Chitra Banerjee Divakaruni: Anand und das Geheimnis des Silbertals

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Anand und das geheimnis DES SilberTalS


Die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Schriftstellerin und Dichterin Chitra Banerjee Divakaruni wurde 1957 in Indien geboren. Sie promovierte in Berkeley über Englische Literatur. Ihr literarisches Werk, darunter die Romane Die Hüterin der Gewürze und Der Duft der Mangoblüten, wurde in zwanzig Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Houston. Der zwölfjährige Anand lebt mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester in einem der ärmsten Viertel von Kalkutta. Gerade hat er mit seiner täglichen Arbeit in der Teestube begonnen, als ein alter Mann den Laden betritt. Die Bekanntschaft mit ihm wird Anands ganzes Leben verändern. Denn Abhaydatta ist kein gewöhnlicher alter Mann, er kommt aus dem geheimnisvollen Silbertal, der Heimat der indischen Heiler tief im Himalaja. Und er braucht Anands Hilfe. Anand träumt schon lange davon, mehr über Zauberei und Heilkunst zu erfahren. Vielleicht kann er so herausfinden, was mit seinem verschollenen Vater passiert ist oder wie er seiner kranken kleinen Schwester helfen kann? Kurzentschlossen folgt er Abhaydatta und begibt sich auf eine abenteuerliche Reise in das magische Reich der guten und bösen Mächte des Himalaja …


Chitra Banerjee Divakaruni

ANAND UND DAS GEHEIMNIS DES S I L B E RTALS Deutsch von Katharina Orgaß und Gerald Jung

B LO O M S B U RY Kinderbücher & Jugendbücher


Februar 2010 Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel The Conch Bearer bei Roaring Book Press, Brookfield, Connecticut | © 2003 Chitra Banerjee Divakaruni | Für die deutsche Ausgabe © 2004 Berlin Verlag GmbH, Berlin | Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher, Berlin | Alle Rechte vorbehalten | Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg | Gesetzt aus der Stempel Garamond und der ExoceT durch Offizin Götz Gorissen, Berlin | Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck | Printed in Germany | isbn 978- 3- 8270- 5401- 2 | www. berlinverlage. de


InhalT 1 Ein sonderbarer alter Mann – 7 2 Später Besuch – 20 3 Das Silbertal – 30 4 Was Anand sah – 40 5 Die Nachricht – 51 6 Der Schein trügt – 66 7 Der Treffpunkt – 79 8 Planänderung – 98 9 Der einäugige Hirsch – 113 10 Die Stimme in der Nacht – 124 11 Das erste Hindernis – 135 12 Noch mehr später Besuch – 150 13 Das zweite Hindernis – 165 14 Die scharlachrote Schlange – 177 15 Die letzte Prüfung – 189 16 Die größte Tugend – 198 17 Die Laube am Wasser – 213 18 Anands Entscheidung – 228 19 Zu Hause – 251



1 EIN SONDERBARER ALTER MANN

Anand fröstelte, als er die schwere Ladung schmutzigen Geschirrs vom Teeausschank zum Wasserhahn am Straßenrand schleppte, um dort abzuwaschen. Er konnte sich nicht erinnern, dass es in Kolkata* schon einmal so kalt gewesen war, und er trug bloß ein zerschlissenes grünes Hemd. Windig war es auch, es wehte ein eisiger schneidender Wind, der einen eigenartig verbrannten Geruch mitführte, als wäre in einer der Nebenstraßen etwas Großes, ein Laster oder ein Tankwagen, explodiert. Aber nichts dergleichen war passiert, sonst hätte Anand davon erfahren, denn hier in den engen, belebten Gassen um den BowbajarMarkt verbreiteten sich Klatsch und Tratsch wie im Flug. Dann war es vielleicht doch nur der Boss, dachte Anand und musste grinsen – Haru, der Besitzer des Teeausschanks, der mal wieder Zwiebel- Pakoras in ranzigem Erdnussöl frittierte! Wenn er grinste, veränderte sich Anands Gesicht und der ernste, schlaksige Zwölfjährige mit den knochigen Ell* Am 1. Januar 2001 erhielt die unter ihrem englischen Namen »Kalkutta« bekannte größte indische Stadt ihren ursprünglichen bengalischen Namen zurück. Seitdem heißt sie offiziell »Kolkata«. 7


bogen und Knien verwandelte sich wieder in den fröhlichen Jungen, der er gewesen war, bevor das Unglück vor zwei Jahren sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte. Einen Moment blitzte der Schalk in seinen schwarzen Augen, dann erlosch das Grinsen und sein Gesicht nahm wieder den wachsamen Ausdruck an, den er sich angewöhnt hatte, seit er bei Haru arbeitete. Seufzend strich sich Anand die zerzauste Strähne aus dem Gesicht, die ihm ständig in die Augen fiel, weil er nicht genug Geld hatte, sich die Haare schneiden zu lassen. Dann schrubbte er weiter an dem riesigen Aluminiumtopf herum, in dem Haru gestern den ganzen Tag Milchtee gekocht hatte. Überall auf dem Boden hatten sich hartnäckige schwarze Flecken eingebrannt, und wenn er die nicht abbekam, würde ihn Haru garantiert anbrüllen und ihm eine Ohrfeige verpassen. Aber wie soll man vernünftig abwaschen, dachte Anand und schob sich wieder ungeduldig das Haar aus der Stirn, wenn man sich mit der Asche vom Kohlenfeuer des Teeausschanks behelfen muss, von der die Hände rot werden und jucken. Doch als er Haru einmal um Spülmittel gebeten hatte, hatte er sich damit lediglich einen Faustschlag und eine Beschimpfung eingehandelt. »Spülmittel!«, hatte Haru so laut gebrüllt, dass es auf hundert Meter jeder mitbekam, »seit fünfzig Jahren scheuern wir die Teetöpfe mit Asche, aber das ist Prinz Anand natürlich nicht gut genug! Und wer soll das Spülmittel bezahlen, bitte schön? Vielleicht dein Vater, der Millionär?« Die Kunden auf den wackeligen Stühlen rings um die Bude hatten gelacht, und Anand hatte sich in eine dunkle Ecke hinter den Vorräten verkrochen und blinzelnd mit den Zornestränen gekämpft. Die Bemerkung über seinen 8


Vater hatte ihn mehr geschmerzt als die Ohrfeige. Er hatte seinen Vater, den er mehr liebte als sonst irgendjemanden – ausgenommen vielleicht seine Mutter und seine kleine Schwester Mira –, schon zwei Jahre nicht mehr gesehen. Damals war sein Vater nach Dubai gegangen. Das war ihm nicht leicht gefallen, aber ihm war keine andere Wahl geblieben. »Die Stelle, die man mir bei dieser Firma anbietet, wird zu gut bezahlt, als dass ich sie ablehnen könnte«, hatte er dem damals zehnjährigen Anand erklärt. »Zurzeit ist in Kolkata nichts zu verdienen . . . Ich bin schon seit Monaten ohne Arbeit, und wir haben fast unsere gesamten Ersparnisse aufgebraucht.« Er erklärte Anand, dass Dubai eine Stadt in einem anderen Erdteil war, so weit weg, dass man viele Stunden mit dem Flugzeug fliegen musste. Dort würde er als Vorarbeiter auf Baustellen arbeiten und Häuser für die reichen Leute errichten, mit großen eisernen Toren und Innenhöfen mit Marmorspringbrunnen. Er würde viel Geld verdienen und das meiste davon jeden Monat seiner Familie schicken. Er hoffte, innerhalb von zwei, höchstens drei Jahren so viel zu sparen, dass er nie wieder so weit wegmusste. Im ersten Monat hatte Anands Vater auch wie versprochen eine Überweisung geschickt, und sie hatten zu Hause ein großes Fest gefeiert und viel gescherzt und gelacht. Seine Mutter hatte Lammbraten gemacht, das Lieblingsessen des Vaters, und hatte sich die Augen mit dem Sarizipfel gewischt, wenn sie glaubte, die Kinder würden gerade nicht hinsehen. Mit der Hälfte des Geldes hatte sie wie verabredet ein Konto eröffnet. Auch im nächsten und übernächsten Monat legte sie die Hälfte des Geldes auf die Seite, 9


und trotzdem war noch so viel übrig, dass sie Mira eine Puppe mit echtem, kämmbarem Haar schenken konnte. Für Anand kaufte sie ein Buch, denn Lesen war seine Lieblingsbeschäftigung. Es hieß Persische Märchen. Anand verbrachte viele glückliche Stunden damit, von dem Zauberapfel zu lesen, der einen von allen Krankheiten heilte, wenn man nur einmal daran roch, und von dem Fernrohr, das einem alles zeigte, was man sehen wollte. Doch nach ein paar Monaten blieben die Überweisungen unerklärlicherweise aus, und Briefe kamen auch keine mehr. Voller Sorge schrieb Anands Mutter dem Vater einen Brief nach dem anderen, aber nie kam eine Antwort. Schließlich mussten sie die hübsche Wohnung mit den Jasminkübeln auf dem kleinen Balkon über dem Park aufgeben und ins Elendsviertel in die Hütte mit nur einem einzigen Zimmer ziehen, in der sie jetzt wohnten. Anands Mutter musste eine Stelle als Köchin bei einer reichen Familie annehmen. Ihr Lohn brachte sie gerade so über die Runden – bis Mira diese schreckliche Sache zustieß. Die Mutter hatte alle ihre Ersparnisse aufgebraucht und war mit Mira von Arzt zu Arzt gelaufen, aber keiner hatte ihr helfen können. Anand stapelte die Töpfe und Teegläser auf den Tresen und wünschte sich wie schon so oft in diesem Jahr, ihm würde jemand einen Zauberapfel schenken, einen wie den aus dem Buch. Und ein Zauberfernrohr auch. Einmal hatte er der Mutter seinen Wunsch anvertraut. »Dann könnte ich Mira wieder gesund machen und wir könnten nachsehen, wo Vater ist und ob es ihm gut geht«, hatte er erklärt. Seine Mutter hatte geseufzt. »So etwas gibt es nur im Märchen, mein Sohn. Hast du das noch nicht begriffen?« 10


Anand hatte genickt und war sich kindisch vorgekommen. Er hatte nicht gesagt, dass er insgeheim glaubte, dass es Zauberei vielleicht doch gab, nein, dass es sie tatsächlich gab. Und zwar immerzu und überall, nur dass es die meisten Leute nicht bemerkten. Manchmal meinte er fast zu spüren, wie sie an ihm vorbeischwirrte, so pfeilgeschwind wie ein unsichtbarer Kolibri. Wenn er nur wüsste, wie er sie zu fassen bekommen und dazu bewegen könnte, ihn mit sich fortzutragen, dann würde sich sein Leben von Grund auf ändern, davon war er fest überzeugt. »He, Junge!«, rief Haru vom Tresen. »Höchste Zeit, dem Tuchhändler seinen Morgentee zu bringen. Muss man dich denn an alles erinnern?« Anand sprang auf und füllte für den Tuchhändler und seine Angestellten vier Gläser mit dampfendem Tee. Er stellte die Gläser in einen Drahtkorb und wickelte eine große Portion Zwiebel- Pakoras in Zeitungspapier. Damit lief er eine Straße weiter zum Tuchladen, wobei er einen Bogen um die Schlaglöcher machte, damit er nichts verschüttete. Der Tuchhändler Shahin trank seinen Tee gern heiß und das Glas musste immer randvoll sein. Der Duft der heißen Pakoras machte Anand ganz verrückt. Er war furchtbar hungrig! Er musste die Zähne fest zusammenbeißen, um der Versuchung zu widerstehen, sich heimlich einen Zwiebelring – nur einen einzigen – in den Mund zu schieben. Hoffentlich war Shahin guter Laune, dann spendierte er Anand vielleicht fünfundzwanzig oder sogar fünfzig Paise Trinkgeld. Doch heute war Shahin mit einem Kunden beschäftigt und nickte nur, als ihm Anand den Tee hinstellte. Enttäuscht ging Anand zurück und versuchte, die leise innere Stimme zu ignorieren, die ihn verspottete, weil er 11


die Gelegenheit nicht genutzt und einen Zwiebelring verspeist hatte. Bis zu seiner Pause, in der er sich ein paar Minuten ausruhen, eine Tasse Tee trinken und manchmal ein paar abgestandene Reste vom Vortag essen durfte, dauerte es noch Stunden. Wie kalt es war! Die Kälte legte sich wie eine schwere, eisige Hand auf ihn. Er hätte am Morgen sein Schultertuch mitnehmen sollen, aber er hatte es Mira dagelassen, weil sie Husten hatte und die Hütte so klamm war. Wieder einmal grübelte er, was wohl mit seinem Vater passiert war, diesem großen, gut aussehenden, fröhlichen Mann, der immer mit Mira und ihm ins Kino gegangen war und ihnen heiße geröstete Erdnüsse gekauft hatte. Hatte er bei der Arbeit einen Unfall gehabt oder war er gar . . . Anand schrak vor dem entsetzlichen Wort zurück . . . tot? Oder, noch schlimmer, hatte er sie einfach vergessen? Als sie noch in der Wohnung gewohnt hatten, hatte Anand einmal gehört, wie eine Nachbarin seine Mutter darauf ansprach. »Wenn Männer in ein anderes Land gehen, lernen sie manchmal eine andere Frau kennen, eine jüngere, hübschere, und dann kommen sie in Versuchung, mit ihr noch einmal von vorn anzufangen, die alten Fesseln abzuwerfen . . .« »So einer ist mein Mann nicht«, hatte Anands Mutter ruhig geantwortet, doch ihre Nasenflügel hatten vor Zorn gebebt. Sie war aufgestanden, um der Frau zu verstehen zu geben, dass die Unterhaltung beendet war, und hatte sie hinausbegleitet. Nur Anand hatte den schrecklichen Zweifel gesehen, der wie eine dunkle Wolke über ihr Gesicht geglitten war, als sie die Tür hinter der Nachbarin geschlossen hatte.

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Anand war so in seine trüben Gedanken versunken, dass er beinahe in eine Gruppe Schulkinder hineingerannt wäre, die an der Ecke auf den Schulbus warteten. Er gab sich Mühe, die Kinder nicht allzu sehnsüchtig anzustarren, mit ihren frisch gewaschenen, gestärkten Schuluniformen, den blank geputzten Schuhen und der lässigen Art, mit der sie ihre bunten Schultaschen schwenkten. Aber er konnte nicht anders. Er wünschte sich so sehr, einer von ihnen zu sein, und wusste doch nur zu gut, wie unerreichbar das für ihn war. Als er an ihnen vorbeiging, zeigte einer der Jungen mit dem Finger auf ihn und flüsterte dem Mädchen neben sich etwas ins Ohr. Sie rümpfte die Nase – als würde ich stinken, dachte Anand –, dann brachen beide in lautes Gelächter aus. Anand bekam heiße Ohren. Sie lachten ihn aus, lachten über sein schmutziges Hemd, an dem ein Knopf fehlte, über seine zerschlissene Hose und seine langen Haare. Erst schämte er sich, dann wurde er wütend. Nein, ihn überkam blanker Neid. Denn wenn es noch etwas gab, nach dem er sich sehnte, dann danach, wieder zur Schule gehen zu können. Er erinnerte sich an den Morgen vor fast einem Jahr, als er vom Schluchzen seiner Mutter aufgewacht war. Das war ungewöhnlich, denn sie weinte fast nie. Er ging zu ihr hinüber und ihm wurde schwer ums Herz. Sie hockte auf ihrer Schlafmatte (inzwischen hatten sie die wenigen Möbel, die sie besaßen, verkauft), hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und bevor sie etwas sagte, wusste er Bescheid. Sie konnte das Schulgeld nicht mehr bezahlen. Mira, die jünger war als er, machte das nicht viel aus. Sie fand es lustig, zu Hause zu bleiben und den ganzen Tag 13


spielen zu dürfen. Doch Anand erinnerte sich noch gut daran, wie ihn der Kummer überwältigt hatte, als er seine geliebten Bücher in die Ecke legte (ein paar Monate später hatten sie sie in Senguptas Antiquariat verkaufen müssen). Er hatte seine Schuluniformen zusammengefaltet, die beiden weißen Shorts und die blauen Hemden mit der gestickten Aufschrift H I N D U- K NA B E N S C H U LE auf den Brusttaschen. Er war so stolz auf sie gewesen, dass er sie jeden Tag eigenhändig gewaschen hatte, damit sie immer makellos sauber waren (auch sie mussten kurz darauf verkauft werden). Aber er ließ sich nichts anmerken. Seine Mutter hatte wahrhaftig schon genug Sorgen. Er zog eine fleckige alte Khakihose und das karierte Hemd an, das unter den Achseln schon spannte, und marschierte zu Harus Teeausschank. Von jemandem, der in derselben Straße wohnte, hatte er gehört, dass Haru einen Jungen als Aushilfe suchte, weil ihm der Bursche, der bis dahin für ihn gearbeitet hatte, davongelaufen war. »Was mich nicht wundert!«, hatte der Nachbar hinzugefügt und hämisch gekichert. Anand erfuhr bald, was er damit gemeint hatte. Aber er wusste auch, dass er Glück gehabt hatte, überhaupt Arbeit zu finden. Die Zeiten waren schlecht und viele erwachsene Männer waren arbeitslos. Sie waren gezwungen, auf der Straße zu betteln, oder schlimmer noch, zu stehlen und andere Leute auszurauben. Anand verabscheute Harus böse Zunge und flinke Fäuste, aber immer wenn es ganz schlimm kam, stellte er sich seine Mutter vor, wenn er am Wochenende nach Hause kam und ihr seinen Lohn aushändigte. »Mein lieber, guter Junge!«, sagte sie jedes Mal, umarmte ihn und ein Lächeln erhellte ihr sonst so ernstes Ge14


sicht und ließ sie um Jahre jünger aussehen. »Ohne deine Hilfe käme ich nicht zurecht! Ich kann von Glück sagen, dass ich so einen Sohn habe.« Dann war auch er für kurze Zeit glücklich. Es entschädigte ihn für das, was er aufgegeben hatte. Aber es half ihm nicht über die restliche Woche hinweg, schon gar nicht in Momenten wie diesen. Das Gelächter der Kinder noch im Ohr, schloss er die Augen und ballte die Fäuste. Ich will, dass sich mein Leben ändert, sagte er sich grimmig und hielt so lange die Luft an, bis ihm schwindelig wurde, legte seine ganze Willenskraft in den Wunsch und schickte ihn ab, wie ein Bogenschütze einen Pfeil auf die Reise schickt. Er spürte, wie der Wunsch strahlend hell durch die Luft schoss, bis er auf etwas – oder auf jemanden – prallte. Die Empfindung war so stark, dass Anand wie unter einem Schlag wankte. Er öffnete die Augen wieder, fest überzeugt, dieses Etwas zu sehen. Er wusste nicht, in welcher Gestalt es sich zeigen würde, aber es war bestimmt wundersam, strahlend und verzaubert. Doch er sah bloß die vertraute schmutzige Straße, in deren Rinnstein sich verfaulter Abfall häufte.

~ »He, Junge!« Kaum hatte er Anand erblickt, brüllte Haru auch schon los. »Wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Hast unterwegs rumgelungert, was? Du hättest eine ordentliche Kopfnuss verdient! Siehst du denn nicht, dass die Kunden warten?« Anand ging eilig von Tisch zu Tisch, um die Bestellungen aufzunehmen. Die meisten wollten nur Tee. Einige An15


gestellte, die auf dem Weg ins Büro waren, ließen sich ein paar Süßigkeiten einpacken. Zwei Oberschüler – ein junger Mann und seine Freundin, wie Anand vermutete – bestellten eine Portion Puris und Alu Dam. Als Anand ihnen das aufgeblähte Fladenbrot und die würzigen Kartoffeln brachte, knurrte ihm zu seiner Bestürzung hörbar der Magen, und das Mädchen sah ihn verwundert an. Jetzt erst fiel ihm der alte Mann auf. Zuerst hielt Anand ihn für einen Bettler. Er stand am Eingang des Teeausschanks, in ein schmutziges weißes Schultertuch aus Baumwolle gehüllt und auf einen billigen Wanderstab aus Bambus gestützt. Über der Schulter trug er einen zerlumpten Stoffbeutel, Haar und Bart waren zottelig und verfilzt, und trotz der Kälte ging er barfuß. Doch im Gegensatz zu anderen Bettlern blickte er nicht sehnsüchtig auf die Glasvitrinen mit den Süßigkeiten. Stattdessen – aber da musste sich Anand täuschen – schien er ihn, Anand, anzuschauen. Auch Haru hatte den Alten bemerkt. »He! Du da!«, keifte er. »Was willst du? Hast du überhaupt genug Geld?« Der alte Mann schwieg. »Hab ich’s mir doch gleich gedacht!«, sagte Haru und verzog verächtlich den Mund. »Dann steh meinen zahlenden Kunden gefälligst nicht im Weg rum!« Der Mann stand da, als hätte er Haru gar nicht gehört, und einen Augenblick dachte Anand, er sei vielleicht nicht ganz richtig im Kopf, so wie Mira, nachdem ihr das zugestoßen war. Sofort tat ihm der Alte Leid. »Raus! Raus!«, kreischte Haru jetzt. »Ich bin doch kein Wohltätigkeitsverein! Nichtsnutziger Bettler! Schmeiß ihn raus, Junge!« 16


Anand ging zu dem alten Mann hin und nahm ihn sanft beim Ellbogen. Wie leicht sich der Arm anfühlte, als hätte der Mann Federn statt Knochen! Er staunte auch, wie warm er war. Er hätte erwartet, dass der Alte, wie er selbst, vor Kälte zitterte, denn er stand ungeschützt im Wind, der jetzt immer kräftiger blies und Staub und Zeitungsfetzen die Straße entlangtrieb. »Komm, Großvater«, sagte er freundlich, »geh lieber nach Hause, bevor er dich noch weiter beschimpft.« Der Alte wehrte sich nicht. Fügsam ließ er sich von Anand bis zur nächsten Ecke führen. Hat er denn überhaupt ein Zuhause?, dachte Anand. Er war selbst überrascht, wie schwer es ihm fiel, den alten Mann einfach stehen zu lassen, fast so, als ließe er ihn im Stich. Aber das war doch albern, schließlich hatte er ihn vor ein paar Minuten zum ersten Mal gesehen. Als Anand den Alten losließ, blickte dieser ihn plötzlich an. Seine Augen waren . . . blau? Grün? Glänzend braun wie Tigeraugen? Anand konnte es nicht sagen. Er wusste nur, dass ihn eine Art elektrischer Schlag durchzuckte, als der alte Mann ihn ansah. »Warte hier«, sagte Anand, ohne zu überlegen, und rannte zum Teeausschank zurück. »Darf ich heute ein bisschen eher Pause machen?«, fragte er Haru mit leiser, ängstlicher Stimme, wie es der Ausschankbesitzer gern hörte. Haru runzelte die Stirn. »Was ist los?«, fragte er boshaft zurück. »Hat dir deine Mutter kein Frühstück gemacht?« Anand schluckte seinen Ärger hinunter und wartete mit gesenktem Kopf. »Meinetwegen«, brummte Haru schließlich. »Aber nur, 17


weil gerade keine Gäste da sind. In zehn Minuten bist du wieder da, oder ich zieh dir was vom Lohn ab.« Anand nickte, goss sich ein Glas Tee ein, wickelte ein paar altbackene Puris in Zeitungspapier und machte sich davon, bevor Haru es sich womöglich anders überlegte. Er fürchtete, der Alte sei inzwischen weitergezogen, doch er wartete noch genau dort, wo ihn Anand zurückgelassen hatte. Er schien sich keinen Zentimeter bewegt zu haben, als wäre er eine Statue. Vielleicht konnte er ja tatsächlich nirgendwohin. Der Gedanke gab Anand einen Stich. »Hier«, sagte er lächelnd, hielt dem Mann das Teeglas hin und steckte ihm die Puris in den Beutel. »Trink das. Es ist schön warm, und danach fühlst du dich bestimmt besser. Haru ist gemein, aber Tee kochen, das kann er. Die Puris kannst du später essen.« Er griff nach der Hand des Alten und legte seine Finger um das Teeglas. »Ich will dich nicht hetzen, aber ich muss gleich wieder zurück, sonst kürzt mir Haru den Lohn, und das kann ich mir nicht leisten.« Mit einer überraschend kraftvollen, anmutigen Bewegung hob der alte Mann das Glas an die Lippen und leerte es in einem Zug. »Du hast mir dein eigenes Frühstück geschenkt«, sagte er. »Dafür danke ich dir.« Seine Stimme war tief und rau, als käme sie vom Grund eines Flusses, und sein Bengali hatte einen leichten Akzent, als stammte er nicht aus dieser Gegend. Er hob die Hand und machte über Anands Kopf ein kleines Zeichen, das der Junge nicht deuten konnte. Dann wandte er sich um und verschwand verblüffend schnell um die nächste Straßenecke. Nachdenklich wanderte Anand zum Teeausschank zu18


rück. Mutter hat Recht, dachte er, Teilen macht tatsächlich glücklich. Anders konnte er sich die angenehme Wärme nicht erklären, die ihn durchströmte, oder den Umstand, dass er überhaupt keinen Hunger hatte, obwohl, wie Haru richtig vermutet hatte, heute Morgen nichts zu frühstücken im Haus gewesen war.

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