Bettina Obrecht: Isoliert

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ISOLIERT


Bettina Obrecht

ISOLIERT

Bloomsbury Kinderb端cher & Jugendb端cher


Ich bedanke mich beim Ministère de la Culture de l’Enseignement supérieur et de la Recherche/Luxemburg, dem Centre National de Littérature in Mersch und der Stadt Echternach für die Unterstützung.

© 2008 Berlin Verlag GmbH, Berlin | Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher | Alle Rechte vorbehalten | Umschlaggestaltung:

Loco Beach, o Loco Beach My baby went to Loco Beach To see the sunrise, see the sunset See the golden sea. Live her dream and dream her life. To be herself, to be free. To see the birds flying in the sky. Flying over to me. Loco Beach, o Loco Beach My baby went to Loco Beach She told me on the phone She won’t be home, oh no, she won’t be home. The birds came flying over to me They told me She won’t be home. Now I want to go to Loco Beach To look for my baby See the sunrise, see the sunset See the golden sea.

Rothfos & Gabler, Hamburg | Typografie & Gestaltung: Renate Stefan, Berlin | Gesetzt aus der Stempel Garamond durch Greiner & Reichel, Köln | Druck & Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm | Printed in Germany 2008 | ISBN 978-3-8270-5333-6 | www.berlinverlage.de

Gerechter Gott / aber auch barmhertziger und gnädiger Vater / du hast deine Zorn-Hand / über nicht gahr zu weit entfernete Städte und Länder ausgestrecket / und die schädliche Plage der Pestilentz / unter sie ge5


schicket / also daß man von ihren grossen Jammer und Hertzeleyd höret / wie der Todt zu ihren Fenstern herein gefallen / und in ihre Palläste kommen / und die angehenckte Sterbe-Drüsen / Junge und Alte verderben. [Friedrich Wilhelm, Herzog von Mecklenburg-Schwerin] um 1700

MALTA, LOCO BEACH UND EIN VERBRANNTER NORWEGER

Ehrlich gesagt, bis vor Kurzem wusste ich noch nicht mal, wo Loco Beach liegt. Wer wusste das schon, außer den Auserwählten, die sich Ferien im Palmenparadies leisten können. Klar, gehört hab ich davon. Aber als Urlaubsort kam Loco Beach für mich bis jetzt nicht infrage. Meine Eltern gehören nicht zu denen, die ferne Strände anfliegen und sich gemütlich unter Kokospalmen legen. Die sind beruflich so oft in der Ferne unterwegs, dass sie zur Erholung einfach mal zu Hause bleiben. Und wenn sie doch mal privat reisen, dann muss es Kultur sein. Früher musste ich mit auf Kulturtrip. Durch Kirchen und Museen stolpern. Inzwischen bin ich alt genug und kann alleine losziehen. Die letzten Sommerferien, die im Quarantänesommer, habe ich auf Malta verbracht. Als ich losflog, redete noch keiner von Loco Beach und dem Virus. Malta also. Mit Englischkurs. Auf so was bestehen meine 6

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Eltern, »wennschon«. Bloß nicht das reine Vergnügen! Ehrlich gesagt, ich hab trotzdem viel Zeit am Strand verbracht. Auf den weißen Hai gewartet, dann wäre wenigstens was los gewesen. Kam aber keiner. Im Mittelmeer gibt es welche, sagen meine Eltern. Ich glaube, den meisten Urlaubern ist das nicht klar. Immerhin tauchte ein süßer Typ auf. Lasse. Norweger. Den hatte sein Vater auch in einen Ferienkurs gesteckt, aber er konnte eigentlich schon alles und musste deswegen noch öfter am Strand rumliegen als ich. Dabei hat er sich einen dicken Sonnenbrand eingefangen. Geredet hat er nicht viel, aber nett gelächelt. Einmal hat er mir ein Eis gekauft, einfach so. Ich hab ihn wahrscheinlich so fassungslos angestarrt wie einen weißen Hai. Jetzt hab ich seine Adresse und soll ihm schreiben. Auf Englisch. So gesehen hat sich der Englischkurs dann doch gelohnt. Als mein Kurs zu Ende war, da waren meine Eltern schon wieder auf Achse, sodass Erich mich am Flughafen abholen musste. Erich ist Omas Lebensgefährte. Oma Helene kam nicht mit zum Flughafen. Überraschte mich nicht sonderlich. Meine Oma kriegt man schon seit Jahren kaum mehr aus dem Haus. Das darf man nicht persönlich nehmen. Erich nahm mich zur Begrüßung in den Arm. Er macht das immer sehr vorsichtig, als hätte er Angst, dass ich ihm eine knalle. Wahrscheinlich, weil er kein richtiger Verwandter ist. Er könnte ja einer sein, der sich an kleinen Mädchen vergreift.

»Alles klar?«, fragte er, als er mich wieder losgelassen hatte. »Braun bist du. War’s denn schön?« »Och jo. Die anderen im Kurs waren ganz nett.« Erich konnte ich natürlich nicht gleich von Lasse erzählen. Die brandheiße Info wollte ich mir für Clarissa aufheben, meine beste Freundin. Na ja, ein Foto von ihm hatte sie schon aus Malta gekriegt, per SMS . Erich nahm meinen Koffer. Als wir in Richtung Tiefgarage zottelten, kam uns eine Gruppe weiß vermummter Gestalten entgegen. Die Typen trugen Schutzanzüge, Hauben und Mundschutz und rannten hektisch wie Astronauten, denen gerade ihr Raumschiff aus der Umlaufbahn fliegt, in Richtung Ankunftshalle. »Wo wollen die denn hin?«, habe ich noch gefragt. Erich hat ganz ruhig den Koffer abgestellt und nach dem Autoschlüssel getastet. »Keine Ahnung. Vielleicht wieder mal ein Bombenalarm. Wir sehen zu, dass wir wegkommen, bevor alles dichtgemacht wird.« Er nahm den Koffer wieder auf. »Helene wartet mit dem Essen. Ich habe Leberknödel gemacht. Magst du doch.« »Ja.« Ich sah mich noch mal um. Die Typen mit den Schutzanzügen, die waren wie aus dem Fernsehen. Aus den Nachrichten. Oder aus irgendeinem Film. So was wie »Im Bann der Killerviren«. Wir wären fast live dabei gewesen, Erich und ich.

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Das erste Flugzeug aus Loco Beach war gerade gelandet, kurz nach mir. Die Passagiere, die in diesem Moment ihr Handgepäck aus den Fächern über ihren Sitzen zerrten, ahnten nicht, was auf sie zukam. Dass man sie erwartete. Dass man sie zu Hause einsperren und in allen Räumen ihrer Wohnungen Kameras installieren würde. Und dass dann alle anderen sie über Fernsehen oder am Computer überwachen würden. Die konnten das nicht ahnen. So was hat es ja vorher noch nie gegeben. Als wir zu Hause ankamen, saß Oma schon vor dem Fernseher. Und da wurde uns ziemlich schnell klar, warum die Typen mit den Schutzmasken es so eilig gehabt hatten. Das war so verrückt, dass ich sogar vergaß, gleich bei Clarissa anzurufen.

1. ABEND DER QUARANTÄNE

[Ankunftshalle eines internationalen Flughafens. Ein großer Bereich ist abgesperrt, dahinter drängen sich Schaulustige und Kameramänner. Im abgesperrten Bereich haben sich Gestalten in weißen Schutzanzügen im Halbkreis aufgestellt. Die Kamera schwenkt auf die Tür zur unsichtbaren Gepäckhalle. Die Tür öffnet sich. Ein Mann in lila geblümtem Hemd und mit ausgefranstem Strohhut auf dem Kopf tritt heraus. Er zieht zwei schwere Rollenkoffer hinter sich her. Der Mann blinzelt, bleibt stehen. Von hinten kommen zwei Kinder angerannt. Das Mädchen hält ein aufblasbares Flugzeug unter dem Arm, der Junge einen bunten Plüschpapagei.] [Das Mädchen sieht sich um.] Mädchen schmettert: Oma?

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Sie wiederholt es, unsicher geworden: Oma? [Weitere Fluggäste strömen aus der Tür. Alle halten an und starren auf die Gestalten in den Schutzanzügen. Ein junger Mann mit braunen, bis auf die Schulter fallenden Haaren beginnt zu laufen, entdeckt die Absperrungen und bleibt mit hängenden Schultern stehen. Zwei der Gestalten nähern sich den Fluggästen.] Mann im Schutzanzug: In Ihrem Urlaubsgebiet ist ein gefährliches Virus aufgetreten. Wir müssen Sie leider in Quarantäne nehmen.

[Eine zweite Tür öffnet sich. Die Passagiere werden von den Männern im Schutzanzug in Richtung dieser Tür gedrängt. Die Schaulustigen rücken näher an die Absperrung vor und werden von den Polizisten zurückgehalten.] Polizist: Bleiben Sie zurück. In Ihrem eigenen Interesse würde ich nicht so nah rangehen.

2. Mann im Schutzanzug: Sie verstehen das sicher. Diese Maßnahme dient dem Schutz der Allgemeinheit.

»Was machen sie mit denen?«, frage ich. Ich habe mir vor Aufregung einen Fingernagel komplett runtergeknabbert. In den letzten Wochen habe ich mich mit dem Knabbern zurückgehalten, um mich im Englischkurs nicht zu blamieren. »Quarantäne, nehme ich an«, sagt Erich. »Die müssen abgesondert werden, damit sie niemanden anstecken können.« »Aber die sind doch gar nicht krank.« »Man weiß es nicht. Vielleicht tragen sie die Krankheit schon mit sich herum.« »Hoffentlich erwischen sie alle«, murmelt Oma von ihrem Sofa aus. »Ich glaube, die können gar nicht alle erwischen. Es ist wahrscheinlich alles völlig sinnlos. So was ist nicht aufzuhalten.« Sie schaltet mehrere Kanäle durch. Überall dieselben Bilder. Überall betroffene Nachrichtensprecher. Sorgenvolle Mienen. Männer in weißen Schutzanzügen. Durchlauftexte mit den neuesten Zahlen: Bereits eintausendvierhundertdreizehn Menschen unter Quaran-

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Urlauber, offensichtlich angetrunken, mit rot verbranntem Gesicht: Was soll das heißen, du Witzfigur? Ich bin nicht krank. Lass mich sofort durch. [Er versucht, sich an dem Mann im Schutzanzug vorbeizudrängeln, wird aber vom zweiten Mann sofort am Arm gepackt.] Urlauberin mit Sonnenbrille im Haar und dicker Umhängetasche, aus der Getränkeflaschen, Kekspackungen und Bilderbücher quellen: Und die Kinder? Mann im Schutzanzug: Wir können niemanden durchlassen. Bitte folgen Sie uns in den Nebenraum.


täne. Allein bei uns in der Stadt sollen es dreihundertsiebzehn sein. Bereits der fünfte Tote in Loco Beach. Evakuierung der Urlaubsgebiete geht weiter. Ob auch norwegische Urlauber in Loco Beach waren? »Wo wollen die denn mit den Leuten hin, wenn die in Quarantäne sind?«, fragt Oma. »So viel Platz ist doch nicht im Krankenhaus.« »Vielleicht bringen sie die in Turnhallen unter«, sagt Erich. »Die nehmen immer Turnhallen für so was.« »Das verwechselst du«, muffelt Oma vom Sofa her. »Das ist nur bei Flugzeugabstürzen so. Das hier ist doch kein Flugzeugabsturz.« Ich achte nicht auf sie. Die Turnhalle unserer Schule? Dann fiele vielleicht der Sportunterricht aus. Ich schäme mich. Wie kann ich an so kleine Vorteile denken, wenn es um große Katastrophen geht?

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5. TAG DER QUARANTÄNE

CASES, SCHILDKRÖTEN UND PFLEGELEICHTE ROSA HANDTÜCHER

Die haben Glück gehabt. Die sind nicht in irgendwelchen Krankenhäusern gelandet. Auch nicht in Turnhallen. Sie konnten nach Hause gehen. Das ginge natürlich nicht ohne die Kameras, die in ihren Wohnungen installiert sind, in jedem Zimmer. Damit sie nicht abhauen und die Allgemeinheit gefährden. Und damit man beim ersten Anzeichen von Erkrankung eingreifen kann. Jetzt ist jeder verantwortlich. Jeder kann was tun, damit es sich nicht ausbreitet. Damit es uns nicht alle erwischt. Wir sind alle gefragt. Jeder hat einen Zugangscode gekriegt und kann die Loco-Beach-Heimkehrer – es sind jetzt weit über zweitausend – persönlich bewachen. Über Internet oder übers Fernsehen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder gezielt Zahlencodes eingeben, wenn man sich in eine bestimmte Wohnung schalten will. Oder auf Random. Dann kann 15


man einfach laufen lassen und wird von einem Case zum anderen geschaltet. Case, das ist das englische Wort für »Fall«. Jeder, der aus Loco Beach kommt, ist ein Fall. Das klingt spannend, wie im Krimi. Am Anfang haben praktisch alle über Random gewatcht – watchen nennt man das, die Cases beobachten –, um sich einen Überblick zu verschaffen, aber inzwischen hat halt jeder so seine Favoriten. Ich hätte nichts gegen eine Direktschaltung nach Norwegen, gegen Kameras in Lasses Wohnung. Ich besitze nicht mal ein anständiges Foto von ihm. Nur einmal hab ich mich getraut, ihn mit dem Handy zu knipsen. Aber vor lauter Aufregung hab ich verwackelt. Ich hab das Foto trotzdem an Clarissa geschickt, weil er ja irgendwie drauf ist. Sie wird Lasse sowieso nicht gelten lassen. Weil wir uns nicht geküsst haben. Nicht richtig, nur kurz zum Abschied, auf die Backe. Das würde Clarissa nie passieren. Außerdem ist meine Urlaubsromanze sowieso gnadenlos im Virus-Fieber untergegangen. Seit dem ersten Schultag redet in der Klasse kaum jemand über was anderes als Loco Beach. Die ganzen eigenen Urlaubs- und Strandgeschichten sind diesmal ausgefallen. Wir tauschen Tipps aus, die besten Adressen im Netz, unter denen was abgeht. Manche der Cases sind ja langweilig. Die bleiben praktisch den ganzen Tag im Bett liegen, als wären sie schon krank. Aber manche benehmen sich auch ganz witzig, nutzen die Chance,

einmal im Leben im Fernsehen zu sein, mit Riesenpublikum. Es ist wie eine große Show.

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Helene, also meine Oma, ist total drauf, redet ständig von Verantwortung und Schutz der Allgemeinheit und so. Sie hebt ihren Hintern nur noch aus dem Fernsehsessel, wenn sie aufs Klo muss. Mit Absicht trinkt sie so wenig wie möglich, damit das nicht so oft vorkommt. Ihr Zimmer wirkt wie eingefroren, nichts verändert sich mehr. Bis auf das Licht. Wir haben seit Ferienende herrliches sonniges Spätsommerwetter, viel zu schön für Schule. Der Himmel ist ganz klar und knallblau. Vormittags muss Helene die Rollläden halb runterlassen, um die Gesichter auf dem Fernsehschirm erkennen zu können. Am frühen Nachmittag kann Erich die Läden hochziehen, dann ist die Sonne auf die andere Seite gewandert, und abends, pünktlich zu den Acht-Uhr-Nachrichten – auf die besteht er auch »in diesen Zeiten«, wie er es nennt –, lässt er die Läden ganz runter und dreht den Deckenfluter an. »Sie kümmert sich eben«, sagt Erich achselzuckend, wenn ich über Oma lästere. »Sie nimmt die Sache ernst.« Aber ich glaube, sie nimmt die Sache nur ernst, weil sie auch ihre Doku-Soaps und Talkshows so ernst nimmt. Oma ist nicht eine, die sich wirklich kümmert. Weil sich Oma nicht richtig kümmert, hatte ich bis vor zwei Jahren immer Kindermädchen. Meine Kinder-


mädchen kamen aus den verschiedensten Ländern und wechselten von Jahr zu Jahr. Eins hatten sie aber gemeinsam: Sie kümmerten sich überwiegend um Oma Helene, und zwar am liebsten beim gemeinsamen Fernsehen. Ich weiß nicht mehr, wann das mit der Fernsehsucht bei Oma angefangen hat. Irgendwann zwischen Lindenstraße und Gute Zeiten, schlechte Zeiten. Dann lernte Oma Erich kennen. Im Zug. Der blieb mal wieder auf offener Strecke stehen, Lokschaden oder so was, und die Klimaanlage fiel gleich auch noch aus. Erich lebt sehr umweltbewusst und hatte jahrzehntelang kein Auto. Aber an diesem Tag im Zug in der brütenden Hitze irgendwo zwischen den kahl gespritzten Böschungen der Vorstadt verkündete Erich allen, die zufällig im selben Abteil schwitzten, er werde sich jetzt ein Auto kaufen und zukünftig auf alle Feinstäube, Ozonwerte und Treibstoffgase der Welt pfeifen. Oma, der das Bahnfahren, vor allem mit Gepäck, auch immer lästig war, bat ihn spontan, in diesem Fall doch ihr Chauffeur zu werden. Weil sie sich gar keinen richtigen Chauffeur leisten konnte, zog Erich einige Wochen später bei uns ein. Obwohl ich noch klein war – erst acht oder neun Jahre alt –, kann ich mich an das Getuschel in der Nachbarschaft erinnern. Nur weil Erich zehn Jahre jünger ist als Oma Helene. Meine Eltern fanden dagegen alles in Ordnung. Wer sich wie sie in der Tierwelt auskennt, der hält bei Menschen erst recht vieles für normal. Nachdem Erich bei uns eingezogen war, mussten

die Kindermädchen ihre Aufmerksamkeit wohl oder übel auf mich konzentrieren. Sie konnten nicht mehr ihre Nachmittage mit Helene vor dem Fernseher verbringen, über Telenovelas fachsimpeln. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als mich zu erziehen, und das war bestimmt langweilig. Keine hat sich jemals beklagt. Alle sind sich seit jeher darüber einig, dass ich »pflegeleicht« bin. Pflegeleicht! Knitter- und bügelfrei, möglichst noch selbstreinigend! Ich hasse dieses Wort. Seit fast sechzehn Jahren gratulieren sich meine Eltern zu ihrem pflegeleichten Kind. Sie können immer noch so leben, als hätten sie keins. Kein Kind. Sie krabbeln weiter im Urwald rum und suchen nach Kot von aussterbenden Tieren und so was. Sogar meinen Namen verdanke ich einer ihrer Reisen. Meine Eltern waren damals auf Sizilien unterwegs. Irgendwelche Bauern hatten Schildkröten auf ihrem Land gesichtet, und meine Eltern hofften auf die Wiederentdeckung einer alten Landschildkrötenart. Na ja, die Schildkröten blieben verschwunden. Dafür kam ich. Und weil meine Eltern auf Sizilien gerade in das Stadtfest von Palermo geraten waren, das der heiligen Rosalia gewidmet ist, haben sie mich dann mit diesem altmodischen Namen beglückt. Rosalia. Noch lieber hätten sie mir bestimmt einen lateinischen Namen gegeben, wie einer Neuentdeckung aus der Tierwelt. So gesehen habe ich noch Glück gehabt. Rosalia ist schlimm genug. Immer wieder versuchen Leute, mich »Rosie« zu nennen, aber das kann ich erst recht nicht

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leiden. Rosie, die Pflegeleichte! Das klingt nach kuschelweich gewaschenen roséfarbenen Frotteehandtüchern! Nein, wennschon, dann heiße ich richtig Rosalia, mit rollendem R, ich habe so lange geübt, dass ich es jetzt ganz italienisch aussprechen kann. Weil ich so pflegeleicht bin und aussterbende Tierarten so wenig Geld einbringen, komme ich seit zwei Jahren ohne Kindermädchen zurecht. Na gut, das liegt auch an Erich. Der hat sich von Anfang an um mich mitgekümmert, ohne viele Worte zu machen. Er ist wohl von Natur aus ein Kümmerer. Anders würde er Oma Helene auch nicht aushalten. Oma kriegt ihr Leben einfach nicht allein geregelt. Es ist erstaunlich, wie alt man mit dieser Strategie werden kann.

Jedenfalls haben wir drei alles ganz gut hingekriegt, bis die Sache mit Loco Beach losging und Helene angefangen hat, die Allgemeinheit zu schützen. Erich war anfangs auch der Meinung, es ist eine gute Idee. Es sitzen so viele Leute sinnlos zu Hause rum, ohne Arbeit, ohne Familie, hat er gesagt. Jetzt können die mal was für die Gesellschaft tun. Es wird ihr Selbstbewusstsein stärken. Unser Schuldirektor hat das in seiner Ansprache auch so ähnlich formuliert. Wir haben vorgeschlagen, er könnte uns während der Quarantäne schulfrei geben, unter der Bedingung, dass wir rund um die Uhr watchen. Aber darauf wollte er sich nicht einlassen. Er meint, es gibt genügend Arbeitslose und Rentner und Leute, die nichts Besseres vorhaben.

Als Erich einzog, brachte Oma es nicht fertig, die unschuldig verstoßenen Jungfrauen, fiesen Geschäftsmänner, rachelüsternen Liebhaber und Ritter im roten Schlips aus ihrem Leben zu verbannen. Erich muss sein Wohnzimmer mit ihnen teilen, und er hat sich in sein Schicksal gefügt. Er hat Oma nur dazu gekriegt, den Ton ein bisschen leiser zu drehen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum Erich damals zu Oma Helene gezogen ist. Aber vielleicht tue ich ihr Unrecht. Sie hat etwas an sich, was an ein warmes, weiches Samtkissen erinnert. Es gibt Leute, die sind anstrengend, aber man kann sich trotzdem bei ihnen ausruhen. Vielleicht, weil sie so zuverlässig anstrengend sind.

»Ich glaube, bei uns gegenüber, in dem gelben Haus, weißt du? Da wohnen bestimmt welche.« Clarissa wühlt mit spitzen Fingern in der Gummibärchentüte, findet endlich ein rotes und steckt es in den Mund. »Die haben die Läden unten. Seit Tagen.« »Vielleicht sind sie verreist«, sage ich und nehme mir das nächstbeste Gummibärchen. Ich bin nicht so wählerisch wie Clarissa. »Glaub ich nicht.« Clarissa spricht undeutlich, weil sie kaut. »Es könnte sein, dass da welche wohnen.« »Vielleicht sind sie noch im Urlaub.« »Die Sommerferien sind doch vorbei.« »Die haben vielleicht keine Kinder. Wenn die keine

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Kinder haben, fahren sie nach den Sommerferien. Erich und Helene haben …« Clarissa unterbricht mich. »Aber wie kriegen die was zu essen, ohne dass es auffällt?« Ich zucke mit den Achseln. In den Sondersendungen zeigen sie nur, wie die Leute ihr Essen kriegen und alles, was sie sonst so brauchen. Klopapier und Aspirin und so. Die Sicherheitsleute haben Schleusen eingerichtet, in die legen sie das Klopapier rein, und wenn sie wieder weg sind, können die Cases ihren Kram holen. »Ich glaube, ich geh mal rüber«, sagt Clarissa träumerisch. »Ich krieg’s raus. Vielleicht ist Benni ja da drüben.« »Benni? Ach so.« Benni ist einer der Cases. Clarissa fährt völlig auf ihn ab und versucht, keine Minute mit ihm zu verpassen. Deswegen hat sie es auch schon wieder eilig. Sie packt die restlichen Gummibärchen in ihren Rucksack. »Wir telefonieren«, ruft sie mir noch zu. »Bis dann.«

7. TAG DER QUARANTÄNE

HEXER, CONTAINER UND SCHLAPPER SALAT

»Die schon wieder«, murmelt Helene und greift hektisch nach der Fernbedienung. Erich rettet gerade noch ihr Wasserglas, das er absichtlich dicht an die Tischkante gestellt hat, und murmelt etwas von »warmer Tee sowieso besser …«, bevor er in der Küche verschwindet. Ein Paar, beide so um die dreißig, ist vor die Kamera getreten. Das wird gut, die kenne ich schon. Ich setze mich. Wenn ich in unsere Wohnung runtergehen würde, könnte ich mir selbst aussuchen, wen ich heute beobachte. Aber manchmal macht es mehr Spaß, mit Oma zusammen zu watchen. OBJEKT 705/KAMERA 2

[Ein Paar, beide ca. Ende zwanzig. In der Mitte eines sehr aufgeräumten Raums. Eine Wand verschwindet hinter Bücherregalen. Ein Ficus Benjamini hat viele gelbe Blätter, ist offenbar länger nicht gegossen worden. 22

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Beide sehen in die Kamera. Die Frau beginnt zu sprechen. Ihre Stimme ist sehr gefasst.] Frau: Wir bitten um Ihre Hilfe. Wie Sie wissen, hält man uns seit unserer Ankunft am Flughafen in unseren eigenen vier Wänden gefangen. Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen. Wir sind ganz normale Bürger dieses Landes.

OBJEKT 927

[Ein Mann mit Hexenmaske, still in der Ecke eines abgewetzten schwarzen Ledersofas.]

Oma schnappt sich die Fernbedienung. »Die begreifen es nicht!« Sie tippt erbost eine neue Zahl ein. Das Bild wechselt.

»Ich verstehe nicht, warum man die überhaupt zu Wort kommen lässt.« Oma ist so verärgert, dass sie aus Versehen einen Schluck Wasser trinkt. Sie will nicht trinken, damit sie nicht so oft aufs Klo muss. »In aller Öffentlichkeit.« »Ich finde sie witzig«, sage ich. »Die sind wie im Film. Aber der hier spinnt einfach nur. Der tut gar nichts.« »Terroristen«, murmelt Oma. »Die würden doch tatsächlich am liebsten auf die Straße gehen und alle anderen anstecken. Der Untergang wäre das. Das hätten die wohl gerne.« »Vielleicht sind sie ja gar nicht krank«, ruft Erich von der Küche aus. »Stell dir vor, man würde dich hier wochenlang einsperren …« Er verstummt. Wahrscheinlich ist ihm gerade eingefallen, dass Oma nichts Besseres passieren könnte. Sie sperrt sich seit Jahren mit Begeisterung freiwillig ein. Oma starrt auf den Bildschirm. Der Mann mit der Hexenmaske sitzt immer noch reglos in der Sofaecke. »Den müsste man mal wieder abstauben.« Ich grinse. Oma wirft mir nur einen kurzen, verständnislosen Blick zu, dann sieht sie wieder nach vorn.

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[Der Mann spricht weiter. Seine Stimme ist heiser. Es ist deutlich zu hören, dass er den Text auswendig gelernt hat.] Mann: Man nennt uns eine Gefahr für die Allgemeinheit. Wir werden abgesondert und weggesperrt. Wir werden wie Versuchstiere in unseren Käfigen beobachtet. Wir sind nicht krank. Wir sind so gesund wie Sie alle. [Er zögert, sieht auf einen Zettel, den er in der Hand hält.] Wir möchten darauf hinweisen, dass hinter dieser Massenhaft ganz andere Motive stecken, als sie in den Medien vorgeschoben werden. [Er zögert, greift nach einem Zettel und entziffert mühsam:] Es handelt sich um einen Großversuch dieses totalitären Überwachungsstaats …


Die Fernbedienung liegt auf ihrem Schoß wie eins dieser Schoßhündchen, die eher fetten Ratten ähneln. »Komm essen«, sagt Erich zu mir. Wir essen seit zehn Tagen allein in der kleinen Küche. Der Küchentisch steht unter dem schrägen Dachfenster. Weil die Sonne scheint, tanzen kleine Regenbogen neben den geschliffenen Salatschälchen über die Tischdecke. Bei Erich kriegt man immer Salat, wegen der Vitamine. Allerdings kauft er irgendeinen schlappen Salat im Supermarkt, an dem auch nicht mehr viel lebendig ist. Hauptsache grün, nehme ich an. Die Reiskörner auf der Tischdecke trocknen sofort und krümmen sich wie gedörrte Würmer. Es gibt Putengeschnetzeltes. »Schmeckt’s dir?«, frage ich Erich. Eigentlich müsste er mich fragen, schließlich hat er gekocht, aber ich kann sein Schweigen so schlecht aushalten. Er sitzt die ganze Zeit nur da und starrt ins Nichts. »Was?« »Wir könnten morgen am Wohnzimmertisch essen«, sage ich schnell. »Dann ist Oma nicht so allein.« Erich schüttelt nur ganz kurz den Kopf. »Die ist doch nicht allein«, sagt er. »Die ist doch gar nicht da.« Ich senke den Blick auf meinen Teller. »Jemand muss es ja machen«, murmle ich. »Die haben doch dazu aufgerufen. Man muss doch aufpassen.«

»Sieh sie dir an«, ruft Oma aus dem Wohnzimmer. Es ist nicht klar, mit wem sie redet. Erich wischt betont langsam seinen Soßenrest mit einem Stück Brot auf. Weil er das nicht darf, wenn Helene mit am Tisch sitzt. Dann steht er auf und holt ihren Teller aus dem Wohnzimmer. Ich gehe rüber und lasse mich aufs Sofa plumpsen.

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OBJEKT 289/KÜCHE

[Eine etwa vierzigjährige Frau sitzt am Tisch und rührt abwesend in einer Tasse.] »Ich finde, sie sieht heute schlechter aus«, sagt Helene. »Dunkle Schatten unter den Augen. Na, ich weiß ja nicht …« »Du siehst auch nicht sehr gesund aus«, kommentiert Erich aus der Küche. »Das kommt vom Rumsitzen und Warten. Für die da drin ist es noch viel schlimmer, das Warten.« Oma geht gar nicht auf Erich ein. »Sie trinkt schon wieder Tee. Kamille, ich wette, das ist Kamillentee. Sieh dir die Farbe an, dieses blassgelbgrün, wie eine Urinprobe. Kamille, sag ich dir. Der geht es nicht gut.« »Die Angst.« Erich ist in den Türrahmen getreten, ein Geschirrhandtuch über der Schulter. »Die Angst macht das. Was kommen kann. Ob sie es schon hat. Die haben alle Angst. Und hier draußen sehen einfach alle zu.« »Ein Glück für die«, sagt Helene streng. »Stell dir


vor, einer fällt um! Hier draußen passt immer jemand auf. Im Handumdrehen ist der Krankenwagen da.« »Und dann?« Erich macht einen Schritt ins Wohnzimmer. Ich springe auf. »Ich geh mal zu mir runter. Franztest morgen.« Erich runzelt die Stirn. »Bitte rede in ganzen Sätzen: Wir schreiben morgen eine Französischarbeit.« Ich verdrehe die Augen. »Psst!« Helene beugt sich zu uns herüber. »Erich, wenn es so weit ist, musst du anrufen. Ich bin zu aufgeregt.« »Jaja«, brummt Erich und dreht sich wieder um. Ich knuffe Erich noch mal freundschaftlich in den Bauch und flitze die Treppe runter. Erich ist ja nicht mein richtiger Opa. Er hat eigentlich kein Recht, an mir rumzumeckern. Aber manchmal finde ich es okay, wenn er an mir rummeckert. Immerhin ist ihm dann aufgefallen, dass ich da bin. Ich schließe unsere Wohnungstür auf. Im Flur riecht es nach Mamas Parfum. Das benutze ich gern, wenn sie nicht da ist. Ich gehe in mein Zimmer und reiße die Fenster weit auf. Ich werfe Lasse auf dem ausgedruckten Wackelfoto an meiner Pinnwand eine Kusshand zu, obwohl er darauf mehr wie ein überfahrenes Kaninchen aussieht, und schalte den Computer ein. So direkt nach dem Essen kann nämlich kein Mensch Französisch lernen. Noch nicht mal ein Franzose. Die Franzosen verstehen was vom Essen.

Da kann ich meine Zeit ebenso gut sinnvoll nutzen und noch ein bisschen watchen.

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OBJEKT 927/KAMERA 1/ WOHNZIMMER

[Eine vermutlich männliche Gestalt, leicht angegraute Haare, Bauchansatz. Das Gesicht ist von einer Faschingsmaske (Hexe) verdeckt. Sitzt auf einem Rattansofa. Ein rechteckiger Glastisch, Kiefernmöbel, überladenes Bücherregal, Kinderfotos, bunte Glasvögel. Der Mann erhebt sich mit einem Ruck, zögert, geht unschlüssig zu den Kinderfotos im Regal. Er nimmt ein Bild in die Hand, stellt es wieder hin, öffnet stattdessen eine Klappe im Schrank. Dahinter erscheint eine Hausbar. Er nimmt eine Flasche und ein Glas heraus, gießt eine bräunliche Flüssigkeit ein. Mit dem Rücken zur Kamera schiebt er die Maske nach hinten und trinkt. Er stellt das Glas ab, zieht die Maske wieder vors Gesicht und wendet sich um. Er geht aus der Tür in den …] OBJEKT 9 27/ KAMERA 2/ HAUSWIRTSCHAFTSRAUM

[Waschmaschine, Besen und Schrubber, ein voller Wäschekorb, Farbeimer, Tapetenrollen. Der Mann klappt einen Wäscheständer auf und fängt an, die Wäsche aus dem Korb aufzuhängen. Er hängt zwei schokoladenbraune Handtücher und drei karierte Geschirrtücher auf. Er zögert, zieht langsam eine Herrenunterhose aus dem Korb und hängt sie so zwischen die zwei Handtücher, dass sie im Bild nicht zu sehen ist. Er wirft einen


kurzen Blick in die Kamera. Er reibt seinen Handrücken an der Hexennase und hebt dann ein Badetuch mit der Aufschrift »Loco Beach« aus dem Korb. Er betrachtet das Badetuch einige Sekunden lang, dann ballt er es zusammen und wirft es in den Wäschekorb zurück.]

Vater: Das ist nichts Lebendiges mehr. Plastik. Reines Plastik.

Abgedreht ist der, zum Gruseln. Lange halte ich ihn nicht aus. Dann kriege ich so ein kaltes würgendes Gefühl im Hals. Als wäre ich noch ein kleines Kind und würde an Hexen in Lebkuchenhäusern glauben, die fette Kinder auffressen. Ich schalte auf Random und krame einen Schokoriegel aus meinem Rucksack. Noch einen spannenden Case, dann mache ich Hausaufgaben.

Vater: Die sind auch aus Plastik.

OBJEKT 1043/KAMERA 2/KÜCHE

Mutter: Sei still.

[Eine Familie (Mutter, Vater, Mädchen, etwa sechzehn Jahre alt, Junge, etwa zehn Jahre alt) sitzt beim Mittagessen. Der Vater stochert offenbar ohne Appetit in seinem Salat.]

Tochter: Ihr macht euch doch was vor. Nur die paar Wochen, wer’s glaubt. Reine Sicherheitsmaßnahme. [Sie sieht direkt in die Kamera.]

Vater: Lappig. Der Salat ist lappig. Der gestern war auch lappig. Da sind doch nirgends mehr Vitamine drin. Mutter: Mir wär’s auch lieber, ich könnte selbst aussuchen. Die bringen eben immer nur den.

Junge: Muss ich meinen Salat essen? Mutter: Iss wenigstens die Tomaten.

Tochter: Ich hab keinen Hunger. Mutter: Du musst was essen. Tochter: Warum? Ist doch alles egal. Von wegen Abwehrkräfte, haha. Wir sind doch sowieso fertig.

Tochter: Ja, guckt euch das nur an. Guckt nur zu, wie die uns verrecken lassen. Vater: Jetzt ist Schluss. Wir haben alles, was wir brauchen. Sohn: Ich will, dass Castro zurückkommt.

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Tochter: Den haben sie doch längst eingeschläfert. Sohn: Das ist nicht wahr. [Sohn geht auf Tochter los. Geschirr klappert. Vater springt auf und trennt die Kinder.]

Tochter: Entschuldigung, Florian. Ich hab das nur so gesagt. [Die Tochter wirft noch einen kurzen, anklagenden Blick in die Kamera.]

Mutter: An Tiere geht es nicht. Tiere können es nicht übertragen, das hast du doch gehört. Nur die Vögel. Die Vögel da unten. Die haben keinen Grund, Castro einzuschläfern. [Die Tochter sieht Florian an. Sie hebt die Hand und streicht ihm über die Haare.]

Mein Handy klingelt. Ich werfe einen Blick aufs Display. Es ist Clarissa. Ich gehe dran. »Hast du Benni gesehen?«, kreischt Clarissa. Sie hält sich nie lange mit Begrüßungsfloskeln auf. »Ich hab mich totgelacht.« »Ich war gerade woanders«, sage ich. »Bei einer Familie. War ganz witzig. Die verlieren schon die Nerven.« Aber mir ist überhaupt nicht nach Lachen zumute. »Benni hat gesungen. Gesungen! Du lachst dich kaputt. Und dann hat er sein T-Shirt ausgezogen. Wow. Ich möchte mal wissen, wie viele Weiber vor dem Fernseher in Ohnmacht gefallen sind.« »Gib mir seine Nummer noch mal«, sage ich. »Ich seh später nach, was er macht. Ich muss aber erst Franz lernen.« Clarissa macht ein Geräusch, als müsse sie sich übergeben. Dann spricht sie mit normaler Stimme. »Nummer vierhundertsiebzehn. Schreib’s dir auf. Hey, das lohnt sich. Sonst was Interessantes?« »Ich war nur kurz drin.« Einen Moment lang schweigen wir beide. Dann frage ich:

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Vater: Sofort entschuldigst du dich bei Florian. Mutter: Hört doch auf … Denkt doch dran … [Sie blickt mehrmals ängstlich in die Kamera.] Tochter: Mir doch egal. Das sollen ruhig alle sehen. Mutter: Florian, hör zu. Castro geht es gut. Er ist im Tierheim und wird dort versorgt. Wenn alles vorbei ist, holen wir ihn. Wenn wir wieder mit ihm rausgehen können. Du weißt doch, dass wir jetzt nicht rausgehen können. Ein Hund braucht das aber. Tochter: Das glaubst du doch selber nicht. Die haben den doch sofort abgemurkst. [Florian heult laut.]


»Können Tiere das auch übertragen?« »Welche Tiere?« »Ich meine, weißt du, was sie mit den Hunden und Katzen und Meerschweinchen von denen gemacht haben?« »Keine Ahnung.« Clarissa überlegt. »Bestimmt eingeschläfert.« »Aber vielleicht übertragen die das gar nicht.« »Vielleicht, vielleicht. Die Menschen haben es vielleicht ja auch nicht. Die gehen auf Nummer sicher. Aber ich will dich nicht aufhalten. Du musst ja Französisch …« »Vielen Dank. Sehr rücksichtsvoll.« »Immer. Hey, ich komm nachher noch zu dir rüber. Ich brauch deine Hilfe. Ich hab mir den Bewerbungsbogen für die Containershow ausgedruckt.« »Wozu denn das?« »Weil ich mich bewerben will. Mann, die werden doch berühmt und alles …« »Du spinnst. Das ist doch längst out. Bis dann.« Ich lege das Telefon weg und mache den Computer aus. Dann krame ich das Französischbuch aus meinem Rucksack und schmeiße es mit heftigem Knall auf den Schreibtisch. Wozu muss ein normaler Mensch Französisch sprechen? In Loco Beach spricht doch keiner Französisch, höchstens ein Papagei, der noch nicht kapiert hat, was los ist. Vielleicht haben sie die auch vergiftet, die Papa-

geien. Ich weiß nicht, was die alles vergiftet haben. Im Moment ist das Gebiet jedenfalls gesperrt. Die Touristen müssen sich andere Traumstrände suchen. Die Einheimischen hat man in Lager gebracht, mit Stacheldraht drum rum. Da haben die Cases bei uns es doch schon wesentlich besser.

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Keiner kann sagen, wie gefährlich das Virus ist. Aber die rechnen mit dem Schlimmsten, sagt Erich. Ich muss immer an die Kühe denken. An diese Berge von toten Kühen, die sie damals verbrannt haben. Da war auch etwas mit einem Virus, einem, der Kühe anfällt. Die haben alle Kühe verbrannt, die das Virus hatten. Nein, stimmt nicht. Die meisten Kühe hatten es gar nicht, die waren gesund, aber zur Sicherheit musste man sie alle töten. Und diese Typen mit den weißen Schutzanzügen, die waren damals ständig im Fernsehen und haben Kühe gekillt. Ich sehe aus dem Fenster. Die Sonne scheint immer noch. Jeder Tag kann der letzte sein, dann kommt der Herbst. Und meine schöne Malta-Bräune pellt sich schon ab. Lasse … Sicher macht er sich Sorgen um mich. Er hört doch in den Nachrichten bestimmt, was hier los ist. Ich muss ihm schreiben, dass es mir gut geht. Warum habe ich nur eine Postadresse von Lasse und keine E-Mail? Ich hätte ihm meine E-Mail aufschreiben sollen. Manchmal steh ich echt auf dem Schlauch. Muss ihm gleich noch mal schreiben und meine E-Mail-


Adresse durchgeben. Und wenn ich Französisch gelernt habe, fahre ich noch eine Runde Fahrrad. Raus auf die Streuobstwiesen, mal sehen, ob ich schon irgendwo reife Äpfel finde. Ich muss mich ja nicht hier einsperren.

»Meinst du das jetzt ernst?« Ich starre sie an. »Natürlich nicht.« Sie kichert. »Man darf doch mal träumen, oder?« »Lädst du mich dann ein? An deinen Pool.« »Klar.« Clarissa räkelt sich über mein Bett. »Aber Hände weg von meinem Tennislehrer.«

Alors. Prenons nos livres. Clarissa kommt tatsächlich mit ihrem Bewerbungsbogen an. Für diese abgedrehte Containershow, Folge zweitausendachthundertdreizehn. Ich serviere Eistee, und wir lesen genüsslich alle Fragen durch und stellen uns vor, wie wir darauf antworten würden. Vom Lachen tut mir schon der Bauch weh, als wir zum letzten Punkt kommen: »Sind Sie käuflich? Wenn ja, für wie viel?« Clarissa wird ganz ernst. »Was meinst du, reicht heutzutage noch eine Million? Ich glaube, man braucht schon mehrere.« »Wofür?« »Wenn man nicht mehr arbeiten will. Schönes Haus mit Pool, schickes Auto und so.« Ich starre sie an. »Hey, die meinen, ob du für Geld ALLES tun würdest.« »Alles? Diese Schweine. Aber andererseits … Stell dir mal vor. Schulabschluss wäre piepegal, du hättest für immer ausgesorgt …« 36

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