Silke Lambeck: Wo bleibt Herr Röslein?

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WO BLEIBT HERR RÖSLEIN?

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Silke Lambeck WO BLEIBT

HERR RÖSLEIN? Illustriert von KARSTEN

TEICH

BLOOMSBURY Kinderbücher & Jugendbücher

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© 2010 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher Alle Rechte vorbehalten Gesetzt aus der Stempel Garamond und der Coop Forged durch psb, Berlin Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany ISBN 978-3-8270-5409-8 www.berlinverlage.de

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MORITZ MACHT EINE BEKANNTSCHAFT Moritz rannte über den Schulhof. Die vierte Stunde hatte schon vor fünf Minuten angefangen – Mathe bei Herrn Neuwirth, der immer sehr streng war. Aber Moritz hatte seine Sportschuhe in der Turnhalle liegen lassen, und diese Schuhe waren erstens ziemlich neu und zweitens zur Hälfte von seinem Taschengeld bezahlt. Sie waren schwarz, mit goldenen Streifen. Er hatte sie monatelang im Schaufenster betrachtet, bis er das Geld zusammenhatte. Es war dumm gewesen, sie nicht mit einzupacken. Die Tür zum Umkleideraum stand offen, und zum Glück sah er seine Schuhe gleich unter der vorderen Bank stehen. Er war schon fast wieder auf dem Weg nach draußen, als er ein Geräusch hörte. Es kam aus dem hinteren Teil der Umkleidekabine und klang jämmerlich. Moritz drehte sich um und schaute nach hinten. Auf der letzten Bank, weit weg von den Fenstern, saß ein Junge und hatte den Kopf in den Händen vergraben.

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Von nahem erkannte Moritz, wer da saß. Es war Silvio, ein Junge aus der 4 a, mit der sie zusammen Sport gehabt hatten. Moritz hatte schon manchmal mit ihm Fußball gespielt und fand Silvio eigentlich ganz nett, auch wenn er es zwei- oder dreimal miterlebt hatte, dass er völlig ausflippte, weil er danebengeschossen hatte oder sich ungerecht behandelt fühlte. Das fand er zwar seltsam, aber Silvio war niemand, der andere schikanierte, so wie es Stefan Rabentraut aus Moritz’ Klasse tat. »Hei Silvio«, sagte Moritz jetzt, und Silvio hob den Kopf. Er antwortete nicht. Sein Gesicht war blass und

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er sah verzweifelt aus. Über seine Wangen liefen die Tränen bis zum Kinn. »Was ist los?«, fragte Moritz. »Ich finde meine Schuhe nicht«, sagte Silvio mit eigenartig krächzender Stimme, und nun sah Moritz, dass der Junge in Socken vor ihm saß. »Sie können ja nicht weg sein. Komm, wir suchen sie«, sagte Moritz und dachte mit Sorge an Herrn Neuwirth. »Ich hatte meine Schuhe auch vergessen.« »Aber ich habe die Schuhe nicht vergessen«, entgegnete Silvio. »Jemand muss sie weggenommen haben.« »Was waren das für Schuhe?«, fragte Moritz. »Sie waren blau. Und …«, damit begann Silvio wieder zu weinen, »sie waren ganz neu.« »Vielleicht wollte jemand einen Spaß machen und hat sie in irgendeiner Ecke versteckt«, sagte Moritz. Gemeinsam durchsuchten sie den muffigen Umkleideraum. Sie schauten in jede Ecke, sahen bei den Fundsachen in der Kiste nach und hoben die Kästen hoch, die an der Wand gestapelt waren. Die Schuhe blieben verschwunden. »Oh Gott, was mache ich denn jetzt«, murmelte Silvio vor sich hin. Er hatte sich wieder auf die Bank gesetzt und den Kopf zwischen den Händen vergraben. »Na, du könntest erst mal deine Sportschuhe anziehen«, schlug Moritz vor. »Und nachher kannst du im Sekretariat Bescheid sagen. Vielleicht tauchen deine Schuhe woanders wieder auf.«

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»Ich habe keine Sportschuhe, ich turne immer barfuß«, antwortete Silvio. »Dann …«, Moritz rang einen Moment mit sich und sah auf seine schönen neuen Turnschuhe, »hast du auch 35?« Silvio nickte. »Dann zieh meine an, du kannst sie mir ja morgen wieder mitbringen.« »Aber was wird mein Vater sagen«, brach es jetzt aus Silvio heraus. »Er wird denken, ich habe die Schuhe verschlampt und …« Weiter kam er nicht, weil er von Schluchzern geschüttelt wurde. Moritz setzte sich neben ihn und legte ihm etwas ratlos die Hand auf den Rücken. In diesem Moment ging die Tür vom Umkleideraum auf und Ole kam herein. »Da bist du ja!«, rief er und kam auf Moritz und Silvio zu. »Herr Neuwirth hat mich geschickt und ich kann dir sagen, er ist ziemlich sauer. Du kriegst mindestens einen Eintrag ins …« Dann brach er ab und sah Silvio an. »Was ist los?« »Silvios Schuhe sind weg, wir haben schon alles abgesucht«, sagte Moritz. »Ach komm«, sagte Ole, »wer nimmt schon anderen die Schuhe …« Er unterbrach sich und sah Moritz an. Und beide hatten genau den gleichen Gedanken. »So was tut nur einer«, sagte Moritz. »Stefan Rabentraut.« Es brauchte noch einige Minuten, bis Silvio sich so weit beruhigt hatte, dass er in Moritz’ Schuhen zurück in seine Klasse gehen konnte. Moritz blickte ihm etwas

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wehmütig hinterher. Es regnete, und seine Schuhe würden nicht besser werden, wenn man sie bei diesem Wetter draußen trug. Aber Silvio hatte ihm versprochen, besonders gut aufzupassen. Als sie in die Klasse zurückkamen, war die halbe Schulstunde um. »Schön, dich zu sehen, Moritz«, sagte Herr Neuwirth. »Und erfreulich, dass du offenbar doch noch am Unterricht teilnehmen willst.« »Aber …«, sagte Moritz. »In der Pause«, sagte Herr Neuwirth. Die Pause nutzte sein Lehrer dann allerdings nicht, um sich Moritz’ Gründe anzuhören, sondern um ihm einen Vortrag über das Zuspätkommen zu halten. »Es gibt wenige Regeln in der Schule«, sagte Herr Neuwirth. »Eine dieser Regeln lautet, dass die Schüler pünktlich zum Unterricht zu erscheinen haben. Tun sie es nicht, gibt es einen Eintrag ins Klassenbuch.« Damit zückte er seinen Füller und fing an zu schreiben. »Aber …«, sagte Moritz wieder, doch dann fiel ihm ein, dass es höchste Zeit war, mit Ole gemeinsam nach Stefan Rabentraut zu suchen. So schlimm war ein Eintrag ins Klassenbuch nun auch nicht. Also sagte er: »Okay. Kommt nicht wieder vor«, und rannte an dem erstaunten Herrn Neuwirth aus dem Klassenraum hinaus auf den Hof.

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Ole schimpfte in einer Ecke des Schulhofs auf Stefan Rabentraut ein, der breit und grinsend vor ihm stand. »Hat Klein-Silvio seine Schuhe verloren?«, höhnte Stefan jetzt. »Das tut uns aber leid, oder Mirko?« Er stieß seinem Freund Mirko Schulze den Ellbogen in die Seite. Mirko schaute auf die Erde. »Ganz neue Schuhe, und schon weg. Ei, ei, ei. Aber was habe ich damit zu tun?« »Es gibt niemanden außer dir, der so gemein wäre, anderen die Schuhe zu klauen«, zischte Ole. Moritz war jetzt bei ihm angekommen und stellte sich neben ihn. »Moritzchen!«, rief Stefan Rabentraut. »Hast du denn gut auf deine feinen Turnschuhe aufgepasst?« Stefan war größer als er, so dass Moritz leider zu ihm aufschauen musste. Dabei legte er so viel Verachtung wie möglich in seinen Blick. Trotzdem versuchte er, ruhig zu bleiben. »Stefan«, sagte er, »Silvio bekommt grässlichen Ärger mit seinem Vater, wenn die Schuhe weg sind.«

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Für eine Sekunde schien es Moritz, als ob eine Spur von schlechtem Gewissen über Stefans Gesicht huschte. Aber dann sagte Stefan umso lauter: »Na ja, dann würde ich an seiner Stelle mal gründlich suchen.« Damit drehte er sich zu Mirko. »Komm, wir gehen. Ich kann das Gejammer hier nicht mehr hören.« Ole wollte hinter ihm her stürzen, aber Moritz hielt ihn fest. »Was willst du machen?«, fragte er. »Am besten wäre, wir könnten es ihm beweisen. Dann fliegt er endlich von der Schule.« Nach der letzten Prügelei auf dem Schulhof hatte die Rektorin, Frau Dr. Hansmann, Stefan gedroht, ihn von der Schule zu schmeißen. Das wussten Moritz und Ole deshalb so genau, weil sie es gewesen waren, mit denen Stefan sich geprügelt hatte. Ole zuckte die Schultern und trat einen kleinen Stein weg. »Er ist so ein Idiot«, sagte er. »Ich frage mich, wo er die Schuhe versteckt haben könnte«, sagte Moritz, während sie zum Klassenraum

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zurückliefen. »In der Turnhalle haben wir doch alles abgesucht.« In der nächsten Stunde hatten sie nicht mehr viel Gelegenheit, darüber nachzudenken, weil Frau Meier mit ihnen einen unvorbereiteten Englischtest schrieb. Moritz hatte das Gefühl, dass es ganz gut lief, entdeckte aber kurz vor dem Abgeben noch zwei Fehler. »Mist«, sagte er zu Ole, als sie nach Hause gingen. »Irgendwie glaube ich, dass noch mehr Fehler drin sind.« »Na, und wenn schon«, sagte Ole. »Das hat sie davon, wenn sie uns unvorbereitete Tests schreiben lässt« – ganz, als wäre es Frau Meiers Problem, wenn Moritz seinen Test vermasselte. Als er nach Hause kam, war keiner da. Papa hatte ein Gespräch mit einem Auftraggeber, der ihn für ein Konzert verpflichten wollte, und Tim war noch bei der Tagesmutter. Moritz schmierte sich ein Brot, nahm einen Apfel aus dem Obstkorb und ging in sein Zimmer. Er hatte nicht besonders viel Zeit, um zu essen und Hausaufgaben zu machen, weil um drei Uhr sein Sportkurs anfing. Widerwillig nahm er sein Matheheft aus dem Schulranzen und begann, schriftliche Brüche untereinanderzuschreiben. Mit etwas Wehmut dachte er an den Tag, als er mit Herrn Röslein verabredet gewesen war und seine Aufgaben sich wie durch Zauberhand gelöst hatten. Jetzt musste er sie leider selbst machen.

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Herr Röslein war seit Wochen auf Reisen, und selbst Alfons Meyerbeer wusste nicht, wann er wiederkäme. Das letzte Mal hatte Moritz ihn bei Alfons gesehen, als Papas »Konzert für ein Hausschwein« aufgeführt wurde. An diesem Abend war sein alter Nachbar plötzlich abgereist, »in dringenden Geschäften nach Mali«, wie es hieß. Moritz riss sich von seinen Gedanken los und blickte auf die Turmuhr. Es war Viertel vor drei. Schnell griff er nach seinem Rucksack, schmiss seine alten Turnschuhe und ein etwas verknülltes T-Shirt hinein und rannte los. An diesem Tag trainierten sie das erste Mal wieder auf dem Schulhof. Es war noch nicht richtig warm, aber wenn man sich bewegte, konnte man es draußen aushalten. Erst rannten sie drei Runden um den Schulhof, dann übten sie Weitsprung und schließlich begannen sie mit dem Weitwurf. Moritz war gut in Form und sein Ball flog so weit, dass er im Mülleimer auf der entgegengesetzten Seite des Schulhofs landete. Er rannte hin, um ihn herauszuholen, als er plötzlich etwas entdeckte. Auf dem Boden des Eimers, unter alten Bananenschalen und angebissenen Broten, lag ein Paar Schuhe. Blaue Schuhe, die bis zu diesem Tag ganz neu ausgesehen haben mussten.

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MORITZ BEKOMMT EIN GESCHENK Moritz saß am Küchentisch und wartete auf Papa und Tim. Sie mussten jeden Moment kommen, und er wollte die Schuhe unbedingt noch bei Silvio vorbeibringen. Mehmet vom Sport kannte Silvio noch aus dem Kindergarten. Er hatte Moritz angerufen und ihm den Nachnamen und die Adresse gesagt. Aber Moritz wusste nicht genau, wo die Baumgartenstraße war, und hoffte, dass Papa ihn mit dem Auto vorbeibringen würde. Er hatte die Schuhe notdürftig sauber gemacht, aber sie hatten doch einige Flecken behalten. Endlich hörte er, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde, und lief zur Tür. Tim kam ihm mit ausgestreckten Armen entgegen. »Hallo Papa, hallo Tim«, sagte Moritz. »Ihr braucht euch gar nicht ausziehen, wir müssen noch mal los.« »Och nö«, sagte Papa. »Ich bin echt kaputt. Ich war den ganzen Tag unterwegs. Wohin willst du?«

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Schnell erzählte Moritz ihm die Geschichte von Silvios Schuhen und auch, dass er seine eigenen Turnschuhe verliehen hatte. »Ich guck mal kurz auf den Stadtplan«, sagte Papa. Die Baumgartenstraße lag gleich hinter dem Stadtpark. »Ich fahr dich, ist okay«, sagte Papa. »Aber hochgehen kannst du ja alleine, nicht?« Moritz nickte. Es stellte sich jedoch heraus, dass Moritz gar nicht hochgehen musste. Die Baumgartenstraße lag in einer Reihenhaussiedlung; kleine, beigefarbene Häuser mit schnurgeraden Vorgärten, in denen jetzt die ersten Stiefmütterchen und Primeln blühten. Vor jedem Haus stand rechts oder links ein Auto, und weil es auf Ostern zuging, hingen an den meisten Türen kleine Kränze mit Ostereiern oder gelben Küken. Die Nummer 27 lag genau in der Mitte der Siedlung. Papa ließ Moritz raus und sagte: »Ich fahr noch mal rasch die Straße hoch, einen Liter Milch holen. Silvio freut sich bestimmt und will sich bei Dir bedanken.« Moritz stieg aus und lief die zwei Stufen zur Tür hoch, während Papa losfuhr. Die Schuhe hielt er vor sich in der Hand. Auf dem Schild stand »Pinneberg«. Moritz drückte auf die Klingel. Einen Moment später ging die Tür auf und Silvio stand vor Moritz. Er sah merkwürdig aus. Seine rechte Gesichtshälfte war dick und rot und seine Augen schienen vom Weinen geschwollen zu sein. Als er Moritz erkannte, hellte sich sein Gesicht auf.

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»Hier«, sagte Moritz und hielt ihm die Schuhe entgegen. »Die lagen in einem Mülleimer auf dem Schulhof.« In diesem Moment tauchte hinter Silvio ein Mann auf und schob den Jungen zur Seite. Er war groß und hager und sah sehr wütend aus. »Was ist das?«, schrie er den verblüfften Moritz an und riss ihm die Schuhe aus der Hand. »Hast du Silvio die Schuhe geklaut?« »Nein, ich …«, setzte Moritz an, aber der Mann hörte ihm nicht zu. »Vollkommen verdreckt«, brüllte er. »Neue Schuhe und vollkommen verdreckt!« Silvio zog an seinem Ärmel und wollte ihm erklären, wie Moritz zu den Schuhen gekommen war. »Moritz hat mir seine Schuhe

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geborgt«, sagte er. »Er hat meine heute Nachmittag gefunden.« Dabei schaute er Moritz an und versuchte ein Lächeln. »Ah. Na gut«, sagte der Vater, sah Moritz aber immer noch an, als habe dieser die Schuhe gestohlen. »Könnte ich jetzt vielleicht meine Turnschuhe zurückhaben?«, fragte Moritz. »Ja, klar«, sagte Silvio und lief in den Flur zurück, um die Schuhe zu holen. Sein Vater stand mit verschränkten Armen in der Tür und starrte Moritz finster an. Moritz guckte unsicher zurück. Da kam Silvio mit Moritz’ Turnschuhen zurück. Sie hatten wie befürchtet etwas unter diesem Tag gelitten, aber Moritz hoffte, dass er sie wieder sauber kriegen würde. »Na dann«, sagte er zu Silvio. »Bis morgen.« »Tschüss, Moritz«, sagte Silvio. »Und danke.« »Gern geschehen«, antwortete Moritz noch, als ihm auch schon die Tür vor der Nase zuknallte. Moritz lief langsam die Stufen wieder herunter und wartete an der Straße, bis Papa mit Tim zurückkam. »Da bist du ja schon«, wunderte sich Papa. »Ich durfte gar nicht rein«, sagte Moritz. »Der Vater war sehr unfreundlich.« Und dann erzählte er von der eigenartigen Begegnung. »Na, das ist ja wohl das Allerschärfste«, sagte Papa. »Den werde ich zu Hause gleich mal anrufen.«

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»Vielleicht besser nicht«, sagte Moritz. »Hinterher wird er wütend auf Silvio.« »Das hört sich gar nicht gut an«, sagte Papa. Tim hatte angefangen zu weinen und trat schon wütend um sich, als sie zu Hause ankamen. »Er hat Hunger«, sagte Papa. Zum Glück war Mama schon da und hatte das Abendessen vorbereitet. Moritz sah verblüfft zu, wie schnell Tim sich seine kleingeschnittenen Butterbrote in den Mund stopfte. »Du bist ein kleines Monster«, sagte er und piekste Tim seinen Finger in die Wange. »Monta«, sagte Tim und grinste ihn mit zwei Zähnen und einem hinreißenden Grübchen an. Er war jetzt anderthalb und konnte sitzen, essen, laufen und ein bisschen sprechen – was eine ganze Menge war, wenn man es mit dem brüllenden, hilflosen Säugling verglich. Damals hatte Moritz gedacht, dass er mit diesem Wesen wohl nie etwas würde anfangen können. Aber mittlerweile fand er ihn lustig, obwohl es manchmal nervte, dass alle immer nur Tim anguckten, wenn sie zu viert irgendwo auftauchten. Man musste es ja nun auch nicht übertreiben. Er selber, Moritz, hatte immerhin geholfen, Pippa Cornelius zu befreien, die von dem bösartigen Karl Dieter Sonnenhut entführt worden war. Ohne ihn hätte Herr Röslein das Versteck wohl nicht gefunden – und ohne ihn wäre er auch nicht darauf gekommen, dass sein alter Schulkamerad Sonnenhut hinter der Entführung steckte. Dazu sagte keiner was.

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Moritz hatte gehofft, dass Herr Röslein ihm zwischendurch einmal schreiben würde, aber Herr Röslein war kein Postkarten-Schreiber. Dafür sah Moritz hin und wieder Alfons Meyerbeer, für den Papa sein »Konzert für ein Hausschwein« komponiert hatte. Papa erzählte Mama gerade von Moritz’ Begegnung mit Silvios Vater, als es klingelte. »Guckst Du mal, Moritz?«, bat Papa und Moritz lief zur Tür. Er brauchte einen Moment, um den Riegel zurückzuschieben und das Schloss zu öffnen, und als er das geschafft hatte, stand niemand vor der Tür. Stattdessen hörte er eilige Schritte und gleich darauf, wie unten die Haustür zufiel. Fast hätte er das Päckchen übersehen, das auf der Fußmatte lag und etwas größer war als eine Zigarettenschachtel. Und darauf stand in zierlichen Buchstaben: »Herrn Moritz Freudenreich, persönlich.«

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