Claire Clément : Opa sagt, ich bin sein Glückskind

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Opa sagt, ich bin sein Gl端ckskind

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Claire Clément

Opa sagt, ich bin sein

Glückskind Aus dem Französischen von Franziska Gulde-Druet Mit Illustrationen von Marine Ludin

Bloomsbury

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F체r Georges Sapountzidis, dessen L채cheln jedes Treffen zum Strahlen gebracht hat. Und f체r Arnaud, Julie, Laura und Marie-Christine.

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1 Jeden Mittwochmorgen fuhren wir mit Opa »aufs Land«. Es war dort nicht wirklich so, wie man es sich auf dem Land vorstellt, mit Kühen und Hühnern und so. Unser Land war ein kleiner Garten mitten zwischen anderen kleinen eingezäunten Gärten, nahe der Bahngleise, mit einem Holzschuppen, in den wir die Arbeitsgeräte räumten. Opa hatte ringsherum am Zaun entlang Sonnenblumen gepflanzt. Und er hatte mir und Theo (Theo ist mein kleiner Bruder) erklärt: »Wenn uns die Sonne vergisst, leuchten die Sonnenblumen.« Es stimmt wirklich, dass sie mit ihren schweren, gelb umkränzten Köpfen schon von Weitem strahlten. »Trinkt, meine Väterchen«, sagte er ihnen beim Gießen. »Und drängelt nicht so! Der Reihe nach, oder es gibt nichts mehr. Alles hört auf mein Kommando!« Darüber musste ich lachen, weil sich die Blumen mit den hängenden Köpfen sofort aufrichteten, nachdem sie ihre Wasserration bekommen hatten. Es schien, als hörten sie auf Opa, und – ihr werdet mir vielleicht 5

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nicht glauben – sie lachten, und ihre schweren Köpfe wackelten im Wind! Je nach Jahreszeit kümmerten wir uns auch um die Rosen, die Iris, die Karotten, den Porree, die Kartoffeln oder die grünen Bohnen. Wenn wir fertig waren, holte Opa seine Pfeife hervor. Er zündete sie an und zeigte zum Horizont. Theo und ich hatten schon auf diesen Moment gewartet.

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»Was siehst du, Opa?«, fragte Theo ihn dann. Und mein Großvater fing an: »Die Sonne versinkt überm flachen Land. Mit langen Beinen, schlankem Hals Schreiten fern Königinnen im Sand Und träumen beim Laufen.« Wir mussten dann erraten, was diese Königinnen für Tiere waren. Manchmal war es einfach, und wir schrien sofort: »Giraffen, Opa! Du meinst Giraffen!« Andere Male blieben wir stumm. Opa verriet uns die Lösung nie. Er gab uns seine Rätsel am Mittwoch danach noch einmal auf und war überzeugt, dass wir nun eine »Erleuchtung« hätten. Wir erzählten alles Oma, die mit einem glücklichen Seufzer ausrief: »Euer Opa ist ein Dichter!« Es stimmt wirklich, dass mein Großvater ein Dichter ist. Ein etwas besonderer Dichter, denn er schreibt seine Gedichte nicht auf. Er bewahrt sie in einem gut geschützten Winkel im Kopf, sorgfältig hütet er diesen Bilderschatz, den er mit uns teilt wie ein Prinz in seinem sonnigen Garten. Nachmittags machte Oma immer ihren Mittagsschlaf, wegen ihres Herzens, das zu schnell schlug. Wir trafen Opas Freunde im Dolce Vita. Das Dolce Vita ist ein Café und befindet sich an der Ecke des Hauses meiner Großeltern, in der Altstadt. Die Häuser sind dort nie höher als vier Etagen, auf der anderen Seite der Bahngleise, im neuen Viertel, wo ich wohne, ha7

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ben die Häusertürme alle mehr als zehn Etagen. Aber die Stadtverwaltung hat uns Gärten zur Verfügung gestellt. Meine Mutter hat einen gepachtet, weil sie wusste, es würde sich immer jemand um diesen Garten kümmern – ihre Eltern waren ja ganz in der Nähe – und ihren Kindern würde er Spaß machen. Sie hat sich nicht geirrt. Theo und ich gingen sehr gern ins Dolce Vita – das ist italienisch und bedeutet »süßes Leben« – und schauten Opa beim Skatspielen zu. Als ich zum ersten Mal dort war, muss ich sechs Jahre alt gewesen sein. Theo war noch ein Baby und Mama passte zu Hause auf ihn auf. »Man sollte Rotznasen nicht mit ins Café nehmen«, hatte der älteste seiner Freunde gesagt. »Die Kleine hat hier nichts zu suchen.« Da hat mein Großvater seelenruhig seine Pfeife angezündet, er hat den Rauch ausgeatmet, den Blick gedankenverloren in die Wolken gerichtet, die man so gut hinter dem großen Schaufenster des Cafés sehen konnte, dann hat er geantwortet: »Die Kleine hier ist keine Rotznase, das ist Fanny.« Er setzte mich neben sich, während ein anderer die Karten austeilte. Und bevor er seinen Stapel hochnahm, sagte er zu mir: »Fanny, leg deine Hand drauf.« 8

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Ich habe meine Hand auf seine Karten gelegt. Mein Großvater zählte: »Eins, zwei, drei, vier … und fünf.« Er gab mir mit dem Kopf ein Zeichen, und ich nahm meine Hand weg. Er hat angefangen zu spielen … Und er hat gewonnen! »Fanny«, hat er zu seinen Freunden gesagt, »ist mein Glückskind.« Das hat alle so sehr beeindruckt, dass es eines Tages einer ausprobieren wollte. Ich habe ihm meine Hand geliehen, aber bei ihm hat es nicht gewirkt. Ich war nur Opas Glückskind. Eines Nachmittags, als wir aus dem Dolce Vita kamen, haben wir Oma auf ihrem Bett gefunden, genauso, wie wir sie verlassen hatten. Nur dass sie keinen Mittagsschlaf mehr machte. Oder doch, sie machte immer noch Mittagsschlaf, aber einen, von dem sie nie wieder aufwachen würde. Opa bekam so etwas wie Schluckauf. Er stand einige Sekunden lang wie angewurzelt da und stammelte: »Meine Süße … ich bin bei dir … ich bin’s doch …« Dann ist er zusammengebrochen, sein Gesicht eng an Omas geschmiegt. Er hat kleine Schreie ausgestoßen. Als hätte er Schmerzen, aber seine Augen weinten nicht. Am Anfang haben Theo und ich nichts begriffen. Als ich gesehen habe, dass Opa nicht mehr aufstand, habe ich sofort Mama angerufen. Sie kam eine Stunde später. Sie hat geweint. In diesem Moment habe ich verstanden, dass ich Oma nie wieder sehen würde. 9

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Lebend. Theo auch. Am gleichen Abend fragte er Mama: »Ist sie für immer tot?« »Ja«, hat Mama geantwortet. »Sie wird also nie mehr auf uns aufpassen? Nie wieder?« »Nein, mein Liebling.« Theo hat dem Stuhl einen Fußtritt gegeben. »Das ist ungerecht!«, hat er geschrien. Ich habe unter meiner Bettdecke geweint und an Omas Lächeln gedacht, an die Art, wie sie Theo und mich jeden Mittwoch erwartete, mit weit geöffneten Armen. »Na, da kommen meine Spätzchen, meine hübschen Kolibris …« Seitdem ist Opa tot. Schluss mit Garten und Dolce Vita und sogar mit den Gedichten. Er ist natürlich nicht tot wie Oma. Sie haben ihn nicht in einen Sarg gelegt, den Deckel zugemacht und ihn in die Erde hinuntergelassen. Nein. Opa ist von innen gestorben. Sein Herz hat nicht aufgehört zu schlagen. Sein Herz schlägt weiter, aber ohne ihn. Mama sagt: »Er hat keinen Lebenswillen mehr.« Natürlich hat er den noch! Sonst könnte Opa weder gehen noch essen noch mit den Augen blinzeln – nichts könnte er mehr! Sein Herz hat einen Stich bekommen, eine ganz schlimme Wunde. Es braucht viel Zeit, um zu heilen. In der Zwischenzeit bleibt er den ganzen Tag lang zu Hause, in seinem Sessel, und starrt Omas Foto an, das auf dem Geschirrschrank steht. Wenn man ihm nichts 10

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zu essen machen würde, würde er nicht essen. Wenn man ihm nicht beim Anziehen helfen würde, würde er sich nicht anziehen. Wenn man ihn abends nicht dazu bewegen würde, ins Bett zu gehen, würde er in seinem Sessel schlafen. Er antwortet nicht, wenn man mit ihm spricht; ich glaube, er hört nicht hin. Er ist woanders, weit weg, ganz weit weg. Mama arbeitet, sie ist Verkäuferin in einem großen Kaufhaus. Jeden zweiten Samstag ist sie nicht da. Deshalb konnte sie sich nicht um Opa kümmern. Sie hat jemanden dafür gefunden – Frau Jacadi. Sie heißt wie das Spiel, das Mama immer gespielt hat, als sie klein war. Aber das wird anders geschrieben: Jacques a dit. Mama hat es mir erklärt. Wenn jemand ruft: »Jacques hat gesagt: ›Hebt einen Arm hoch‹«, hebst du einen Arm hoch, aber nur, wenn du »Jacques« gesagt hast. Im Grunde hätte Frau Jacadi für Opa eine gute Idee sein können. Ich habe aber jetzt zwei Mittwoche mit ihr verbracht und sie gut beobachtet. Wenn sie kommt, bindet sie sich ein Tuch um den Kopf und eine Schürze um, als hätte sie Angst, sich schmutzig zu machen! Aber am schlimmsten ist, dass sie mit Opa wie mit einem Baby redet! »Na, hat Herr Emil alles aufgegessen? Hat’s ihm geschmeckt? Ja? Was sagt man da zu Frau Jacadi?« Ich hätte Opa am liebsten zugeflüstert: »Jacques hat gesagt: ›Halt die Klappe!‹« Aber Opa ist das ganz 11

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egal, er hört nichts. Er tut, als wäre er taub. Wenn es ihm besser geht, wette ich, dass er ihr als Erstes ein Liedchen zusammendichtet: »Suse, böse Suse, was raschelt im Stroh? Ich rupfe dir die Federn, versohl dir den Po.« Er wird ihr direkt in die Augen sehen, und die Jacadi wird weich werden wie Pudding, ihre Beine werden nachgeben, sie wird zu Boden sinken und es fürchterlich bedauern, ihn wie ein Baby behandelt zu haben. Und Opa wird sich aus der Höhe seiner 1,90 Meter zu ihr hinunterbeugen und säuseln: »Na, und was sagt man da zu Herrn Emil?« Ludwig hatte mich eingeladen, die Herbstferien mit ihm zu verbringen. Ludwig ist seit dem Kindergarten mein bester Freund. Er liest wahnsinnig viel. Er kennt haufenweise Geschichten über die Welt, er ist außerdem sehr gut in Naturwissenschaften. Ich höre ihm unheimlich gerne zu. Das ist außerdem sehr praktisch für mich, weil ich nicht gerne lese. Mama hat sich gefreut, dass ich bei ihm eingeladen war. Ich nicht. Meine Welt stürzte zusammen, und sie wollte, dass ich so tue, als wäre nichts geschehen? Ich habe noch am selben Abend mit ihr darüber geredet. »Ich werde nicht zu Ludwig gehen.« »Aber Fanny, ich habe keinen Urlaub. Ich kann mich nicht um euch kümmern. Und dein Vater nimmt dich nur in der zweiten Woche.« »Und Theo, wer passt auf ihn auf? Yasmina?« 12

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»Ja.« Yasmina wohnt nicht weit von uns. Sie hat mich immer von der Schule abgeholt, als ich klein war. Jetzt kümmert sie sich um Theo. Sie ist oft bei uns, weil es in unserem Haus ruhiger ist als bei ihr. Ihre großen Brüder hören laut Musik, und sie kann nicht lernen. Sie geht zur Universität. Sie muss sich konzentrieren. Abends hilft sie mir bei den Hausaufgaben. Wir reden auch, über alles Mögliche, obwohl sie viel älter ist als ich. »Ich bleibe lieber zu Hause, mit Yasmina. So kann ich Opa jeden Tag besuchen.« Mama hat mich traurig angeguckt und den Kopf geschüttelt. »Fanny, im Moment kannst du nichts für Opa tun.«

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