Jonathan Littell: Tschetschenien, Jahr III

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Jonathan Littell war schon in den beiden Kriegen 1996 und 1999 für eine Menschenrechtsorganisation in Tschetschenien tätig. Seitdem gilt er als gut informierter und scharfsinniger Kenner des Landes. Im Frühjahr 2009 ist er erneut in den Kaukasus gereist – mit dem Ziel, ein Porträt des Ministerpräsidenten Ramsan Kadyrow zu schreiben. Doch ist aus den Gesprächen mit tschetschenischen und russischen Freunden, Menschenrechtlern, ehemaligen Rebellen und Regierungsvertretern weit mehr entstanden als das Bild von Kadyrows bizarrer Persönlichkeit und dem Wesen und Zynismus seiner Macht: Littells ebenso beeindruckende wie beängstigende Reportage ist das Porträt eines ganzen Landes und der Entwicklung, die es seit Kriegsende und dem Regierungsantritt Kadyrows im Jahr 2007, aber auch seit dem Mord an der Menschenrechtlerin Natalja Estemirowa genommen hat.

Jonathan Littell, 1967 in New York geboren, ist in Frankreich aufgewachsen. Für Die Wohlgesinnten erhielt er 2006 den Grand Prix du Roman der Académie Française und den Prix Goncourt. Im Berlin Verlag erschienen außerdem Georgisches Reisetagebuch (2008) sowie Das Trockene und das Feuchte (2009).


Jonathan Littell

Tschetschenien, Jahr III Aus dem Franzรถsischen von Hainer Kober

Berliner Taschenbuch Verlag


November 2009 | BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin | Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Tchétchénie, An III | bei Éditions Gallimard, Paris | © 2009 Jonathan Littell | Für die deutsche Ausgabe © 2009 Berlin Verlag GmbH, Berlin | Druck & Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm | Printed in Germany | ISBN 978-3-8333-0688-4 www.berlinverlage.de


Zunächst einige Worte zu den Zeitumständen, unter denen dieser Text entstand. Die Bitte um ein Interview mit dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow richtete ich zum ersten Mal Ende 2008 an die russischen Behörden – in einer Phase, als Russland bestrebt war, die positiven Aspekte des tschetschenischen Regimes hervorzuheben, etwa den Wiederaufbau von Grosny. Grundsätzlich war mein Besuch vor Ort rasch genehmigt, doch arbeitete die Verwaltung so langsam, dass ich erst Ende April 2009 in Begleitung des Fotografen Thomas Dworzak anreisen konnte. Wir blieben zwei Wochen in Tschetschenien, konnten uns dort frei bewegen und treffen, wen wir wollten, bekamen aber am Ende doch kein Interview mit Kadyrow. Anschließend habe ich bis in den Juni hinein in verschiedenen europäischen Städten sowie in Moskau Gespräche geführt. Dann verfasste ich eine erste Version dieses Berichts, die generell optimistisch gehalten war. Die Ermordung der Memorial-Mitarbeiterin Natalja Estemirowa am 15. Juli und andere Morde, die bald darauf folgten, haben diese Auffassung gründlich infrage gestellt. Daraufhin überarbeitete ich den Text vollkommen, um den jüngsten Ereignissen Rechnung zu tragen, eine Arbeit, die ich im 5


Oktober 2009 abschloss. In dieser Form veröffentliche ich ihn, wohl wissend, dass er in der Zwischenzeit durch neue Ereignisse teilweise überholt sein dürfte. Ich danke den Freunden, die den Text liebenswürdigerweise vor seiner Veröffentlichung gelesen und kritisiert haben. Ohne sie wäre er sicherlich nie erschienen. J. L.

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Da Ramsan Kadyrow, der junge tschetschenische Präsident, wie allgemein bekannt, der »größte Baumeister der Welt« ist, war es ein glücklicher Zufall, der den ausländischen Besucher am 27. April, dem Vorabend des Den stroitelja, nach Grosny führte – der »Tag des Bauarbeiters« war extra zur Feier des fünften Jahrestags des Bauministeriums geschaffen worden. Tamir, der uns zugeteilte junge tschetschenische Presseattaché, hatte den Fotografen Thomas Dworzak und mich eingeladen, ihn am selben Tag im Stadttheater zu treffen; so stehe ich neben ihnen im Hauptsaal, vor einem riesigen glänzenden Flügel, flankiert von den Porträts der Kadyrows, Vater und Sohn, und verfolge den Einzug der tschetschenischen Nomenklatura, deren Mitglieder einzeln durch einen Metalldetektor geschleust werden, an dem Milizionäre des OMON Spalier stehen. Die Chefs der Verwaltungsbezirke tragen protzige Gold-Rolex-Uhren und Diamantringe, die Minister rosa oder blassviolette Hemden mit passenden Krawatten, cremefarbene Seidenanzüge und spitze Krokolederschuhe. Viele tragen Ramsan-Buttons oder haben den Kadyrow-Orden angelegt, eine goldene Medaille mit dem Gesicht des bei einem Attentat getöteten Vaters Achmad-Chadschi, an 7


einer russischen Fahne hängend, die, wie sich bei näherem Hinsehen zeigt, aus Reihen farbiger Diamanten besteht. Häufig ist auch der Pes, ein Samtkäppchen mit herabhängender kleiner Quaste. Fragen Sie irgendeinen Tschetschenen, er wird Ihnen sagen, es sei die nationale Kopfbedeckung; wenige scheinen sich zu erinnern, dass er vor gar nicht so langer Zeit nur von Ehemaligen des Sufi-Wird der Kunta-Chadschi getragen wurde – der Bruderschaft, der die Kadyrows angehören; heute trägt ihn fast jeder, egal aus welchem Wird oder welcher Tariqat er kommt, sogar die Inguschen tragen ihn. Tamir macht mich mit seinem Onkel Olgusur Abdulkarimow, dem Industrieminister, bekannt; Doukwacha Abdurachmanow, der tschetschenische Parlamentspräsident, kommt geräuschvoll herein, umgeht demonstrativ und ohne seinen Schritt zu verlangsamen die Sicherheitsschranke und gesellt sich zu Achmad Gechajew, dem Bauminister, dem die Festveranstaltung gilt; ein Stück weiter steht in »Nato«-Uniform, mit einer schwarzen Mütze und einer Pistole am Gürtel, Scharip Delimchanow, der Bruder von Adam Delimchanow, von dem noch die Rede sein wird. Scharip befehligt das Neftepolk, das Erdöl-Regiment, das für die Sicherheit der Förderanlagen verantwortlich ist; der Mann, mit dem er spricht, Mahomed Kadyrow, Bruder des verstorbenen AchmadChadschi, ist einer der wenigen Anwesenden, die weder Anzug noch Uniform tragen, sondern nur eine einfache Jacke und Hose aus feinem Jeansstoff von hervorragender Qualität, sicherlich teuer und italienisch. Diese demons8


trative Semiotik der tschetschenischen Macht mag ein bisschen lächerlich erscheinen, ist aber nicht uninteressant, die Codes sind sehr exakt: In einer Welt, in der jeder mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zeigen möchte, welchen Platz er in der Rangordnung einnimmt, kann man sich offenbar umso mehr Zwanglosigkeit leisten, braucht man sich umso weniger zur Schau zu stellen, je höher man rangiert. Selbst der für die Sicherheit verantwortliche Leibwächter spielt mit: Seine Untergebenen vom SBP, dem Sicherheitsdienst des Präsidenten, tragen alle eine neue schwarze Uniform von perfektem Sitz, manchmal mit einem T-Shirt, auf dem in weißen kyrillischen Buchstaben das Wort ANTITERROR steht, oder einer gleichfalls schwarzen Mütze, die die Aufschrift ZENTOROI, Ramsans Geburtsort, trägt; der Sicherheitschef aber geht in Jeans umher, mit einer Pistole im Gürtel und einer goldenen Uhr, deren Zifferblatt mit der tschetschenischen Flagge geschmückt ist. Die Gestik dieser Männer ist verblüffend, es ist immer noch die der tschetschenischen Rebellen von einst; ihre Art, sich zu grüßen, sich zu umarmen, zu lachen, zu sprechen, von einem zum anderen zu gehen, betont informell, aber doch einer elaborierten Choreographie folgend, hat ebenfalls eine Bedeutung: Sie signalisiert, dass wir uns hier – auch wenn sie einer prorussischen Regierung dienen und de facto russische Bürokraten sind – doch nicht in Russland befinden und dass sie keine Russen, sondern Tschetschenen sind.

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Die Feier selbst führt uns direkt von der tschetschenischen Semiotik zur sowjetischen, allerdings zu einer postmodern interpretierten Version, die gelegentlich an einen spontanen Surrealismus grenzt. Der Riesensaal ist zum Bersten gefüllt mit »Freiwilligen«, die in verschiedenen Ministerien und der Universität rekrutiert wurden; um die Wartezeit zu überbrücken, haben die Organisatoren eine Girlband aus Moskau kommen lassen. Die Mädchen, die aus gegebenem Anlass Kopftücher zu ihren Miniröcken tragen, spielen auf elektronisch extrem verstärkten Geigen und einem Violoncello eine Mischung aus Klassik und Pop. Als Kadyrow, von Leibwächtern und Vertrauten eng umringt, eintritt, springt die Menge geschlossen auf und applaudiert, während der Moderator feierlich ins Mikro tönt: »Der Präsident der Tschetschenischen Republik, Held der Russischen Föderation, Ramsan Achmadowitsch Kadyrow!« Kaum hat der Held der Russischen Föderation Platz genommen, beginnt das Spektakel, zunächst mit einem Videozusammenschnitt der größten Erfolge des Bauministeriums – geschaffen durch »einen der letzten von Achmad-Chadschi Kadyrow unterschriebenen Befehle« –, dann folgt eine sehr lange, von Gechajew im Eiltempo heruntergelesene Rede, in der die Liste derselben Erfolge im Stile eines amtlichen Berichts wiederholt wird. Abrupt endet die Rede; mit plötzlich veränderter Haltung und albernem Lächeln fügt Gechajew zugleich verlegen und anbiedernd hinzu: »Sie haben sich vielleicht gefragt, warum ich so schnell gelesen habe. Das liegt daran, dass ich eben 10


Ramsan Achmadowitsch getroffen habe und er mich gefragt hat: ›Ist deine Rede lang, Achmad?‹ Und als ich Ja sagte, meinte er: ›Dann lies schnell!‹« Schließlich springt Ramsan Achmadowitsch – der »größte Baumeister der Welt«, wie der Moderator uns noch einmal ins Gedächtnis ruft – auf die Bühne und bemächtigt sich des schnurlosen Mikrofons. Während sich Gechajew und die anderen Teilnehmer ans Russische gehalten haben, redet Kadyrow Tschetschenisch, mit einer tiefen und rauen Stimme, die er mit ausdrucksvollen Gesten untermalt. Mal erntet er mit seinen Scherzen Lachen und Beifall, dann wieder verkündet er schroff und kompromisslos die Prinzipien seiner Philosophie: »Wenn der Chef gut ist, ist alles gut – die Kollegen, die Untergebenen.« Ich kann sein Tschetschenisch nicht beurteilen; der tschetschenische Schriftsteller German Sadulajew bezeichnet es, wie man mir berichtet hat, als außerordentlich literarisch und elegant, andere behaupten das Gegenteil: Es sei fast ebenso holprig wie sein Russisch, das, um einen Freund zu zitieren, »nicht nur armselig ist, sondern von groben Genus- und Deklinationsfehlern wimmelt«, was ich bestätigen kann. Doch wie dem auch sei, man spürt, dass er bei dieser grotesken rituellen Messe vollkommen in seinem Element ist, er ist ein echtes Bühnentier, liebt solche Auftritte, die Massen – im Fernsehen, wo man fast nur ihn sieht, wird er häufig bei der Stippvisite in einem Dorf, einer Schule oder einem Krankenhaus gezeigt, beim Bad in der Menge, Ratschläge, Befehle, Banknoten verteilend, als bezöge er seine legendäre (und sorgfältig 11


inszenierte) Liebesenergie direkt von seinen Untertanen. Auf seine Rede folgt eine endlose Ordensverleihung, zunächst an Gechajew, dann an dessen Untergebene und anschließend an zahlreiche andere, wobei die Männer Anspruch auf einen Händedruck und die Frauen auf einen Blumenstrauß haben, dessen Größe in dem Maße abnimmt, wie es den Befehlsstrang abwärtsgeht. Zum Schluss wird dem Publikum eine Abordnung Moskauer Künstler serviert, die zusammen mit der Girlband importiert wurden. Sie tischen dem Publikum die Plattitüden auf, die sie in den langen Jahren der BreshnewÄra einstudiert haben, und verleihen Kadyrow Orden, von denen einer obskurer als der andere ist; ein langes russisches Gedicht auf den Bauminister, vorgetragen von seinem tschetschenischen Verfasser, einem gewissen Umar Jaritschew (vage erinnere ich mich an einen Vers von der Art »Achmad-Chadschi, in seinem Büro den Wiederaufbau bedenkend, berief Gechajew in sein Amt«); und zum Abschluss eine von Dukwacha Abdurachmanow vorgetragene kriecherische Ode auf »den Mann, der immer auf der Seite der Familie Kadyrow und des tschetschenischen Volkes stand, Wladimir Wladimirowitsch Putin. Ruhm und Ehre sei Putin!«, skandiert er, umrauscht von tosendem Beifall. Inmitten der Menge, sein Bild auf die Großleinwand im Hintergrund der Bühne geworfen, amüsiert sich Ramsan, klatscht Beifall, scherzt mit seinen Hofschranzen, spielt mit seinem Handy. Back in the USSR …

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1937 »Tschetschenien ist wie 1937/1938«, erklärt mir in seinem kleinen Moskauer Büro Alexander Tscherkassow, einer der Leiter von Memorial, der größten russischen Menschenrechtsorganisation. »Es wird ein beeindruckendes Bauprogramm durchgeführt, die Menschen bekommen Wohnungen, es gibt Parks, in denen die Kinder spielen können, Theateraufführungen, Konzerte, alles wirkt ganz normal … und nachts verschwinden Menschen.« Diesen Vergleich hört man oft von russischen Menschenrechtlern, und er ist, wie Tscherkassow betont, nicht so an den Haaren herbeigezogen, wie es scheint: Seit zehn Jahren sei in Tschetschenien die Zahl der ermordeten oder verschwundenen Personen pro 10 000 Einwohner größer als die Zahl der Opfer der Großen Säuberungen stalinistischer Zeit. Vor allem aber soll dieser Vergleich zum Ausdruck bringen, dass es sich um die Illusion einer Normalität, wenn nicht gar die Wirklichkeit einer Normalität für all die Menschen handelt, die vom Terror nicht betroffen sind. Ich habe zwei Wochen in Tschetschenien verbracht, von Ende April bis Anfang Mai, und hätte ich diese Reportage unmittelbar danach veröffentlicht, hätte die Betonung tatsächlich auf der Normalisierung gelegen, auf einem Tschetschenien, dem es trotz großer Probleme besser geht als vorher. Der Wiederaufbau ist massiv und real; was den Terror angeht, so schienen sich weder meine Freunde noch die Mitglieder der verschiedenen NGOs – 13


ausgenommen die von Memorial, die sich direkt mit den Fällen von verschwundenen Opfern, Folter und außergerichtlichen Exekutionen befassen – große Sorgen um ihn zu machen; sie hatten eine verschwommene Vorstellung, dass er noch ein wenig fortdauerte, in den Bergen, kannten aber niemanden, der unmittelbar betroffen gewesen wäre; viel mehr berührte oder beunruhigte sie das phänomenale Ausmaß der Korruption. Und in gewisser Weise wäre es »wahr« gewesen, von Normalisierung zu sprechen, weil das Problem hier nicht von Tatsachen, sondern von der Perspektive, dem Standpunkt bestimmt wird. Ich habe während beider Kriege in Tschetschenien gearbeitet, zunächst 1996, dann etwa fünfzehn Monate nach Beginn des zweiten im Herbst 1999, und ich habe immer gute Kontakte dorthin behalten. Daher erinnere ich mich, wie die Tschetschenen selbst, noch sehr genau an diese Jahre, in denen das Leben eines Tschetschenen keine Kopeke wert war; in denen ein Mensch verschwinden, gefoltert und dann niedergeschossen werden konnte, weil er an einem Kontrollpunkt die Blicke eines betrunkenen Soldaten kreuzte; in denen junge Mädchen vergewaltigt und anschließend umgebracht wurden, wie man ein kaputtes Spielzeug wegwirft; in denen man die Leichen junger Männer fand, die im Zuge der großen Satschistki – der »Säuberungsaktionen« der russischen Sondereinheiten – aufgegriffen, mit Stacheldraht gefesselt und bei lebendigem Leibe verbrannt worden waren; in denen sich verzweifelte Familien panisch auf die Suche nach einigen 14


Tausend Dollar begaben, um ihre verhafteten Männer freizukaufen, bevor es zu spät war, und dieses Geld auch dann, wenn es zu spät war, ausgeben mussten, um die verstümmelten Leichen freizukaufen; in denen die Kinder in verkommenen Lagern praktisch ohne Erziehung groß wurden, wenn sie nicht durch eine Bombe, eine Mine, einen gelangweilten Heckenschützen getötet oder verstümmelt wurden; in denen die Schachidki, die »Schwarzen Witwen«, die sich mit einer Sprengladung in die Luft jagten, um einige Russen mit in den Tod zu nehmen, dies nicht aus religiöser Überzeugung, sondern aus purer Verzweiflung taten, weil ihnen kein Mann mehr geblieben war, kein einziger Mann, und auch kein Kind. Für die meisten Tschetschenen, die nichts von damals vergessen haben, ist ganz klar, dass es ihnen jetzt »besser« geht. Viele von ihnen, sogar ausgesprochene Sezessionisten, die die Russen hassen und die Kadyrows für Verräter halten, sind bereit, ihnen dieses »Besser« bis zu einem gewissen Grade zugutezuhalten. Ein tschetschenischer Freund – ich werde ihn Wacha nennen –, der nie gekämpft, aber sich immer für ein unabhängiges Itschkeria und seinen ersten Präsidenten Dshochar Dudajew eingesetzt hat, sagte es mir unmissverständlich, als wir eines Tages im Hinterzimmer einer kleinen Kneipe in Grosny bei Tee und einer großen Platte Manty, einer Art tschetschenische Ravioli, beisammensaßen: »Der Vater [Kadyrow] war ein richtiger Mann. Als Tschetschenien tief in der Sackgasse steckte, hat er einen Ausweg gezeigt. Bevor er kam, mussten wir jedes Mal, wenn 15


wir an einen Kontrollpunkt kamen, fürchten, umgebracht zu werden, wegen nichts. Er hat den Menschen das Gefühl gegeben, dass das vorbei war, dass sie nicht mehr jeden Augenblick getötet werden konnten.« Der Sohn ist natürlich entzückt, von dieser Wahrnehmung profitieren und sich rühmen zu können, Tschetschenien Frieden und Sicherheit beschert, die russischen Einheiten in ihre Stützpunkte verbannt und die Folterkammern unter seine Kontrolle bekommen zu haben, etwa die Haftanstalt ORB-2, die es zu trauriger Bekanntheit gebracht hat. Und er rühmt sich zu Recht; er allein kann jetzt Gewalt und Terror ausüben, er allein kann heute die Folterkammern in Tschetschenien nutzen, und er allein kann Morde begehen. Doch Ramsan weiß seine Opfer zu wählen, in Tschetschenien werden keine Unschuldigen mehr getötet, nein, es werden nur noch die Schaitany getötet, die Teufel und ihre Unterstützer: In Ramsans Reich, im dritten Jahr seiner Herrschaft, stirbt man nicht, wenn man es nicht verdient, so hat es der Chef verfügt. Memorial wäre mit dieser Auffassung fast einverstanden. In Moskau hatte mir Alexander Tscherkassow, der die Ereignisse im Nordkaukasus seit dem ersten Krieg von 1994–1996 verfolgt, im Juni die »Tschetschenisierung« – die Bezeichnung für Wladimir Putins Entscheidung aus dem Jahr 2000, eine starke prorussische tschetschenische Macht einzusetzen, die vorwiegend aus Exrebellen bestand und von dem sezessionistischen Ex16


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