Jan Peter Bremer: Mit spitzen Ohren

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Jan Peter Bremer Mit spitzen Ohren Telefongespr채che zwischen Inge und ihrer einzigen Hundefreundin Niva Illustriert von Vitali Konstantinov

Bloomsbury Kinderb체cher & Jugendb체cher


Für Bruno und Luzie

© 2010 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin | Bloomsbury Kinderbücher & Jugend­bücher | Alle Rechte vorbehalten | Umschlaggestaltung: Renate Stefan unter Verwendung einer Illustration von Vitali Konstantinov | Typo­grafie & Gestaltung: Renate Stefan, Berlin | Gesetzt aus der Bembo und Gill Sans durch psb, Berlin | Druck & Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm | Printed in Germany | ISBN 978-3-8270-5370-1 | www.berlinverlage.de


Was ihr wissen müsst Ihr werdet bald von den Telefonaten erfahren, die unsere Hündin mit ihrer besten Hundefreundin führt. Zuerst aber will ich mich kurz vorstellen. Mein Name ist, wie ihr vielleicht schon auf dem Buchdeckel gesehen habt, Jan. Ich wohne mit meiner Frau und meinen beiden Kindern in einer Wohnung in Berlin. Berlin ist, wie ihr wahrscheinlich wisst, die Hauptstadt Deutschlands. Berlin ist aber auch die Stadt in Deutschland, in der die meisten Hunde leben. Und einer dieser Hunde, besser gesagt eine Hündin, lebt mit uns zusammen in unserer Wohnung. Sie heißt Inge, und auf diesen Namen ist sie sehr stolz. Es genügt schon, ihren Namen laut auszusprechen, um sie mit unglaublicher und schier endloser Freude zu erfüllen. Diese Freude wäre jedoch sofort verflogen, wenn sie, wie ihr, diese bisherigen Zeilen lesen würde. Inge mag nämlich keine Hunde. Schlimmer noch, sie ver­ abscheut Hunde sogar. Sobald sie einen Hund auf der Straße sieht, macht sie den größtmög­ lichen Bogen um ihn. 7


Darum gibt es für Inge auch keine ärgere Beleidigung, als wenn jemand, so wie ich es gerade getan habe, sie als Hund bezeichnet. Vielleicht, weil sie so einen schönen Namen hat, vermutlich aber, weil sie immer mit unseren beiden Kindern zusammen ist, denkt Inge, sie sei auch ein Kind. Deshalb wundert sie sich eigentlich auch, dass sie, statt in einem Bett, in einem Körbchen schlafen muss. Auch dass sie beim Essen nicht am Tisch sitzen darf, wundert sie. Morgens wiederum wundert sie sich, dass sich alle ­außer ihr anziehen, und vor der Schule wundert sie sich dann, dass sie nicht mit in das Gebäude darf. Aber an all das hat sie sich längst gewöhnt. Sogar da­ ran, dass sie sich eigentlich immer wundert, hat sie sich längst gewöhnt. Wenn ich gerade erzählt habe, dass Inge alle Hunde verabscheut, so stimmt das nicht ganz, denn es gibt eine Ausnahme. Diese Ausnahme heißt Niva. Niva ist Inges einzige Hundefreundin. Die beiden kennen sich fast seit ihrer Geburt und sehen sich ungefähr alle zwei Wochen. Niva lebt bei zwei Freundinnen von uns, die wie meine Frau und ich ein verheiratetes Paar sind. Das eine Frauchen von Niva heißt Birgit und das andere heißt ­Felicia.

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Wie unsere Inge mag auch Niva keine anderen Hunde und wie unsere Inge ist auch Niva felsenfest davon überzeugt, dass sie kein Hund ist. Da es aber dort, wo Niva lebt, keine Kinder gibt, denkt Niva nicht, dass sie ein Kind ist, sondern sie denkt einfach, sie sei ein etwas zu klein geratener Mensch. Deshalb wundert sie sich über andere Sachen als Inge. Niva wundert sich zum Beispiel darüber, dass, bevor sie mit ihren Frauchen auf die Straße geht, die beiden sich die Lippen anmalen, ihr aber nicht. Im Auto wundert sich Niva, dass sie nie am Steuer sitzen darf. Nachts wundert sich Niva, dass sie, nachdem ihre Frauchen ins Bett gegangen sind, nicht noch viele Stunden fernsehen darf, und wenn Gäste kommen, wundert sie sich, dass alle außer ihr fröhlich ein Bier trinken. An all das hat sich Niva bisher noch nicht gewöhnt, und natürlich wundert sie sich auch über das, worüber sich Inge wundert. Dass sie nicht mit am Tisch sitzen darf, dass sie kein großes Bett hat, dass sie nicht wie ihre Frauchen in 9


einem bestimmten Raum einfach in die Wohnung machen darf. Auch daran hat sich Niva bisher noch nicht gewöhnt. Natürlich will Niva wie jeder Mensch oder jeder Hund immer alles richtig machen, und damit ihr das noch besser gelingt, ruft sie oft bei ihrer klugen Freundin Inge an. Niva ruft immer gegen zwölf Uhr am Mittag an. Sie ist dann ganz ungestört, weil ihre Frauchen bei der Arbeit sind. Von Inge weiß sie, dass auch sie um diese Zeit immer ungestört ist. Die Kinder sind in der Schule, meine Frau bei der Arbeit, und ich sitze hinter verschlossener Tür in meinem Arbeitszimmer, denn ich bin Schriftsteller und schreibe meine Bücher zu Hause. Manchmal fällt mir jedoch nichts ein. Dann starre ich vor mich hin, und von einem solchen Tag will ich nun berichten, denn es war der Tag, an dem diese Geschichte beginnt.

Ein denkwürdiger Tag oder das Geheimnis meiner Ohren Ich saß also im Arbeitszimmer und starrte vor mich hin, weil mir nichts einfiel. Denn fällt mir keine Geschichte ein, komme ich mir schnell sinnlos vor, wie ein Fußballspieler vielleicht, der in kurzer Hose und mit Fußballschuhen an den Füßen auf einem Rasen steht, aber keinen Ball hat, oder wie ein Gastwirt ohne Gäste, oder wie ein Affe, der keinen Baum zum Klettern hat. Das Schlimmste aber ist, dass ich dann immer beginne, andere, die genau wissen, was sie an einem Tag zu tun ­haben, zu beneiden. Zum Beispiel beneide ich, während ich so vor mich hin starre, plötzlich meine Frau, weil sie jeden Morgen zur ­Arbeit fahren darf. Noch mehr aber beneide ich un­sere Kinder, weil sie jeden Morgen in die Schule gehen dürfen. An diesem denkwürdigen Tag aber dachte ich das nicht. Schon seit einer Woche saß ich da und starrte vor mich hin, ohne dass mir etwas eingefallen war. In dieser langen Zeit hatte ich meine Frau und meine Kinder schon oft genug beneidet. Deshalb überlegte ich jetzt, wen ich noch beneiden könnte, und da kam mir unsere Inge in den Sinn.

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Sie hat es doch von allen am besten, dachte ich. Morgens geht sie mit mir in den Park, und danach kann sie sich, so lange sie möchte, in ihrem Körbchen im Wohnzimmer ausruhen. Nie stellt ihr jemand eine Aufgabe und nie muss sie sich um etwas kümmern. Sie muss nicht zur Schule oder zur Arbeit, sie muss sich auch keine Geschichte ausdenken oder Geld verdienen. Nicht einmal einkaufen gehen muss sie oder kochen oder den Abwasch machen. Selbst die Haare muss sie sich nicht schneiden lassen. Dafür hat sie den ganzen Tag frei und wird sogar noch von uns bedient. Das Essen wird ihr vorgesetzt, das Kissen in ihrem Körbchen wird regelmäßig aufgeschüttelt, dann wird sie noch einmal in der Woche gebürstet, und immer sind alle lieb zu ihr. Ja, dachte ich, so gut wie un­ sere Inge möchte ich es auch mal haben. Ein Hund müsste man sein, dachte ich und drückte den Wunsch innig an mich. Auch als jetzt, an diesem denkwürdigen Tag, das Telefon im Wohnzimmer klingelte, war ich noch selig in diesem Wunsch verfangen. Deshalb hatte ich an diesem denkwürdigen Tag auch nicht die geringste Lust, von meinem Schreibtisch auf­ zustehen, ins Wohnzimmer zu gehen und den Anruf entgegenzunehmen. Soll doch Inge heute rangehen, dachte ich noch, und irgendwann, nach langer Zeit, hörte es dann auch auf zu klingeln. Mir war aber, als wenn ich jetzt irgendetwas anderes hörte. Gleichzeitig merkte ich, wie sich meine Ohren

langsam zur Tür hin drehten, hinter der Inge um diese Zeit gewöhnlich in ihrem Körbchen schläft. Es ist nämlich so, dass ich meine Ohren in die Richtung bewegen kann, aus der sie etwas Spannendes zu ­erlauschen erhoffen. Das ist ein Geheimnis, weil ich es nie zeige, wenn andere Menschen dabei sind. Dazu sieht es doch zu merkwürdig aus und könnte die Leute erschrecken. An diesem Tag aber war ich ganz allein. Wie von selbst stellten sich meine Ohren immer schärfer und immer deutlicher vernahm ich eine seltsame Stimme. Ich beugte den Kopf noch etwas vor, und jetzt vernahm ich, sehr viel leiser zwar, aber immer noch deutlich genug, eine zweite Stimme, ein blechernes Winseln, das nur durch den Telefonhörer kommen konnte. Denn wenn Hunde miteinander sprechen, dann bellen sie nicht, wie die meisten Menschen denken, sondern sie winseln leise. Beinahe wäre ich vor Erstaunen vom Stuhl gefallen. Immerhin hatte ich gerade herausgefunden, dass unsere Inge in ihrem Körbchen lag und mit ihrer einzigen Hunde­freundin Niva telefonierte! Mindestens ebenso aber erstaunte mich, dass ich, obwohl die beiden hündisch win­ selten, jedes Wort ihres eigenartigen Gesprächs verstand. Das kann doch gar nicht sein, sprach ich leise zu mir selbst, und während ich noch ungläubig den Kopf schüttelte, fiel mir ein, dass ich schon als Kind viel besser als meine Mitschüler hören konnte. Wenn der Lehrer mit der Kreide über die Tafel kratzte, musste ich immer jaulen, ­sosehr missfiel mir dieses Geräusch. Ich konnte aber nicht nur viel besser als meine Mitschüler hören, sondern ich

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konnte auch viel besser als sie riechen. Noch vor der ersten Stunde, wenn ihre Schulbrote eingepackt und tief unten in ihren Ranzen lagen, wusste ich, womit jedes einzelne belegt war. Ich habe mich dann noch an viele andere Dinge er­ innert, und irgendwann an diesem Tag schien es mir auch gar nicht mehr erstaunlich, dass auf meinem Kopf, statt Haaren, Pudellocken sprießen. Doch Schluss jetzt damit! Wie alle Schriftsteller neige ich dazu, zu viel von mir und zu wenig von den anderen zu erzählen. Hier aber geht es um Inge und ihre Freundin Niva. Ich bin nur derjenige, der lauscht; und obwohl die Tür zum Wohnzimmer immer fest verschlossen bleibt, ist es, als sprächen die beiden direkt in mein Ohr.

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Was klingelt da eigentlich? Natürlich wollt ihr nun wissen, worüber Inge und Niva am Telefon sprechen. Zuerst aber, das verlangt die Schriftstellerpflicht, will ich euch erzählen, wie die beiden miteinander telefonieren. Vor allen Dingen will ich euch erzählen, wie es gekommen ist, dass sie überhaupt miteinander telefonieren. Die erste Frage, weil sie die leichtere ist, kann ich schnell beantworten. Für gewöhnlich befindet sich Inge, wenn ihre Freundin Niva anruft, gerade in einem Tiefschlaf. So wie ihr in der Nacht, so schläft Inge auch die meiste Zeit des Tages über. Natürlich schläft sie auch in der Nacht tief und fest, aber da ruft Niva ja zum Glück nie an. Ich will damit nur sagen, dass das Telefon, bevor Inge an den Hörer geht, sehr lange klingeln muss. Manchmal fast eine Stunde. Dass Inge überhaupt an unser Telefon geht, liegt daran, dass es ein tragbares Telefon ist und dass ich es seit diesem denkwürdigen Tag jetzt immer, bevor ich in mein Arbeitszimmer gehe, in ihr Körbchen lege. Sie guckt mich dann meist etwas beleidigt an. Eigentlich würde sie nämlich viel lieber schlafen, als mit ihrer einzigen Hundefreundin zu sprechen. Da Niva nun aber ihre einzige Hundefreundin ist, und vor allen Dingen niemand anderes so lange klingeln lässt, 15


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