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Eine magische Sommernacht
Maite Car r anza
Eine
magische Sommernacht Roman
Deutsch von Hanna Grzimek
Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher
Erster Teil
1
Lilian
Lilian, die kleine lila Fee, wippte auf ihrem Weidenblatt nervös hin und her. Nicht größer als der Nagel eines klei nen Fingers und mit ihrer zarten Haut, den samtweichen Flügeln und dem schimmernden Haar war sie eine hüb sche irische Fee, wie dafür geschaffen, von Blüte zu Blüte zu flattern und fröhlich durch die langen Sommernächte der dichten Wälder von Wicklow zu tanzen, dort, wo der Fluss Slaney entspringt, unweit des Berges Tallaght. Doch Lilian war anders als die anderen Feen, nicht so frivol und falsch wie die meisten. Wenn zaghaft die Som mersonne zwischen den alten moosbedeckten Ulmen hindurchzuschimmern begann, überkam Lilian eine tiefe Trauer und Sehnsucht nach der Dunkelheit. Sie war die einzige Waldbewohnerin, die nicht freudig der warmen Jahreszeit entgegensah, in der die Daoine Sidhe, die magi schen Wesen unter den Hügeln, ihre nächtlichen Feste und Feenreigen veranstalteten. Bis nach wenigen Wochen die Kälte zurückkehrte und die schönen Erinnerungen unter Reif und Moder begrub. An diesem Nachmittag empfand Lilian den intensi ven Jasminduft und die Wärme als besonders drückend. Doch sie durfte nicht dem Sommer die Schuld geben. In Wahrheit fürchtete sich die Fee vor dem näherrückenden Treffen mit König Finvana, dem Herrscher der Daoine Sidhe. Manche Iren vermuteten das legendäre Reich der Tuatha De Danann vor den vernebelten Küsten von Pembroke 7
shire, auf einem kleinen Eiland, das den Seeleuten als die Gespensterinsel Hy Breasail bekannt war; doch die meis ten wussten, dass sich die Tuatha De Danann vor langer, langer Zeit nach ihrer Niederlage gegen die Milesier unter die Erde zurückgezogen hatten und mit ihrem geheim nisumwobenen Hofstaat im hohlen Innern der irischen Hügellandschaft hausten. Von ihrer Schlossburg auf Knockmaa aus gaben König Finvana und Königin Oonagh, die alten Götter der Tua tha De Danann, noch immer ihre höfischen Feste, erließen willkürlich Gesetze und regierten über sämtliche Feenwe sen der irischen Wälder. Ein Sonnenstrahl lugte durch die Zweige der alten Eiche hindurch, kletterte Lilians zierliche Füße hinauf, kitzel te sie am Ohr und flüsterte ihr zu: »König Finvana und sein treuer Kammerherr Diancecht sind mit ihren Pferden nur noch eine halbe Meile entfernt.« Lilian dankte ihm, benetzte sich das Gesicht mit Raureif, um munter zu wer den, und kniff sich in die bleichen Wangen. Finvana soll te ihr nicht anmerken, wie geschwächt sie war, sie musste unbeschwert wirken, sorglos und fröhlich. Lilian, die Zeitreisende, besaß die Fähigkeit, die Tren nungslinie zwischen Menschen und Feen zu überschrei ten, und war seit vielen Jahren in beiden Welten unter wegs. Doch nun, so bemitleidete sie sich, war sie ihrer Mittlerrolle zum Opfer gefallen. Obwohl sie als Einzige die Fähigkeit besaß, die Verbindung zwischen Traum und Realität herzustellen und den Geist der Feen zu bewah ren – oder gerade deshalb –, befand sie sich jetzt in einer schrecklichen Zwickmühle. Aus beiden Welten kamen ihr nichts als Klagen zu Ohren. 8
»Da kommen sie! Sie sind da!«, rief das Eichhörnchen von seinem Wipfel herab. Lilian beeilte sich, die Szenerie hier und da noch ein wenig zu verbessern. Um den Monarchen möglichst mil de zu stimmen, ermunterte sie den Distelfink, ein Lied zu singen. Als sein Zwitschern die Schläfrigkeit des Nach mittags verscheucht hatte, bat sie den Sonnenstrahl, das Halbdunkel zu lichten, und die Glockenblumen und Stief mütterchen, ihre Knospen zu öffnen und die Wiesen far big zu schmücken. Im Handumdrehen hatte die Fee ein kleines Idyll geschaffen. Energisch schlug sie nun mit den Flügeln und wuchs und wuchs, bis sie Menschengestalt angenommen hatte. Dabei verteilte sie einen zarten Gold staub, der den Wind besänftigte und Wohlbehagen ver breitete – genau zur rechten Zeit, um ihre Gäste zu emp fangen, zwei Götter, blond und stattlich wie alle Tuatha De Danann. Finvana und Diancecht brachten ihre Pferde zum Ste hen und stiegen fast gleichzeitig aus dem Sattel. Doch wäh rend Diancecht auf beiden Beinen zu stehen kam, rutschte Finvana ab und stürzte geräuschvoll zu Boden. Ein peinli cher Sturz für jeden Reiter, der etwas auf sich hält, beson ders natürlich für einen König. Zwar konnte sich Lilian das Lachen noch verkneifen, doch nicht so ein Pixie, der in unverschämtes Gelächter ausbrach und mit seinen unfläti gen Versen die Stimmung ruinierte. Finvana, der hält sich für ’n fliegenden Gott Schwingt hurtig sich von seinem Ross Und landet im Dreck Dieser fette Koloss!
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»Hahaha …«, ertönte sein widerliches Gelächter. Finvana erblasste, Lilian zitterte von Kopf bis Fuß und Diancecht zog sein Schwert aus der Scheide. »Wer wagt es, König Finvana zu verspotten?«, wetter te der Kammerherr und durchforstete mit jagdgeschultem Blick das dichte Gestrüpp. »Ein getreuer Untertan der Königin Oonagh«, erwider te die spöttische Stimme. Lilian beklagte ihr Pech. Die bloße Erwähnung der ge hässigen Königin brachte ihren Gatten zur Weißglut. Wie wütend musste ihn da erst der Gedanke machen, Oonagh könnte von seinem peinlichen Sturz erfahren. Ihre Possen reißer würden die Sache auf dem bevorstehenden Ernte fest vor allen Leuten zum Besten geben. »Komm raus, du Feigling, zeig dich!«, brüllte Diancecht in Verteidigung der beschmutzten Ehre seines Monarchen. Lilian eilte Finvana zu Hilfe und reichte ihm die Hand. »Ärgert Euch nicht, Majestät. Das ist nur so ein dreister Pixie, der das ganz schnell wieder vergisst.« Diancecht seinerseits half, den Dreck von der könig lichen Nase zu wischen. »Ein vergesslicher Feigling, Majestät. Ein dummer Pixie.« Doch Finvanas Blick verfinsterte sich, als der dumme Pixie laut und deutlich erklärte: »Die Augen des Waldes haben es gesehen, die Ohren des Wassers haben es gehört, und wir schwatzhaften Pixies werden dafür sorgen, dass es niemand vergisst. Es lebe der fette fliegende König!« An seinem wunden Punkt getroffen, versuchte Finva na, die Wölbung seines Leibes zu verbergen, und hielt die Luft an. Das fortgeschrittene Alter und die vielen Bankette rächten sich – und das in einem Königreich, in dem Häss lichkeit unverzeihlich war. 10
»Verfluchter, erbärmlicher Kobold!«, rief Dianchecht. »Ich schwöre dir, ich schneide dir die Zunge ab, schmo re sie mit giftigen Pilzen und bereite der Königin damit ein Mahl!« »Eine prächtige Idee!«, lachte Finvana zufrieden. »Erin nere mich beim nächsten Bankett daran.« Dann fügte er in wehleidigem Tonfall hinzu: »Und verbiete mir, bis zur Kavalkade zu essen.« »Jawohl, Eure Majestät.« »Du hättest mich warnen müssen.« »Ich habe nichts Außergewöhnliches bemerkt, Majes tät.« »Ach nein? Ich kann nicht mal mehr meine Füße sehen.« »›Dick ist gemütlich‹, heißt es bei den Menschen.« »Ich bin weder ein Mensch noch gemütlich!« »Sehr wohl, Majestät. Bis auf Weiteres sei es Euch unter sagt, Nahrung zu Euch zu nehmen.« »Bis mein Bauch verschwunden ist«, beharrte Finvana. »Wie Ihr wünscht«, erwiderte Diancecht, »doch ich muss Euch warnen. Ihr bekommt furchtbar schlechte Laune davon.« »Noch schlechtere bekomme ich, wenn sich die Köni gin über mich lustig macht.« »Allerdings«, bestätigte Diancecht bei dem Gedanken an Oonaghs feinen Sarkasmus. Da lächelte der König mit einem Mal vergnügt. »Aber ich werde mich doppelt und dreifach rächen. Sie wird toben, wenn sie von meiner neuen Errungenschaft erfährt. Erzähl mir von ihr, Lilian.« Lilian biss sich auf die Lippen und brachte kein Wort heraus. »Ich höre nichts, Lilian. Sie reitet also wie eine Amazo 11
ne, spricht etliche Sprachen, musiziert wie ein Engel und ihr Haar schimmert wie der Sonnenaufgang?« »Gewiss, Majestät, obwohl –« »Hat sie gute Manieren?« Lilian zögerte. »Menschen lernen sehr langsam.« »Du bekommst keinen Aufschub mehr, Lilian, ich war te nicht noch einmal sieben Jahre.« »Obwohl sie in sieben Jahren viel besser –«, stammel te die Fee. Doch der König schnitt ihr das Wort ab. »Zwischen einer blühenden und einer welken Schönheit ist kein Ver gleich. Die Menschen verlieren sehr schnell an Pracht.« »Ihr irrt, Majestät, die Mädchen der Menschen sind kleine Irrwische und unberechenbar, die jungen Frauen dagegen haben noch dieselbe glatte Haut, sind aber viel sanfter«, beharrte Lilian nachdrücklich. Da schaltete sich Diancecht ein: »Willst du damit andeuten, dass du dein Wort nicht halten kannst?« »In keiner Weise.« »Versuchst du nicht gerade, um Aufschub zu bitten?« »Vielleicht –« »Abgelehnt.« »Aber ich will doch nur, dass alles glatt läuft –« »Deshalb sind wir hier, um uns zu vergewissern, dass alles glatt läuft. Wird es glatt laufen? Antworte!«, dräng te sie Diancecht. Lilian nickte verzweifelt. »Selbstverständlich.« Diancecht, die Stimme seines Herrn, des Königs, schob sich eitel den Pony zurecht und näherte sich mit seinem zuckersüßen Blick der lila Fee. »Liebe Lilian, du wirst dei nen Auftrag in der kommenden Woche endgültig ausfüh ren. Nichts darf dem Zufall überlassen werden. Alles muss 12
nach Plan verlaufen. Wir haben dich vor drei Jahren damit betraut, Finvanas Wunsch zu erfüllen, weil wir dich für absolut zuverlässig hielten. Solltest du jedoch dein Wort brechen, dann …« Er räusperte sich. »Ich halte mein Wort, seid ganz unbesorgt.« »Andernfalls … Du weißt ja.« Lilian senkte den Blick. »Ich habe verstanden.« »Ausgezeichnet.« Finvana klatschte in die Hände. »Ich brenne darauf, Oonagh mit einer Milesierin zu demüti gen. Eine solche Schmach wird sie nur schwer ertragen.« »Sprecht leise, mein Herr«, versuchte Diancecht ihn zu zügeln, »sie darf davon nichts erfahren!« Doch Finvana wollte, dass man ihn hörte. »Doch. Be stimmt erzählen Oonaghs Spione ihr in genau diesem Au genblick von meinen Plänen, und sie tobt bereits vor Wut.« Lilian erbebte. »Das bedeutet, dass sie möglicherweise versuchen wird, es zu verhindern!« Finvana zuckte die Schultern. »Vielleicht.« »Majestät, damit machen wir es Lilian sehr schwer«, kam Diancecht der Fee zu Hilfe. »Vielleicht.« Diancecht warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. Der Egoismus des Königs war grenzenlos. »Kennt ihr die größte Qual aller Qualen?«, fragte Fin vana und genoss die Antwort schon im Voraus. Beide wussten, dass sie ahnungslos tun mussten, damit Finvana sich selbst antworten konnte. Was er auch feier lich tat: »Seine bevorstehende Qual zu kennen und sie nicht verhindern zu können. Dieses Leid füge ich Oonagh alle sieben Jahre zu, das ist meine Rache!« Da erklangen die spöttischen Stimmen der Pixies im Chor: 13
König Finvana geckenhafter als ein Geck Fliegt vom Gaul Fällt aufs Maul und Landet im Dreck! Diancecht wollte den frechen Kobolden etwas erwidern, doch sein König hieß ihn zu schweigen. Als sie keine Widerworte hörten, riefen sie: »Lang lebe der fette Finva na, der fliegende König!« Finvana stieg aufs Pferd und lächelte Lilian zu. »Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Stimmt’s, liebe Lilian?« Lilian nickte demütig. »Diancecht, ab sofort trägst du die Verantwortung für meinen Bauch, bis zur Kavalkade muss der weg sein.« Lilian schüttelte es. Eine undankbarere Aufgabe konn te ein Monarch seinem Kammerherrn kaum übertragen. Um nichts in der Welt hätte sie in Diancechts Haut stecken mögen. Obwohl ihre Lage, wenn sie es sich recht überleg te, noch weit aussichtsloser war. Als die beiden Reiter nur noch ein dunkler Fleck in der Ferne waren, nahm die lila Fee wieder ihre ursprüngliche Gestalt an und brach in Tränen aus. »Hey, hey, beruhige dich«, tröstete sie eine freundli che Stimme. Als Lilian aufsah, erkannte sie durch den Tränenschlei er hindurch die schlanke Silhouette der purpurroten Fee. »Ach, Herrin, ich kann mein Versprechen nicht einhalten!« Die purpurrote Fee lächelte ihr zu. »Einen Moment, wir werden doch nicht den gleichen Fehler begehen wie der König, meinst du nicht auch?« Dann hob sie die Stim me gegen den dichten Wald und rief, nicht ohne Spott: »Ihr 14
lieben Pixies, tut mir leid für euch und eure heilige Mis sion als Spione der Königin!« Ein simples Fingerschnippen und ein unverständlicher Singsang beförderten die beiden Feen in die Schlucht am See, wo es weit und breit weder neugierige Augen noch Ohren gab. Dort rief die purpurrote Fee Lilian zur Ver nunft. »Hör zu, meine Liebe: Nichts ist verloren – es ist ja noch gar nichts geschehen.« Lilian war da anderer Meinung. »Herrin, Ihr wisst sehr gut, was passiert ist. Es ist furchtbar, aber ich bin nicht fähig, mein Versprechen einzuhalten. Wie hätte ich dem König denn die Wahrheit sagen sollen? Ich kann ihm die Milesierin nicht aushändigen, ich habe es Euch ja schon erklärt.« Die purpurrote Fee strich ihr schweigend übers Haar. »Vor drei Jahren«, fuhr Lilian fort, »als ich mich zu all dem verpflichtete, hatte ich keine Ahnung, wie schwierig es werden würde.« »Komm, trockne deine Tränen, ich werde dir helfen.« »Wirklich?« »Natürlich, ich habe eine großartige Idee, wie sich alles klären lässt.« »Danke, Herrin!«, rief die kleine Lilian aus und küss te ihrer Beschützerin die Hand. »Dafür werde ich Euch ewig dankbar sein.« »Willst du nicht wissen, warum ich dir helfe?« »Warum?« Schmeichlerisch schlang die purpurrote Fee die Arme um sie und wisperte: »Weil du jung und einfältig bist und mir etwas beschaffen kannst, das ich gern hätte.« »Und was?« »Errätst du es nicht selbst?« 15
»Nein, Herrin, ich habe nicht die leiseste Ahnung …« Die purpurrote Fee seufzte herablassend. Lilian war wirklich noch sehr jung und einfältig.
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Marina
Es war schwül. Schwül war gar kein Ausdruck. Die Luft an diesem Julinachmittag war drückend, lähmend, die reins te Hölle. Das war schon näher dran. Was für ein unerträg licher, entsetzlicher Nachmittag, einfach zum Verzweifeln. Zum Verzweifeln, der Ausdruck gefiel ihr. Das kam ihren Qualen noch am nächsten. Verzweiflung einer Verzweifel ten, die nichts mehr zu erwarten hat. Auch wenn es heißt: »Die Hoffnung stirbt zuletzt« – Marina hatte kein Fünk chen Hoffnung mehr. Die war vor Hitze, vor Überdruss und Langeweile während dieser nicht enden wollenden täglichen Mathematikstunden längst draufgegangen. Zu allem Übel hieß sie auch noch Marina. Was, außer nach Margarine, höchstens noch nach Meer klang. Das Meer. Ironie des Schicksals. Dass es überhaupt existierte, sagte ihr nur ein Blick auf die Landkarte oder auf ihre Schwester Ángela, die sich Tag für Tag in das blaue Nass werfen durfte und unverschämt braun war. Und die mit dieser unverschämten Bräune den ganzen August lang durch die Straßen von Dublin schlendern würde in Beglei tung des hübschesten Jungen der Welt, während Marina in dieser Nachhilfeschule vor sich hin schmorte. Warum hatten manche so ein Glück und andere so ein Pech? Das Leben war einfach ungerecht. In diesem Sommer hatte Marina das Meer nicht mal gerochen. Da saß sie nun mit ihrem tollen Namen, der Matheblamage und ihrer unbändigen Lust auf Strand, 17
gefangen in Sant Feliu de Llobregat, einem kleinen Kaff unweit von Barcelona, nur dass es hier keine Touristen oder Sommergäste gab und auch sonst nichts los war. Im Sommer legte sich ein klebriger Dunst über Straßen und Plätze, der eine Massenflucht hervorrief. Gegen Ende Juli verwandelte sich Sant Feliu in eine Geisterstadt. Bäckerei en, Apotheken und Cafés ließen die Rollläden runter und hängten ihre Während-der-Ferienzeit-geschlossen-Tafeln auf, und in der trist gewordenen Fußgängerzone fielen gelangweilt die welken Platanenblätter zu Boden. Nicht ein Fahrrad, ein Eis, ein Lachen, das der Gewissheit wider sprach, alles Leben in Sant Feliu sei ausgelöscht. Frustriert starrte Marina auf die Tafel voller Zahlen. Was hatte sie bei dreiunddreißig Grad im Schatten nur in einem Klassenzimmer verloren? Sie versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, der Sommer sei nur eine Erfindung, eine große Lüge wie der Weihnachtsmann oder der Oster hase. Aber nein. Prompt kam so ein kleines Wesen ange flogen, ein schlagender Beweis des Sommers, der sich da draußen genüsslich breitmachte. Ein Bote, der verkünde te, dass die Welt voller glücklicher Menschen war, die im Wasser plantschten und Wassermelone aßen. Erst war es nur ein kaum hörbares Sirren, das jedoch sofort in einem vor sommerlicher Freude nur so sprühenden winzigen Schatten Gestalt annahm: eine riesige Mücke. Eine Mücke, die gerade an der Glatze des Mathematiklehrers vorüber schwirrte, der ohne Rücksicht auf die Gefühle seiner Mit menschen unentwegt Formeln an die Tafel kritzelte. Und Marina, einzige Schülerin auf dem gesamten Planeten Erde, sah die vage Möglichkeit aufblitzen, eine Stunde früher von ihren Qualen erlöst zu sein. Die Mücke müsste nur angreifen. Ein schöner Stich, ein Aufschrei, ein Hieb, ein 18
»Wir machen morgen weiter!«, eine hektische Flucht aus dem Klassenzimmer. Und wieder ein Tag überstanden. Seit sie die Hoffnung auf Erlösung verloren hatte, konzentrier te sich Marina verzweifelt darauf, die Tage im Kalender zu zählen, die sie noch durchhalten musste. So schlecht war sie im Rechnen gar nicht. Mit aller Kraft fixierte sie die Mücke und flehte sie inständig an, sich doch auf diese hübsche Glatze zu set zen und es sich schmecken zu lassen. »Und ein Neuntel mal sechs ergibt …?« Keine Antwort. Marina war schließlich nicht Einstein und konnte nicht zwei Dinge auf einmal tun. »Weißt du das denn nicht?« »Es ist nur … da ist … da ist eine Mücke«, stammel te sie. »Marina, das ist wirklich die dümmste Ausrede, die ich je gehört habe. Fällt dir keine bessere ein?« Und auf einmal stach diese Verräterin von Mücke Mari na in die Hand. Erschrocken zuckte sie zusammen. Natür lich – ihr Brot fiel immer auf die Marmeladenseite! Ihre Schwester Ángela bekam die blauen Augen, die hübschen Jungs, die guten Noten und fläzte sich jetzt am Strand, sie dagegen hockte in diesem Loch und ließ sich von Mücken stechen. Doch so schnell gab sie nicht auf. »Aua, aua, es tut so schrecklich weh! Mein Daumen schwillt richtig an.« Der Glatzkopf kam ins Schwitzen. Vielleicht, weil es so heiß war, oder aus Verlegenheit, weil er seiner Schülerin nicht geglaubt hatte. Das geschah ihm nur recht – sollte er sich doch schuldig fühlen und ein bisschen schwitzen! »Übertreibst du nicht etwas?« Natürlich übertrieb sie. Nach angestrengten zwei Minu 19
ten gelang es ihr, zwei dicke Tränen ihre Wangen herun terkullern zu lassen und herzerweichend zu schluchzen. Der Glatzkopf zögerte, lugte auf die Uhr, räusperte sich und legte schließlich die schweißnasse Kreide zur Sei te: »Na gut, geh schon … Wir machen dann morgen wei ter und –« Bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, war Mari na schon draußen. Doch nicht nur sie. Zu ihrer Verblüf fung war ihr die Mücke gefolgt und surrte um ihren Kopf herum, als wollte sie ihre Mahlzeit fortsetzen. Wie nervig. Marina rannte los, um so schnell wie möglich nach Hau se zu kommen. »Marina, Marina!«, hörte sie auf einmal jemanden lei se nach ihr rufen. Sie blieb stehen, sah sich um, konnte aber niemanden entdecken. Wer würde sich um diese Zeit auch auf das kochende Straßenpflaster wagen? Die Sterblichen, die sie kannte, waren am Strand oder im Schwimmbad, oder sie lagen auf dem Sofa ihres klimatisierten Wohnzimmers. »Marina.« Kein Zweifel. Da war ein Surren, eine Stimme, die aus einer anderen Dimension zu kommen schien, vielleicht aus der der Träume. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. War das womöglich Patricks Stimme – Patrick, von dem sie jede Nacht träumte? Dieser Ire mit dem gefühlvollen Blick und dem strahlenden Lächeln, an den sie unentwegt denken musste? »Marina.« Die Stimme war leicht wie der Wind, flötenähnlich, eher weiblich. Erneut blieb Marina stehen und sah sich um. Vergeblich. Sie war vollkommen allein auf der Straße. Nicht ein Auto, nicht ein Passant, nicht einmal eine ange 20
lehnte Balkontür, die auf irgendeine menschliche Regung schließen ließ. Abgesehen von einer Mücke. Und da sah sie sie erst richtig. Das war ja gar keine Mücke! Mücken können schließlich nicht sprechen und haben kein blondes Haar auf dem Kopf oder zwei perfek te Füßchen mit den dazugehörigen Zehen. »Ángela geht es sehr schlecht«, gab das winzig kleine, undefinierbare fliegende Wesen, das sie gerade noch für eine Mücke gehalten hatte, laut und deutlich von sich. Marina klappte den Mund auf und wieder zu. Sie hat te richtig gesehen. Was da eine Handbreit vor ihrer Nase mithilfe zweier winziger, durchsichtiger Flügel umherflat terte, war ein Mädchen, kaum größer als der Nagel ihres kleinen Fingers und bekleidet mit einem lila Blütenblatt. In ihrer Hand glänzte ein spitzer Gegenstand, eine hauch dünne Nadel, die sie zuvor in Marinas Finger gerammt hatte, daher die Verwechslung mit einem Mückenstich. Es war keine Erscheinung. Das hier dachte sie sich nicht aus. Oder doch? »Lauf, geh schnell nach Hause!«, beharrte die Halluzi nation. »Ángela braucht dich, hörst du?« Aber sie hörte die Worte des winzigen, fliegenden Ein dringlings nicht mehr. Ihr Gehirn trat in Denkstreik und schaltete sich ab. Sie strauchelte, schnappte wie ein Fisch nach Luft, spürte noch, wie ihr die Knie weich wurden und einknickten. Dann verlor Marina das Bewusstsein.
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3
Raeyn
Der Horizont ist rot getönt. Es dämmert. Raeyn schleicht sich den Hügel hinauf und nimmt die Burg mit ihren sechs runden Türmen ins Visier. Stirnrunzelnd lässt er seinen Blick ein ums andere Mal über das massive Mauerwerk wandern. Kein einziger Spalt oder Riss. Die Steinquader sind fest ineinandergefügt, aber da! Seine scharfen Augen, unendlich schärfer als die eines Menschen, erspähen etwas zwischen dem zweiten und dem dritten Turm, eine Geheimtür. Hab dich, Trumble, Amigo!, denkt er, während er zurückschleicht, hinunter in den Schutz des schattigen Waldes. Raeyn lässt sich so leicht von nichts einschüchtern. Er ist ein furchtloser Nachtelf-Jäger, der die Herausforderung liebt. Er freut sich schon auf die bevorstehende, vermutlich unvergessliche Schlacht. Trumble ist clever. Die Macht des smaragdgrünen Drachen ist legendär, und nur wenige, sehr wenige haben sich bisher getraut, es mit ihm aufzunehmen, um ihm die Beute zu entreißen, die er misstrauisch hortet. Raeyn trägt ein mit einem Ledergurt umfasstes silber nes Panzerhemd und weiche Hirschlederstiefel, und an seiner Hand funkelt der Ring, den er in der legendären Schlacht gegen Reslof erbeutet hat. Dank des Sárgum-Tarn umhangs von seinem letzten Raubzug ist er zwischen den hundertjährigen Eiben kaum zu erkennen. Und doch muss ihn jemand entdeckt haben, denn ohne Vorwarnung fallen Schüsse und dringen in die Eibe hinter ihm ein. Um ein Haar hätte es ihn erwischt. Er wirft sich zu Boden 22
und zieht sich die Kapuze über den Kopf. Jetzt ist er völ lig unsichtbar und außer Gefahr, zumal sein Gegner nicht besonders treffsicher zu sein scheint. Da, ein Knacken, leise, aber laut genug, um seinen Jagd instinkt zu wecken. Grinsend tastet er nach seinem Dolch. Er hält den Atem an. Dieses schwerfällige Gestapfe, das kann nur der Gnom sein, das stummelbeinige, langohri ge Großmaul. Mit einem Satz ist er hinter ihm, packt ihn an Schultern und Armen, setzt ihm die Waffe an den Hals und schreit: »Keine Bewegung, Mirior!« Mirior strampelt und schnaubt. Er will sich umdrehen, doch der Dolch bohrt sich ihm ins Fleisch. »Was machst du da? Lass mich los!« »Du wolltest mich abknallen!« »Raeyn, lass mich los, oder du wirst es bereuen.« »Nicht, bevor du nicht zugegeben hast, dass du mich umbringen wolltest.« »Ich?« »Hier ist der Ast, den die Schüsse zerfetzt haben, den kann ich gern allen zeigen!« Mirior entspannt sich. »Ach was, das hast du dir nur eingebildet. Ich hab doch nicht auf dich geschossen, ich hab nur geübt.« Raeyn kennt die Methoden feiger Hexer. »Du wusstest genau, auf wen du zielst.« »Komm schon, Raeyn, tut mir leid, ich hab dich mit ’nem Frosch verwechselt«, antwortet Mirior verächtlich. Er hält sich für sehr witzig, doch über Miriors Scher ze konnte Raeyn noch nie lachen. Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Dabei kämpfen sie auf derselben Sei te. Hat der Gnom wirklich auf ihn gezielt? Soll das etwa eine Kampfansage sein? 23
Auf einmal zucken beide zusammen. Leise Schritte sind zu hören. Unwillkürlich fährt Raeyn sich durchs Haar, den warlock immer im Auge, der sich seinerseits räus pert. Es ist Thana, die menschliche Magierin mit den Katzen augen und der tiefen melodischen Stimme. »Na, auf Raubzug?«, sagt sie und lächelt. »Hinter Mäd chen her natürlich.« Raeyn und Mirior sind perplex. »Ich hab euch auf der Lauer liegen sehen … Da hab ich mir gedacht, ich schau mal in eurem Jagdrevier vorbei.« Nur mühsam kann sich Raeyn ein Lächeln abringen. Er ist von Natur aus schüchtern, und Thana fasziniert ihn zu sehr, als dass er das Risiko einginge, sich mit irgendeinem dummen Spruch zu blamieren. Glücklicherweise erscheint in diesem Moment noch jemand auf der Bildfläche und drängt sich, munter seine Axt hin und her schwingend, zwischen sie. »Salute, Freunde. Dir zu Füßen, werte Thana. Ihr habt wohl gedacht, ihr wärt mich los?« Er lacht dröhnend. »Varlik, der Zwerg, gibt niemals auf, und schon gar nicht gegen den alten Drachen Trumble. Zeigen wir’s ihm! Ich kann’s kaum erwarten.« Seine Herzlichkeit ist ansteckend. Die Anspannung löst sich. Mit Varlik scheint jeder raid schon so gut wie gewonnen. Nach und nach treffen die anderen ein. Losungen und Grüße werden gewechselt. Jerjes, ihr Anführer, ein mit Juwelen bedeckter Nachtelf-Priester mit zahlreichen Rin gen über den Handschuhen, versammelt sie schließlich alle um sich und erklärt ihnen seine Strategie. »Wir haben eine exzellente Truppe. Ich baue auf die 24
Ausdauer der tanks, die Stärke der rogues und das Geschick der hunters.« Raeyn hört beeindruckt zu. Dieser Jerjes hat Charisma und ist tougher als jeder andere. Nie wankt er in seinen Entscheidungen. Und er verfügt über die besondere Fähig keit, seine Krieger in Begeisterung zu versetzen. »Trumble ist kein leichter Feind. Wir werden viel mana brauchen, viel DPS und alle unsere Waffen.« Jubelnd heben sie die Schwerter, Äxte, Hämmer, Bögen und Armbrüste. »Wie ihr wisst«, fährt Jerjes fort, »ist der alte Drache Trumble im Nahkampf besonders gefährlich, in null Kom ma nichts pustet er uns mit seinem bloßen Atem einfach um. Achtung vor seinem mörderischen Schwanz und sei ner tödlichen Taktik der verbrannten Erde!« Raeyn zittert vor Aufregung, wie vor jeder Schlacht. Die nahende Gefahr erfüllt ihn mit Energie. Jerjes sieht jedem Einzelnen in die Augen wie ein erfahrener General, der den Zustand seiner Truppen prüft, und fährt fort: »Wir müssen irgendwie die Mauern bezwingen.« Raeyns Augenblick ist gekommen. Er schielt zu Thana. »Das wird nicht nötig sein, es gibt eine Geheimtür.« Seine Stimme zittert. Von allen Blicken, die sich auf ihn richten, nimmt er nur den schneidend scharfen Blick des Gnoms und die liebevollen Augen Thanas wahr. »Bist du dir sicher?«, fragt Jerjes zweifelnd. »Absolut!«, ruft Raeyn. »Zeigst du sie uns?« Raeyn läuft zum Pfad am Rand der Lichtung, spannt seinen Bogen und schießt einen Pfeil ab, der fast laut los durch den nächtlichen Himmel schwirrt und in einer Mauerrille stecken bleibt, genau bei der Geheimtür. 25
»Unglaublich!«, ruft die menschliche Magierin bewun dernd aus. Raeyn reckt sich stolz. Jerjes ist begeistert und gibt sofort den Befehl zum Aufbruch. »Los geht’s!« »Das ist zu einfach«, murrt der Gnom. »Diese Tür könnte eine Falle sein.« Raeyn beißt sich auf die Zunge. »Es wird uns genauso ergehen wie beim Überfall auf den Kerker von Serbrun«, fährt der warlock fort. »Wir werden in einen Hinterhalt geraten.« »Hier ist sie! ’ne Wahnsinnstür!«, ruft der Varlik freu dig aus. Alle laufen zusammen. Der Zwerg schlägt mit seinem Streitkolben dagegen, doch die Tür bewegt sich keinen Millimeter. Daraufhin macht Thana ihm Zeichen, zur Sei te zu treten, bündelt ihre Zauberkräfte und sendet einen Feuerball aus. Geschafft! Die rostigen Angeln quietschen, die alte Steintür öffnet sich einen Spalt. Elfen, Menschen, Zwerge, Gnome und Draeneis werfen sich gemeinsam dagegen, bis sie endgültig nachgibt. Vor ihnen gräbt sich ein dunkler Gang in die Erde, der sich um den Burghof zu schlängeln scheint. Vermutlich führt er genau in Trumbles unterirdisches Verlies. »Großartig, Raeyn!«, lobt Jerjes, tief beeindruckt. Das nächste Hindernis ist der unterirdische Wassergra ben. Ihn zu durchqueren ist ohne Magie unmöglich. Die Magier und Hexenmeister müssen ihre Gefährten vorü bergehend buffen, ihnen die Gabe übertragen, unter Was ser zu atmen. Raeyn ist unter den Letzten. Er hat auf Tha na gehofft, aber irgendjemand hat darauf bestanden, dass sie sich früher auf den Weg macht. Unerklärlicherweise übernimmt der Gnom Mirior für ihn das buffen. 26
Mutig springt Raeyn ins Wasser, aber aus dem Augen winkel sieht er das Grinsen des Gnoms und ahnt Böses. Doch er kann sich problemlos unter Wasser fortbewegen. Bis er auf einmal merkt, dass irgendetwas nicht stimmt. Auf halber Strecke spürt er einen schrecklichen Druck auf der Brust. Er kann nicht mehr atmen! Der Zauber des warlock hat aufgehört zu wirken. Verzweifelt krault er nach oben, aber er ist noch immer in der unterirdischen Höh le und stößt mit dem Kopf gegen die Decke. Überall Was ser. Völlige Finsternis. Der Tunnel wird enger und enger. Er hat die Wahl zwischen Weiterschwimmen und Ster ben. Seine Angst darf ihn nicht lähmen, das wäre fatal. Er zwingt sich, Arme und Beine automatisch zu bewe gen, während sein Herz mit letzter Kraft Blut in die Lun gen pumpt, in die bereits Wasser eingedrungen ist. Da, ein Lichtstrahl in der Ferne! Verzweifelt klammert er sich an diesen Hoffnungsschimmer. Aber er kann nicht mehr. Im selben Moment spürt er schon, wie seine Kräfte ihn ver lassen und sein Herz aufhört zu schlagen. Gleich ist es aus mit ihm. Er wird sterben! Mit allerletzter Kraft versucht er sich nach vorne zu werfen und erschlafft in dem Moment, als Thana vor ihm auftaucht und ihn mit dem rettenden Lebensodem bufft. Raeyn öffnet ungläubig die Augen. Er lebt! Von einem Moment auf den anderen kann er wieder atmen und sich zügig im Wasser fortbewegen. Mirior hat also schon wie der versucht, ihn umzubringen. Diesmal wird er dafür büßen! Aber der Gnom kommt ihm zuvor. Er erreicht das Ufer wenige Sekunden vor Raeyn, streckt ihm mit hängendem Kopf die Hand hin und raunt angeblich untröstlich: »Tut mir so leid, da muss ich mich verrechnet haben. Wahr 27
scheinlich deshalb, weil du ein bisschen wie ein Frosch aussiehst.« Raeyn weiß, niemand würde ihm glauben, wenn er Mi rior des versuchten Mordes beschuldigte. Warum sollte ein Gnom auch kurz vor einer Schlacht einen befreundeten Elf lynchen wollen? Also nimmt er seine Hilfe an, kann sich aber ein vorwurfsvolles »Um ein Haar wär ich ertrun ken« nicht verkneifen. »Ich hab gleich gemerkt, dass du zu lange brauchst, du bist doch sonst immer der Schnellste«, sagt Thana erleich tert. Raeyn spürt einen Knoten im Hals. Thana hat sich Sor gen um ihn gemacht und hält ihn für einen schnellen, fähi gen Elfen. Es muss an ihrem guten Einfluss liegen, dass er nicht zu seinem Dolch greift und auf den Gnom losgeht. »Ohne deine Hilfe wäre ich ertrunken. Thana, ich ver danke dir mein Leben.« Ein wütendes Fauchen, das tief aus der Erde zu dringen scheint, lässt ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Der Smaragddrache! Trumbles Kriegsgebrüll. »Ihr da, Varlik, Mirior, Thana und Raeyn, durch den Tunnel da links!«, befiehlt Jerjes hastig. So ein verdammtes Pech! Jerjes schickt Mirior mit ihm mit. Er glaubt wohl, der Nahkampf könnte ihre gegensei tige Solidarität stärken. Behutsam tasten sie sich im Dunkeln vor, zögern an jeder Abzweigung und lassen sich von ihrem Instinkt oder dem Schicksal leiten. Raeyn weicht Thana nicht von der Seite. Solange er bei ihr ist, wird ihr nichts zustoßen, schwört er sich. Aber Trumble spürt sie auf. Es wird immer heißer in der Höhle, je näher der Drache kommt. Die Mau ern glühen. 28
»Achtung, zur Seite!«, ruft Varlik. Als tank führt er die kleine Truppe an und als guter warrior wittert er den Drachen vor allen anderen. Tha na zückt ihre Eislanze, Raeyn spannt die Armbrust. Da ist er! Riesig und dabei erstaunlich wendig. Trumble stellt sich auf die Hinterbeine und speit von hoch oben einen zerstörerischen Feuerstrahl auf sie herab, der Raeyns Stie felspitzen versengt. Gleichzeitig ist der Smaragddrache geradezu atemberaubend schön. Raeyn erkennt darin ein gefährliches Ablenkungsmanöver und schreit: »Nicht in die Augen sehen!« Varlik, der Zwerg, wäre dem Zauber um ein Haar verfal len, aber er reagiert auf der Stelle und wendet den Blick ab. Die Bestie will sich wütend auf ihn stürzen. Schon bohren sich dem Drachen Raeyns Pfeile und Thanas Eislanze ins Fleisch. Er jault laut auf. Nach und nach werden Raeyns Pfeile immer ungenauer. Seine Energie ist langsam erschöpft. Hilfesuchend wen det er sich an Thana: »Mein mana ist fast aufgebraucht!« Seine Freundin reicht ihm einen magischen, mit ihrem Duft und ihrem Liebreiz getränkten Edelstein, und schon nimmt er den Kampf mit neuen Kräften wieder auf. »Raeyn!«, ruft da die menschliche Magierin erschro cken. »Varlik hält nicht mehr lange durch.« Sie hat recht. Zu lange schon muss der tapfere Zwerg die gesamte Wut der Bestie mit seinem Plattenpanzer abwehren. »Der Drache ist ihm weit überlegen.« Varlik ist der einzige tank unter ihnen, niemand kann ihn ablösen. Ihre Kräfte aufzuteilen, war keine gute Idee gewesen. Sie brauchen dringend Verstärkung. Thana fleht Raeyn an: »Leite seine aggro um auf mich.« 29
Als hunter hat Raeyn die Fähigkeit, die Wut des Dra chen von Varlik auf jemand anderen umzulenken. Aber erst muss er ganz sichergehen, dass Thana gegen den Angriff gewappnet ist. Nein, sie ist dem Drachen zu nahe! Trumble würde sie mit einem Prankenhieb aus dem Weg schleudern. »Geh weg von ihm!«, ruft er ihr zu. Thana macht einen Schritt zurück, doch irgendetwas verstellt ihr den Weg. Es ist der Gnom, der hinter ihr Schutz sucht. »Platz da, Mirior!«, befiehlt ihm Raeyn. Doch Mirior rührt sich nicht von der Stelle. »Kämpfst du gegen den Drachen oder gegen uns?«, knurrt Raeyn wütend. »Tu es! Leite seine aggro um auf mich, sonst wird Var lik sterben!«, ruft Thana noch einmal. Varliks Leben hängt an einem seidenen Faden. Raeyn beschließt, den Hass der Bestie auf den Gnom zu lenken. Auch er soll sein Fett wegbekommen. »Was tust du denn da?«, ruft Thana, als sie sieht, in welche Richtung der Arm des Elfen zeigt. »Du wirst ihn töten!« Zu spät. Raeyn hat den Drachen bereits auf Mirior gehetzt. Es ist falsch von ihm, denn er ist der Schwächs te von allen, aber er kann nicht zulassen, dass Thana auch nur ein Haar gekrümmt wird. Der Gnom schreit vor Entsetzen auf. Schon bald hat der Drache nur noch Augen für ihn. Seine ganze Wut wendet sich gegen das feige stummelbeinige Langohr. Mit einem spektakulären Sprung lässt der Drache Varlik links liegen, fliegt über Thana und Raeyn hinweg, ohne sie auch nur zu berühren. Sein Ziel ist jetzt der Gnom, er kommt direkt 30
auf ihn zu, seine Feueraugen bohren sich in den warlock und seine Krallen holen schon aus. »Nein!«, schreit Thana. »Tu doch was, Raeyn!«, fleht Varlik. Raeyn weiß, dass nur er Mirior retten kann. Verdammt! Was jetzt? Jerjes würde ihn aus der Truppe schmeißen, wenn er erführe, dass er dem Gnom nicht geholfen hat. Thana erträgt keine Ungerechtigkeit, und Miriors Tod wäre wohl eine, eine absichtlich begangene. Und Varlik ist so ehrenhaft, dass er mit großer Sicherheit lieber selbst stürbe. Alle würden es ihm vorwerfen. Mirior würde zum Märtyrer, er zum Mörder. Er muss ihn retten. Aber …, aber … Was war denn jetzt los? Der Curser reagierte nicht mehr auf die Maus, die Tastatur ließ sich nicht mehr bedienen. Und Raeyn stand starr. Er reagierte auf keine seiner Hand bewegungen. C. C. hatte kein Netz mehr! Die Internetverbindung war unterbrochen! Nein, das durfte nicht wahr sein! Nicht jetzt! Man wür de ihn wegen Verrats aus der Gruppe ausschließen! Ohne seine Hilfe würden seine Freunde sterben! Er konnte Tha na nicht mehr beschützen! Sobald der Drache Mirior getö tet hatte, würde er sich Thana und Varlik vorknöpfen. Niemand würde ihm glauben!
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