgab und so bereitwillig auf seine Bitte einging. Während des kurzen Telefonats hatte ich gemerkt, dass Sussman, genau wie ich, seine Jugend in einer Talmudschule verbracht hatte, 8
denn für jeden, dem der Talmud einmal zum Codebuch seiner Sprache wurde, ist die Wortverbindung »mit meinem Stock und meinem Geld« nicht einfach ein blumiger Ausdruck, sondern ein Zitat, das auf eine der dramatischeren Szenen des Talmuds verweist. An einem Jahresanfang nämlich, an dem stets das genaue Datum des Neumonds bestimmt werden muss, damit alle weiteren Feiertage des kommenden Jahres festgelegt werden können, behauptete Rabbi Jehoschua in einer Disputation mit dem Oberhaupt des Gerichtshofes Rabban Gamliel, dessen genaue Bestimmung des Neumondtages beruhe auf einem Fehler. Er habe sich auf falsche Zeugen gestützt, die ihn absichtlich in die Irre geführt hätten. Rabban Gamliel erkannte, dass sein Kollege im Recht war, doch um die Glaubwürdigkeit des Gerichtshofes nicht zu erschüttern, wollte er unmissverständlich demonstrieren, dass diese Entscheidung, auch wenn sie auf einem Fehler beruhte, schon geschehen und unwiderruflich war. So verlangte er von dem weitaus gelehrteren Rabbi Jehoschua, er solle an dem Tag, den dieser als den Versöhnungstag errechnet hatte, mit Stock und Geld, also wie an einem gewöhnlichen Werktag, zu ihm kommen, was dieser auch gehorsam tat, aus Sorge, dass ein Zweifel an der Autorität des Gerichtspräsidenten das ganze System gefährden würde. Dieser Marsch des Rabbi Jehoschua nach Jawne am heiligsten Ruhetag, den er damit auf Anweisung von höchster Stelle entheiligte, und der Ausdruck »mit meinem Stock und meinem Geld« wurden seitdem zu einer stehenden Wendung für die ehrliche Anerkennung der Amtsmacht einer Person, deren Autorität man nicht in Zweifel zieht, selbst wenn sie sich ganz offensichtlich irrt. Sussmans höfliche Worte vermochten wie gesagt nicht, den unan genehm herrischen Unterton seiner Stimme zu verbergen, doch sein Eingeständnis, dass er trotz seiner gesellschaftlichen Stellung – über die ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts Genaues wusste – nicht allmächtig war und dass auch er, wenn er Hilfe brauchte, sich vor seinem Nächsten beugen würde, weckte mein Mitgefühl, und so erklärte ich 9
mich bereit, ihn zu uns nach Ramat Gan einzuladen, obgleich ich meinem getreuen Kant versprochen hatte, meine wenige freie Zeit nicht mit strapaziösen Nervtötern zu verschwenden, sondern mich meinem festgefahrenen Roman zu widmen. An dieser Stelle ist eine weitere Erläuterung vonnöten: »Mein getreuer Kant« – so nenne ich in Selbstgesprächen meine Frau, so sehe ich sie vor meinem inneren Auge: als die Unbestechliche, Verlässliche, die hellsichtige Philosophin, die mir immer wieder uneigennützig den Weg der Vernunft zeigt und mich schon vor manchem Fehltritt bewahrt hat. »Was glaubst du denn, wie viele Jahre dir hier auf Erden noch gegeben sind?«, hatte sie mich oft attackiert und der Reihe nach unsere Freunde und Bekannten aufgezählt, die schon gestorben waren. Als ich ihr abends von meinem Gespräch mit Sussman berichtete, schaute sie mich verächtlich oder vielleicht auch mitleidig an und sagte, ich sei wohl wieder einmal Opfer meines schwachen Charakters geworden. Die Demut, die mein neuer Freund da an den Tag lege, sei garantiert nur gespielt. »Wie heißt er?«, wollte sie wissen und begann ein bisschen herumzutelefonieren. »Die Frau erkennt die Gäste besser als der Mann«, zitierte sie etwas später einen Spruch der alten Weisen, den sie noch bei Prof. Rappel am Lehrerseminar gelernt hatte, und triumphierte, auch diesmal habe ihre weibliche Intuition sie nicht getäuscht. Sussman sei ein berüchtigter Immobilienhai. Sein kometenhafter Aufstieg beruhe auf zweifelhaften Grundstücksgeschäften in Schottland. Deshalb und wegen der undurchdringlichen Nebelwand, hinter der er sein Privatleben verberge, nenne man ihn im Wirtschaftsteil der Zeitungen auch den »Aal von Loch Ness«. Zum Schluss hielt mein getreuer Kant mir noch eine Moralpredigt und hoffte, ich sähe jetzt selbst ein, dass diese gespielte Unterwürfigkeit nur eine Taktik von Sussman war, um seine Verhandlungspartner dahin zu bekommen, wo er sie haben wollte. Als Sussman pünktlich zur vereinbarten Zeit bei uns erschien, 10
stand er in der Tür, senkte den Kopf und sagte, jetzt, nachdem er zu mir gekommen sei, müsse ich mich auch genau wie Rabban Gamliel vom Stuhle erheben und ihn aufs Haupt küssen. »Friede mit dir, mein Lehrer und mein Schüler«, hieß ich ihn willkommen und spitzte die Lippen in Richtung seiner Stirn, mit ähnlich zeremonieller Anmut wie das Oberhaupt des Gerichtshofes gegenüber seinem Kollegen. »Mein Lehrer bist du, da du mich öffentlich Tora gelehrt hast, und mein Schüler, da du meinen Befehl wie ein Schüler befolgt hast«, vollendete Sussman die überlieferten Worte des Rabban Gamliel, wie ein Geheimagent in einem alten Spionagefilm, der sich endgültig der Identität seines Gegenübers versichert, indem er seine durchgerissene halbe Dollarnote an die andere Hälfte in der Hand des Unbekannten hält. »Heil dem Zeitalter, in dem die Großen den Kleinen gehorchen, und um so mehr die Kleinen den Großen«, zitierten wir beide, als ich ihn in der Sitzecke unseres Wohnzimmers Platz nehmen hieß. Aus der Küche, wo ich dann Kaffee kochte und etwas Gebäck bereitstellte, betrachtete ich heimlich meinen Gast, der sich so große Mühe gab, mich mit seiner talmudischen Belesenheit zu beeindrucken. Das schwere, fleischige Gesicht war schon etwas erschlafft, in den Locken schimmerte schon das Grau des Alters, doch seine vollen Lippen wirkten jugendlich und voller Begehrlichkeit, und sein Blick, der eines potenziellen Ehebrechers, schweifte über die Bücher und Zeitschriften, die sich auf dem Tisch häuften. Wie Peter Ustinov, dessen Memoiren ich in diesen Tagen las, sah er in diesem Moment aus. Sussman blätterte missbilligend in dem neuen Roman, den mir ein Kollege geschickt hatte, und fragte mich, was ich von ihm hielte. Ich antwortete wie die Frau in dem alten Witz auf die Frage, wie ihr Mann sei: »Geschmackssache. Mir zum Beispiel liegt er nicht so.« Der Gast schob das Buch von sich und sagte, was wir unter uns noch klären müssten, sei die Frage, wer wem gehorche, und fuhr fort: »Ich habe den 11
Eindruck dass Sie mir gehorcht haben, dass Sie also der Große sind, und ich dagegen der Kleine bin«. Mit einer Klugheit und Übung, die seine reiche Erfahrung im Verhandeln bewies, übernahm mein Gast sogleich die Gesprächsführung. Als Meister seines Fachs vermied er es, sich plump anzubiedern. Weder stimmte er ein Loblied auf die Bücher an, um die ich die hebräische Literatur bereichert hätte und die so viel bedeutender seien als alles, was meine Kollegen schrieben, obgleich die zu Unrecht das Lob der Kritiker und den Beifall des Publikums einheimsten, noch bekundete er gespannte Vorfreude auf mein neues Buch, das so lange auf sich warten ließ. Er verschwendete seine Zeit nicht auf belangloses Geschwätz, um die Fremdheit zwischen uns zu überbrücken und mich einzustimmen, aber er kam auch nicht direkt zur Sache. Vielmehr stellte er zunächst sein Mobiltelefon stumm, nahm die schwere Breitling vom Handgelenk, steckte sie in die Tasche und fragte mich dann leise, ob die zögernde Ablehnung, die er bei unserem Telefonat in meiner Stimme wahrgenommen habe, von einer Not zeuge, die zu lindern er mir eventuell behilflich sein könne. Dieser Ausdruck schlichter und praktischer Menschlichkeit, der weder Herrschsucht, Neugierde noch die Absicht, sich einzumischen, anhaftete, berührte mich so, dass ich ihm, ohne es zu wollen, ein zweites Mal nachgab. Ich sagte, mein Schreiben bedrücke mich. Das Buch, an dem ich arbeite, stecke in einer Sackgasse, und trotz großer Anstrengungen gelinge es mir nicht, es auf die richtige Bahn zu setzen. Noch während ich das sagte, reute es mich schon. »Dann hören Sie mir mal zu«, sagte der Gast, und sein Blick folgte der Sonne, die hinter den Wassertanks auf dem Nachbarhaus unterging, »jetzt bin ich nämlich an der Reihe, Ihnen eine Geschichte zu erzählen.« Anfang der siebziger Jahre, als er an der Hochschule für Wirtschaft und Betriebswirtschaftslehre in Edinburgh studierte, erzählte Sussman, erschien der Finanzmarktexperte zu seiner letzten Vorlesung; 12
ein alter, etwas kauziger Mann, der sich aufgrund seines Hobbys als begeisterter Insektenforscher weltweit einen Namen gemacht hatte –eine der Wildbienenarten war nach ihm benannt. Er zog aus einer alten Einkaufstasche zwei langhalsige Flaschen und erklärte, von ihm aus dürften wir jetzt alles vergessen, was er uns ein Semester lang beizubringen versucht habe, wenn wir nur das, was er uns jetzt zeigen werde, behielten. Er stellte die Flaschen, deren Öffnungen mit Gaze zugebunden waren, aufs Pult. In der einen Flasche, sagte er, sei eine Fliege gefangen und in der anderen eine Biene. Dann ließ er die schwarzen Verdunklungsrollos herunterziehen und das Licht ausschalten. Im dunklen Hörsaal knipste er eine Taschenlampe mit einem schmalen Lichtkegel an und stellte sie etwas entfernt von den Flaschen auf. »Wer, meinen Sie, kommt als Erste aus der Flasche?«, fragte er und klopfte auf die Abdeckungen der Flaschen. »Die Biene«, meinten die Studenten einstimmig, und als er fragte, warum, beeilte sich eine Studentin, deren Familie eine Imkerei besaß, zu sagen: »Weil ihre Intelligenz größer ist als die der Fliege.« »Dann wollen wir mal sehen«, sagte der alte Professor und zog gleichzeitig die Gazestückchen von den beiden Flaschen. Gespannt starrten alle auf die Flaschen. Nach ein, zwei Minuten sah man, wie die Fliege durch den Lichtstrahl flog, während die Biene immer wieder gegen das Flaschenglas stieß, auf das Licht zuflog und zurückprallte. »Komm, meine Süße, jetzt lass ich dich frei«, erklang die Stimme des Professors im Dunkeln, »wir wollen ja nicht dein Leben auf dem Altar der wissenschaftlichen Neugierde opfern.« Nachdem die Rollos hochgezogen waren, fasste der Professor das Ergebnis des Versuchs zusammen. Die Biene, die tatsächlich eine höhere Intelligenz besitze, habe den Lichtstrahl sofort und völlig zu Recht als Quelle ihrer Rettung erkannt, doch gerade ihre konsequente Beharrlichkeit und Zielgerichtetheit sei ihr zum Verhängnis geworden. Die Fliege dagegen, ein ganz dummes Insekt, habe dem Licht keine 13
Bedeutung beigemessen, sondern sei, ohne irgendwas zu denken, hin und her geflogen, bis sie zufällig die Öffnung nach draußen fand. »Auf den Finanzmärkten ist es wie im Leben. Sie müssen lernen, Fliegen zu sein. Einigen von Ihnen wird das, wie ich schon beobachten konnte, nicht sonderlich schwerfallen. Ein bisschen Dummheit hat noch keinem geschadet, auch nicht den Klugen.« Dies war die Schlussfolgerung des rotwangigen Schotten aus dem Experiment. Dann legte er die Flaschen zurück in seine abgewetzte Tasche und verkündete, die Stunde sei beendet. Jetzt, etwa eineinhalb Jahre nach Sussmans Besuch in unserer Wohnung in Ramat Gan, während ich hier in Berlin am Ufer des Wannsees in meinem Zimmer sitze und meine Geschichte über Rafael Sussman und Konsorten zu Papier bringe, eine Episode, die sich hauptsächlich an ebendiesem Ort hier abgespielt hat, kam durch die Balkontür eine kleine Wildbiene ins Zimmer geflogen. Interessiert inspizierte sie erst das Foto von Bertolt Brecht an der Wand, auf dem man ihn neben Helene Weigel mit seinem Hut winkend bei einer Veranstaltung des Berliner Ensembles sieht, danach meinen bereits abgekühlten Kaffeebecher, ruhte sich später eine ganze Weile auf dem Blatt aus, auf das ich nach und nach diese Zeilen schrieb, umkreiste mich dann wie bei einer Flugschau und schwirrte hinaus zum See und zu den ihn umgebenden grünen Hügeln, die sich in einer Mischung aus atemberaubender Schönheit und entsetzlicher Vergangenheit in der halb offenen Glastür spiegelten. Gesegnet seist du, kleine Biene, denn du hast mir ein prophetisches Zeichen für meinen ganzen Besuch hier gegeben: Dein Flug hat meinen Blick gelenkt und mir gezeigt, wie nah die Schönheit und der Schrecken jener Villa der Wannseekonferenz dort gegenüber – der Name allein lässt mich erschaudern – beisammen wohnen können.
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»Zielstrebigkeit ist zweifellos eine hohe Tugend«, sagte der Immo bilienmagnat, »doch manchmal muss sie ihre übliche Gestalt ablegen und eine andere Form annehmen. Statt eigensinnig den Kopf gegen die Wand zu schlagen, muss man durch kreative Entspannung ande re Wege finden. Schließen Sie doch die Tür Ihres Arbeitszimmers, lassen Sie Ihr Manuskript liegen und gondeln Sie ein bisschen durch die Welt! Etwas Bewegung wird Ihnen nicht schaden. Vielleicht werden Sie gerade in der Fremde Antworten auf die Fragen finden, die Sie umtreiben.« Sussman richtete sich in seinem Sessel auf und fragte nun ganz direkt, ob ich bereit sei, mir in zwei Wochen drei, vier Tage freizunehmen und zu einem Treffen mit ihm nach Berlin zu kommen. »Ich brauche dort Ihre Ideen«, sagte er und fügte eilig hinzu, er werde während dieser Fahrt selbstverständlich für all meine Bedürfnisse aufkommen. Kühl und distanziert erzählte er mir, was ihm in den letzten Jahren an Schlimmem widerfahren war, doch gerade diese Zurückhaltung und Selbstbeherrschung ließen den Gefühlssturm ahnen, der da loszubrechen drohte. Den Großteil der Führung seiner komplizierten Geschäfte hatte er einem Team treuer Mitarbeiter übergeben, während er seine meiste Zeit und Energie der Sache widmete, um derentwillen er heute zu mir gepilgert war. »Vor drei Jahren, fünf Monaten und achtundzwanzig Tagen ist es passiert«, sagte Sussman und zeigte erschütternd nachdrücklich mit den Fingern beider Hände, vor wie viel Jahren, Monaten und Tagen seine erstgeborene Tochter Miri gestorben war. Bei passender Gelegenheit, die sich gewiss bald ergebe, werde er mir erzählen, unter welchen Umständen sie aus dieser Welt abberufen wurde. Seine vielen Freunde, unter ihnen auch solche mit ähnlichem Schicksal, hatten ihm am Ende der dreißigtägigen Trauerzeit, in der er fast verrückt geworden war, die unterschiedlichsten Vorschläge gemacht, Miris Andenken zu pflegen. Einige legten ihm nahe, auf ihren Namen einen 15
Fonds einzurichten, der mittellose Studentinnen unterstütze, andere drängten ihn zu einer großzügigen Spende an ein Krankenhaus, wieder andere wollten ihn überreden, Studientage einzurichten, ein Gedenkbuch für sie herauszubringen oder gleich eine ganze Publikationsreihe ins Leben zu rufen, die ihren Namen tragen könnte. Der Präsident einer Universität versuchte ihn dazu zu bewegen, einen Lehrstuhl auf ihrem Namen einzurichten. Doch er hatte sie alle abgewiesen. »Für solches Zeug habe ich mich nie interessiert und tue es auch heute nicht«, sagte mein Gast und biss sich auf die Lippe, »ich halte nichts von diesen Formen des Gedenkens. Die Erinnerung an die Früheren bleibt nicht, und auch die Späteren werden nimmer im Gedächtnis bleiben, bei denen, die nach ihnen kommen.« Danach erzählte er mir, er hege, seit er die Nachricht von ihrem Tod erhalten habe, nur noch einen Wunsch: Wenn irgendwann seine Zeit komme und auch er nach dort abberufen werde, wo Miris Seele nun weile, wolle er die Abgründe des Lebens besser verstanden haben als heute. Dann möchten diese Einsichten und die Weisheit, von der unsere Weisen sagen, nur sie könne uns das Leben erhalten, sein ewiger Anteil sein, an dem er sich vielleicht auch in jener Welt erfreuen könne, in der die Seelen Gottes Ratschluss schon kennen. Deshalb habe er sich entschlossen, eine Art privates Wissenschaftskolleg zu gründen und sich mit einer Gruppe handverlesener Gelehrter, Schriftsteller und Künstler zu umgeben, die ihn an ihrer Weisheit teilhaben lassen. Die Mitglieder der Gruppe, die sich mit der Zeit gebildet habe – seines »Gelehrtenzirkels«, unter diesem Namen erschienen sie im Budget seiner Firma –, erhielten ein festes Forschungsstipendium, träfen sich hin und wieder in unterschiedlicher Zusammensetzung und diskutierten ausgewählte Themen. Die einzige Verpflichtung der Mitglieder dieses »Ordens«, betonte er, sei die zu absoluter Vertraulichkeit. Ihr Honorar bekämen sie bei ihren Aufenthalten im Ausland bar ausbezahlt, was sie nicht nur der Pflicht enthebe, die Steuerbehörden zu informieren, sondern auch von der 16
Notwendigkeit befreie, ihre Lebenspartner von diesem beträchtlichen Zusatzeinkommen in Kenntnis zu setzen, das mithin ganz zu ihrer eigenen Verfügung stehe. Sein Gelehrtenzirkel, erklärte Sussman weiter, treffe sich einmal im Jahr in voller Besetzung, abwechselnd in Edinburgh und im nächsten Jahr in Eilat. An Miris Geburtstag, dem 5. Mai, versammle man sich alle zwei Jahre in ihrer Geburtsstadt Edinburgh und an ihrem Todestag in Eilat, nahe der Stelle, an der sie heimgeholt wurde. In Edinburgh werde jeweils das Thema für die größere Zusammenkunft in Eilat im folgenden Jahr festgelegt. Dort beleuchteten es die Teilnehmer aus unterschiedlichen Perspektiven, verschickten Vortragsmanuskripte an ihre Kollegen und machten ihm Vorschläge, welche weiteren Dozenten hinzugezogen werden sollten. »In dieser Sache halte ich es wie unsere frühesten Talmudgelehrten«, sagte Sussman und putzte seine Brille, »die haben am Grab ihrer verstorbenen Studienkollegen zusammen Tora studiert.« Letzten Sommer, bei der Zusammenkunft am 6. Juni im »PrincessHotel« in Eilat hätten sie sich mit verschiedenen Metaphern für den Begriff der Ewigkeit beschäftigt, unter anderem mit dem aus der Asche auferstehenden Phönix und seinen verschiedenen Manifestationen in der frühen hebräischen Kultur und der griechischen Mythologie. Einer der führenden Bischöfe der anglikanischen Kirche habe einen Vortrag über die Entwicklung des Ewigkeitsbegriffs in den christlichen Traditionen Anfang des Mittelalters gehalten und ein Altphilologe der Universität Tübingen einen brillanten Gastvortrag über den Wandel der Rolle des Feuers im Hellenismus. Eine namhafte Folkloreforscherin, die regelmäßig mit dabei sei, deren Namen er mir im Moment noch nicht verraten könne, denn noch hätte ich mich ja nicht entschlossen, seinem Gelehrtenzirkel beizutreten, hätte einen äußerst kenntnisreichen Vortrag über den lus, jenes kleine sagenumwobene Knöchelchen im oberen Teil der Wirbelsäule, gehalten, das nicht verwest und aus dem der Heilige, Er sei gepriesen, bei der Auf17
erstehung jeden einzelnen Menschen wieder erblühen lassen werde. In der anschließenden Diskussion habe ein Kabbalaforscher von der Westküste dem noch hinzugefügt, im Buche Sohar heiße dieser Knochen »Betuel«, wie der schlaue Vater von Rebekka, weil ebendieses Knöchelchen, schlau und hellsichtig, wie es war, bereits im Garten Eden beschlossen hatte, um seine Unsterblichkeit nicht aufs Spiel zu setzen, nicht von der verbotenen Frucht zu genießen, und deshalb an keinem der leiblichen Genüsse des Menschen Teil habe außer an der Mahlzeit am Ausgang des Schabbat. Daher stamme der Brauch, sich mit einem Tropfen des Weins, den man bei jener Mahlzeit trinke, den Nacken zu betupfen, um diesen »kleinsten und schlauesten aller Gerechten« zu nähren. Den Gelehrten stehe es natürlich frei, ihre Beiträge danach zu veröffentlichen, er wolle ja niemandes Aufstieg und Karriere behindern. Unnötig zu wiederholen, dass keiner der Gelehrten erwähnen dürfe, wo diese Dinge zum ersten Mal vorgetragen und erörtert wurden. Anfang Mai, an Miris Geburtstag, würden sich die Mitglieder des Gelehrtenzirkels wieder in Edinburgh treffen und aus der Fülle der Vorschläge, die er ihnen unterbreite, das Thema für die Versammlung in Eilat im nächsten Jahr wählen. Während er beim letzten Mal, sagte Sussman, genau gewusst habe, was ihn interessiere, sei er sich diesmal nicht ganz klar, und um nicht mit leeren Händen nach Edinburgh zu kommen, habe er beschlossen einen außerordentlichen Planungsausschuss einzuberufen, der ihm dabei helfen solle. Der bestehe ausschließlich aus seinen engsten Vertrauten und werde in zwei Wochen in Berlin zu einem inoffiziellen Vorbereitungstreffen zusammentreten, und mein Erscheinen dort sei von größter Bedeutung. »Warum können wir das nicht in Tel Aviv machen?«, hakte ich ein, während ich in meinem Kalender blätterte, »ich habe da zwar Semesterferien, doch ich müsste für dieses Treffen zwei Autorenlesungen absagen, eine in Or Akiva und die andere in Kirijat Jam.« 18
»Or Akiva«, grunzte Sussman abfällig, »Sie hoffen wohl, Präsident Weizman und seine Gattin machen sich die Mühe, von Caesarea nach Or Akiva hinüberzufahren, um Ihre Lesung mit ihrer Anwesenheit zu beehren?« Die Wahl sei auf Berlin gefallen, da zwei Mitglieder des Planungsausschusses dort wohnten und ein dritter, ein namhafter Professor aus Wien, dazukomme. Sollte die Absage dieser Lesungen für mich mit einem finanziellen Nachteil verbunden sein, werde er mich natürlich großzügig dafür entschädigen. Nachdem er sich vergewissert hatte, ob die Summe, die er für mich auszugeben bereit war, meinen Widerstand schwächte, fragte er, ob irgendein anderer Schriftsteller – und hier zählte er einige auf – wegen zwei Lesungen mit geringem Publikum in unbedeutenden Provinzstädten eine so verlockende Reise nach Berlin, für die man zudem gut entlohnt werde, ausschlagen würde. Als letzte Bastion führte ich nun meine Frau ins Feld. Bevor ich meine Zustimmung gäbe, müsse ich mich mit ihr beraten. »Frauen haben schon einmal die Erlösung vereitelt«, lachte der Gast und fragte, ob ich nicht auch in der Volksschule das Gedicht von Schimonowitsch über die Anhänger des Heiligen Jizchak Lurija gelernt habe, die am Freitagabend mit ihrem Rabbi vor die Stadt hinauszogen, um die Königin Schabbat zu empfangen. Sie verpassten die Gelegenheit, den Messias herbeizubringen, nur deshalb, weil sie erst ihre Frauen fragen wollten, bevor sie nach Jerusalem aufbrachen. »Jetzt stellen Sie sich nicht so an, mein Lieber«, drängte Sussman, nun schon schärfer, und erzählte, vor einigen Jahren habe sich einer unserer gemeinsamen Bekannten, ein Lubavitcher Chassid und hervorragender Bibliograph, genauso aufgeführt wie ich. Damit habe er nicht nur eine vielversprechende Karriere verpasst, eine Stelle, die das Größte war, wovon er persönlich und beruflich hätte träumen können, sondern auch das Vertrauen eines Menschen verloren, der ihn sehr verehrte. Der persönliche Sekretär des Lubavitcher Rebben habe ihn nämlich in Jerusalem angerufen und ihm im Namen seines 19
Meisters ausgerichtet, dass der amtierende Bibliothekar, Reb Chaim Liberman, aus Altersgründen ausscheide und seine Stelle nun auf keinen anderen warte als auf ihn. Unser Jerusalemer Bekannter habe sich sehr gefreut, aber erst noch die Zustimmung und den Segen seiner Frau einholen wollen. Der Sekretär habe dazu nichts weiter gesagt, doch damit seien seine Beziehungen zum Hof der Lubavitcher für immer abgebrochen gewesen. Um meine Entscheidung noch etwas hinauszuzögern, fragte ich Sussman, wer mich ihm denn empfohlen habe, da sich unsere Wege bis dato ja noch nicht gekreuzt hatten. »Veronika«, antwortete er kurz, beobachtete mich dabei aber genau. »Veronika Siegel?«, rief ich mit einer Stimme, die mich selbst überraschte, »Sie kennen Veronika?« Im Februar 2001, bei einem für mich enttäuschenden Abend zum Erscheinen der deutschen Übersetzung meines Romans Stricke im Literaturhaus in der Fasanenstraße in Berlin, hatte Veronika sich in der Absicht herbemüht, einen größeren Essay über mein Buch zu schreiben. Das bescheidene Publikum war die übliche lokale Mischung von im Exil lebenden Israelis, die sich nicht für mein Buch interessierten, sondern nach den fernen Klängen ihrer Muttersprache sehnten, jungen deutschen Frauen, die Sühne suchten, ein paar kulturbeflissenen älteren Damen und drei, vier radikalen Studenten mit langem Haar und bohrendem Blick, die sich mit schwarz-weißen Palästinenser tüchern schmückten oder mit Schals in den palästinensischen Nationalfarben. Veronika gab in jenen Tagen gerade ihre Doktorarbeit ab über die orientalischen Elemente in der Lyrik Else Lasker-Schülers als Beispiel für die deutsche Affinität zu Orientalismus und Mystik an der Wende zum 20. Jahrhundert. Als wir einander am Anfang des Abends vorgestellt wurden, erklärte sie mir, sie wolle in ihrer Besprechung vor allem über den Einfluss der mitteleuropäischen Kultur 20