Mein groĂ&#x;er Bruder Robin
Bitte Havstad
Mein großer Bruder Robin Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps
Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel Min storebror Robin bei Opal AB, Bromma © 2006 Bitte Havstad Für die deutsche Ausgabe © 2010 Berlin Verlag GmbH, Berlin Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher, Berlin Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Fotografie von © Trevillion Images Gesetzt aus der Stempel Garamond durch psb, Berlin Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-8270-5347-3 www.berlinverlage.de
KAPITEL 1
»Ist Robin schon da?« Ich kenne die Antwort bereits, seine Schuhe und seine Jacke liegen nicht wie sonst auf dem Boden im Flur. »Wie war es in der Schule?«, ruft Mama aus ihrem Arbeitszimmer. »Geht so. Wann kommt Robin?« Ich gehe zu Mama ins Zimmer. Sie sitzt wie üblich vor dem Computer am Schreibtisch. Zwischen ihren Augen befindet sich eine tiefe Falte, aber ich glaube nicht, dass die mit Robin zu tun hat. Heute mal nicht. Die hat mit ihrer Arbeit zu tun und damit, dass sie so schlecht sieht. Mama hebt den Kopf und sieht mich an. »Er kommt, wenn er kommt. Du weißt doch, wie Robin ist.« Ich gehe in die Küche. Ich habe Hunger. »Wann gibt es was zu essen?« »Hattest du keine Frühstückspause in der Schule?« Natürlich hatte ich Pause, aber ich bin trotzdem hungrig. Ausgehungert. Die Pause ist doch schon ewig her. Außerdem macht das Pausenbrot nicht satt. Ich setze mich an den Küchentisch und warte darauf, dass meine Brotscheiben aus dem Toaster hüpfen. Ich will, dass Robin endlich kommt. Er ist mein Bru5
der, siebzehn ist er, fast achtzehn, und er geht in einer anderen Stadt zur Schule. Ich bin fast zehn und wünsche mir, dass er hier bei uns zur Schule geht, damit wir uns jeden Tag sehen können und nicht nur am Wochenende. Aber Robin wollte auf ein ganz bestimmtes Fachgymnasium gehen, und so eines gibt es bei uns nicht. Darum wohnt er in der Woche bei unserem Onkel und unseren Cousins und Cousinen und kommt nur am Wochenende zu uns nachhause. Heute ist Freitag, das heißt, er wird bald kommen. »Ich gehe schon mal los zum Bahnhof und warte auf ihn«, rufe ich Mama zu. »Hast du schon was gegessen?« Klar. Ich schnappe mir die zwei Toastscheiben und esse sie auf dem Weg in den Flur. »Du weißt doch gar nicht, wann er ankommt!« »Wenn es zu lange dauert, komme ich einfach wieder nachhause. Es ist doch nicht weit. Außerdem weiß ich, dass er auf dem Weg hierher ist.« Es ist wirklich nicht weit bis zum Bahnhof. Man muss nur einmal um unser Haus herum, dann noch an einem anderen Haus vorbei, über den Zebrastreifen und ein Stück an den Schienen entlanglaufen. Das dauert nur fünf Minuten. Zwei, wenn man rennt. Ich renne. Bald ist Winter, es ist ganz schön kalt draußen. Ich habe meine Mütze vergessen, aber bevor Mama das merkt, bin ich schon wieder zurück. Außerdem bekommt man keine Erkältung davon, wenn man keine 6
Mütze trägt, hat meine Lehrerin gesagt. Das Einzige, was passiert, ist, dass man kalte Ohren bekommt, und dafür ist der Weg zu kurz. »Hallo, My, holst du Robin ab?« Emma und Vera stehen vor dem Kiosk. Emma war vor langer Zeit mal mit Robin zusammen, als sie in die Achte gingen, glaube ich. Alle wissen, dass sie noch immer in ihn verliebt ist. Ich nicke und gehe weiter. »Grüß ihn von mir, okay?«, ruft mir Emma hinterher. Träum weiter! Die Stadt ist voller Exfreundinnen von Robin. Wenn ich ihn von allen grüßen müsste, würde das ein ganzes Wochenende lang dauern. So ungefähr. Hoffentlich bleibt er heute Abend bei uns zuhause. Wir können Karten spielen und Chips essen oder einen Film ausleihen, den wir beide mögen und den mir Mama erlaubt. Sie ist der Meinung, dass ich keine Filme sehen soll, die gruselig sind, weil ich sonst Albträume bekommen könnte. Ich habe nie Albträume, und außerdem finde ich andere Sachen gruselig als sie. Ich finde, jeder soll bestimmen dürfen, was für Filme er sich zutraut. Mama und ich sind oft unterschiedlicher Meinung, aber sie wird so schnell sauer, wenn man nicht das tut, was sie will. Das lohnt sich nicht. Robin mag am liebsten lustige Filme, und die sind ja überhaupt nicht gefährlich. Ich kann die Untertitel schon ganz gut lesen, aber manchmal liest mir Robin 7
laut vor, weil es zu schnell geht und ich nicht mitkomme. Da hinten ist er, ich kann ihn sehen! Er läuft den Bahnsteig entlang mit seiner Tasche über der Schulter. Robin hat eine ganz bestimmte Art zu gehen, so geht nur er! Ich will mich verstecken, aber bevor ich eine gute Stelle gefunden habe, sieht er hoch und entdeckt mich. »Hey, Mücke!«, ruft er, als er näher kommt. »Hier, nimm die.« Er wirft mir seine Tasche zu. Die ist so schwer, dass ich fast umfalle. Robin lacht sich kaputt. »Einige haben ein schweres und anstrengendes Leben, während andere sich amüsieren und nichts tun«, sagt er und wuschelt mir durch die Haare, bevor er mir die Tasche wieder abnimmt. »Bleibst du heute Abend zuhause?« »Frag einen Typen niemals, ob er zuhause bleibt«, belehrt er mich, »dann will er sofort losziehen.« »Warum das denn?« »Er fühlt sich dadurch angekettet und eingesperrt, und das wird er nicht mögen.« Deswegen wird sich bestimmt kein Mensch eingesperrt oder angekettet fühlen, aber man muss doch wohl fragen dürfen. Robin hat seinen Arm über meine Schulter gelegt, während wir quer über die Straße gehen. Ein ganzes Stück vom Zebrastreifen entfernt. 8
»Wie geht es Mama? Gewitter, Regen oder Sonnenschein?« »Es ist bewölkt, mit einigen Aufheiterungen.« Robin und ich reden über Mamas Laune, wie andere über das Wetter sprechen. Das ist eine gute Methode, um über schwierige Sachen zu reden. Dann fühlt sich das nicht so bedrohlich an, außerdem weiß ja jeder, dass schlechtes Wetter auch ganz plötzlich wieder vorbei sein kann. Mama zum Beispiel hat viele verschiedene Launen. Manchmal nervt es, weil man nie weiß, wie es ihr geht, wenn man sie das nächste Mal sieht. Robin und ich gehen ihr am liebsten aus dem Weg, wenn sie sauer, wütend oder traurig ist. Schnee, Sturm und Regen also. »Eher aufreißende Wolkendecke?«, schlägt Robin vor. »Ja, vielleicht«, sage ich.
KAPITEL 2
Seit fast zwei Monaten wohnt Robin bei unseren Cousins und deren Eltern, Onkel Thomas und Tante Anita. Jedes Wochenende kommt er zu uns. Nur einmal ist er krank geworden und musste die ganze Woche zuhause bleiben. Ein Glück, dass er zuhause krank geworden war. Sonst hätte er das ganze Wochenende bei Thomas und Anita verbringen müssen. Als Robin ungefähr so alt war wie ich jetzt, hatte er einmal auf einer Wiese in der Nähe ein Feuer gelegt. Die Feuerwehr musste kommen, und es war ein Riesenglück, dass nicht der Spielplatz und das Fußballfeld abgebrannt waren. Robin hatte das nicht allein gemacht, aber ihn hatten sie als Einzigen erwischt, und er hatte sich geweigert, die Namen der anderen zu verraten. Jedes Mal, wenn es jetzt irgendwo in der Stadt brennt, bekommt Robin die Schuld dafür. Egal, was er sagt, es wird immer ihm vorgeworfen. Übrigens nicht nur, wenn es brennt. Graffiti, Einbruch, das alles soll Robin gemacht haben. Ich bin total sauer, aber Robin lacht nur und sagt, »die sind doch froh, dass sie mich haben, sonst wären sie gezwungen, die Schuldigen zu suchen, und das schaffen sie eben nicht«. Robin würde nie auf die Idee kom10
men, der Polizei zu helfen, die Richtigen zu finden, nein, er schweigt einfach. Und darum kommt die Polizei dann zu Mama und sagt ihr, dass er, obwohl er noch so jung ist, schon »ein abgebrühter Verbrecher« ist. Das sind solche Leute, die Verbrechen begehen und nicht daran denken, wie es den anderen Menschen geht. Aber so ist Robin überhaupt nicht, die kennen ihn doch gar nicht. Die behaupten einfach irgendetwas. Dann müssen Robin und ich versuchen, Mama zu trösten, weil sie jedes Mal total verzweifelt ist. Sie wird wütend und traurig, und es dauert manchmal Wochen, bis sie wieder gute Laune hat. Als Robin krank war und bei uns zuhause bleiben musste, kam eines Tages die Polizei vorbei und wollte mit ihm reden. Jemand hatte am Sonntagmorgen das Jugendzentrum in Brand gesteckt, und sie hatten ihn im Verdacht. Er hat mit Fieber im Bett gelegen, aber sie wollten ihn trotzdem sprechen. Die haben wirklich geglaubt, dass Robin sich mit fast vierzig Grad Fieber aus dem Bett schleicht und das Jugendzentrum am anderen Ende der Stadt anzündet. Warum sollte er? Was sollte das für einen Sinn haben? Sogar Mama fand das total unmöglich. Ansonsten ist Mama nicht immer von Robins Unschuld überzeugt, obwohl sie ihn immer vor der Polizei in Schutz nimmt. »Es muss ja einen Grund geben, dass sie immer erst auf dich kommen«, sagt sie. Dann werden Robins 11
Augen ganz dunkel, und er wird stumm wie ein Fisch. »Ich weiß genau, dass er unschuldig ist«, sage ich, und dann seufzt Mama laut und murmelt, dass Papa hier sein sollte. Papa habe ich schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Ich erinnere mich nicht, aber es ist bestimmt über zwei Jahre her. Ich telefoniere mit ihm, an Weihnachten und am Geburtstag, also in derselben Woche zweimal. Und dann ein ganzes Jahr lang wieder nicht. Mama und Robin sind sauer auf Papa, also bin ich das jetzt auch. Er kümmert sich nicht um uns, das finde ich komisch. Stell dir vor, man hat Kinder und kümmert sich einfach nicht um die. Obwohl Mama auch sagt, dass er schon an uns denkt und wir ihm wichtig sind, auch wenn wir das nicht merken. Aber ich weiß nicht. Robin ist die meiste Zeit so wütend auf ihn, dass er eigentlich gar nicht über ihn reden will. Als entschieden wurde, dass Robin zu Thomas und Anita ziehen soll, war ich sehr traurig. Alle anderen fanden die Idee super. Sogar Robin fand es gut, nicht mehr für alles beschuldigt werden zu können. Allerdings passieren die meisten Sachen am Wochenende, und da ist Robin ja zuhause. Aber das sage ich zu niemandem, aus Angst, dass Robin dann gar nicht mehr kommt, und das wäre das Schlimmste für mich. Robin und ich spielen Karten. Seit etwa einem Jahr führen wir ein Turnier in dem Kartenspiel Chicago durch, so eine Art Bridge. Wer Bester aus Zwanzig wird, bekommt einen Punkt, und wir sind schon fast 12
bei neunzig Punkten. Robin führt im Moment, aber nicht haushoch. Ich mag keinen Sport, aber Karten spiele ich gerne. Obwohl – mit Robin zu spielen hat auch seine Schattenseiten. Er ist nämlich ein schlimm schlechter Verlierer. Wenn ich ein paar Spiele hintereinander gewonnen habe, wird er so wütend, dass er alle Karten durch die Gegend schleudert. Ab und zu kommt das eben mal vor. Ich finde das kindisch von ihm, das ist doch nur ein Spiel. Aber dann wird er auch wütend auf mich und beschimpft mich als »blöde Göre, die keine Ahnung von nichts hat«. Oder so was Ähnliches. Aber meistens entschuldigt er sich danach sofort wieder. Er bittet nicht direkt um Verzeihung, aber schenkt mir eine Süßigkeit, einen Comic oder fragt, ob wir uns einen Film ausleihen wollen. Wenn Mama ihn bittet, einkaufen zu gehen, fragt er mich fast immer, ob ich nicht mitwill. Er findet alleine einkaufen zu gehen so langweilig. Klar komme ich da mit. Ich liebe es, mit Robin zusammen zu sein. Denn obwohl wir nur einkaufen gehen, machen wir auf dem Weg immer lustige Sachen. Es ist immer schöner, wenn Robin mit dabei ist. Er kennt viele Leute, die wir unterwegs treffen. Und über die anderen, die er nicht kennt, denkt er sich Geschichten aus, so dass ich das nächste Mal, wenn ich sie sehe, leise kichern muss, weil ich mich erinnere, was er erzählt hat. Ich frage mich, warum einige Menschen bei anderen im Gedächtnis hängen bleiben, bemerkt werden. 13
Robin ist so einer. Er fällt bei allen auf. Er sieht ziemlich gut aus, aber das ist nicht der Grund. Denn nicht alle finden ihn gut, einige können ihn überhaupt nicht leiden, und trotzdem kennen ihn alle, er wird bemerkt. Ich nicht. Ich bin praktisch unsichtbar, obwohl viele natürlich wissen, dass ich Robins Schwester bin, und mich auch nach ihm fragen. Aber Robin wird bemerkt, weil er Robin ist und nicht der Bruder oder der Freund oder das Kind von jemandem, einfach nur, weil er der ist, der er ist. So halt.
K Ich war fünfeinhalb. Robin und ich waren zuhause
bei Oma und Opa auf ihrer Insel. »Aufwachen!« Robin war schon angezogen. Seine Haare standen wie eine Wolke von seinem Kopf ab. »Los, beeil dich, Mücke! Wir gehen fischen!« Ich setzte mich kerzengerade im Bett auf. »Nur wir beide?« »Nur wir beide.« Ich zog meinen Pullover falsch herum an und hatte keine Zeit mehr, ihn richtig herumzudrehen, weil Robin schon die Treppe hinunterrannte. Ich beeilte mich, ihn einzuholen. »Dürfen wir das denn?« »Es ist niemand zuhause, der uns daran hindern kann«, antwortete Robin und warf mir meine Schwimmweste zu, die an ihrem Haken neben der Tür hing. »Aber ich habe noch nichts gefrühstückt«, beklagte ich mich. »Ich habe uns Brote geschmiert«, sagte Robin. »Und warmen Kakao gemacht.« Es war ein warmer Sommertag und ganz still draußen. Opas kleines Ruderboot war am Bootssteg vertäut. Robin und ich waren schon oft mit Opa auf dem See gewesen und hatten ihm geholfen, die Netze einzuholen. Aber dieses Mal waren wir zum ersten Mal alleine unterwegs. 15
»Bist du sicher, dass wir das dürfen?«, fragte ich besorgt. »Mücke, Mücke«, war Robins Antwort. »Wir müssen selbstständig denken dürfen. Uns hat niemand gesagt, dass wir NICHT rausrudern und fischen gehen dürfen. Außerdem haben wir Schwimmwesten. Es kann also nichts passieren.« Ich saß ganz vorne im Boot und blinzelte in die Sonne. Obwohl es noch früh am Morgen war, war es schon ziemlich warm, schließlich war Sommer. »Wo fischen wir?« Robin steuerte auf den Sandstrand von Badholmen zu. »Wir pfeifen aufs Fischen«, sagte er. »Ich bringe dir stattdessen Schwimmen bei.« »Aber ich habe meine Schwimmflügel nicht dabei.« »Nein, aber die wirst du auch nie wieder benötigen«, sagte Robin und lachte laut. Der Strand ist normalerweise voll mit anderen Kindern, aber wir waren ganz allein. Das Wasser war spiegelglatt und klar. Nach dem Frühstück, das Robin eingepackt hatte, gingen wir sofort ins Wasser. Ich wollte, dass Robin mich beim Schwimmen festhält, aber er lachte mich nur an und sagte: »Ich weiß, dass du das kannst. Du musst dich nur trauen.« Ich erinnere mich, dass er sich immer woanders hinstellte, das Wasser ging ihm bis zum Bauch. Und dann sagte er mir, ich sollte zu ihm schwimmen. Wir waren lange im Wasser, und ich habe ganz schön viel davon geschluckt 16
und hatte blaue Lippen, als wir wieder im Boot saßen. Woran ich mich aber am besten erinnern kann, ist, dass ich schwimmen konnte, als wir zurückruderten. Wir konnten schon von Weitem Opa auf dem Bootssteg stehen und nach uns Ausschau halten sehen. Er war superwütend und schrie Robin an, dass er nicht ganz dicht sei und dass wir beide im Sturm ums Leben hätten kommen können. Robin antwortete, dass das Wetter doch schön war und wir Schwimmwesten anhatten, aber Opa wollte nichts davon hören. Er hörte nicht auf zu schimpfen. Kurze Zeit später zog ein Gewitter auf, und wir erlebten den schlimmsten Sturm des ganzen Sommers. Natürlich war ich froh, dass wir da schon wieder im Haus waren. Erst am Abend hatte sich Opa wieder so beruhigt, so dass ich ihm erzählen konnte, dass Robin mir das Schwimmen beigebracht hatte. Da brummelte er vor sich hin, dass Robins Problem seine lebensgefährliche Mischung aus Klugheit und Dummheit sei. Und obwohl man sich nicht auf ihn verlassen könnte, wäre er derjenige von allen, auf den ich mich am meisten verlassen könnte. Aber das wusste ich schon längst. Dass ich mich auf Robin verlassen konnte, natürlich.