Helen Garner: Das Haus an der Bunker Street

Page 1


Athena und Dexter sind glücklich in ihrem Melbourner Haus mit Garten. Sie lieben sich für ihre kleinen Spleens – Dexter singt gern lautstark Arien, Athena widmet sich ihrem hanebüchenen Klavierspiel – und um der beiden Söhne willen, der jüngere geistig schwer behindert. Plötzlich taucht die exaltierte Elizabeth auf, Dexters Exfreundin aus College-Zeiten. Zu ihrem Gefolge gehören die pubertierende Schwester Vicki und der Rockmusiker Philip mitsamt seiner zwölfjährigen Tochter Poppy. Erst vorsichtig, dann immer enger verschränken sich ihre Beziehungen. Noch bevor es ihnen bewusst wird, verändert das Zusammentreffen mit Elizabeths Patchworkfamilie Athenas und Dexters Leben von Grund auf. Das Haus an der Bunker Street ist die scharfe Zeichnung eines Beziehungsmosaiks moderner Zeiten – einfühlsam, ehrlich und meisterhaft erzählt. Helen Garner wurde 1942 im australischen Geelong geboren. Zu ihrem Werk zählen Romane und Kurzgeschichten sowie Sachbücher. Mit Das Zimmer (Berlin Verlag, 2008) eroberte sie sofort die internationalen Bestsellerlisten und wurde vielfach ausgezeichnet. Das Haus an der Bunker Street war ihr erster Roman, der 1984 erstmals erschien.


Helen Garner Das Haus an der Bunker Street Roman

Aus dem Englischen von Nora Matocza und Gerhard Falkner

Berliner Taschenbuch Verlag


Mein besonderer Dank gilt dem Literature Board of the Australia Council für die großzügige Unterstützung während des Jahres, in dem ich dieses Buch geschrieben habe. Teile des Buches entstanden während meines Aufenthalts als Writer-in-residence an der Griffith University in Queensland.

Deutsche Erstausgabe Januar 2010 BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin © 1984 Helen Garner Die Originalausgabe erschien 1984 unter dem Titel The Children’s Bach bei McPhee Gribble Publishers, Melbourne, und 1996 bei Penguin Books Australia Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung eines Bildes von © Bridgeman Gesetzt aus der Berkeley durch psb, Berlin Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-8333-0651-8 www.berlinverlage.de


F端r Alice und J-J, und f端r ein paar sehr gute Freunde


Diese Geschichte ist frei erfunden. Die Personen existieren nur in diesem Buch.


In einer Zeitschrift fand Dexter ein Foto des Dichters Tennyson, seiner Frau und seiner zwei Söhne, wie sie im Garten ihres Hauses auf der Isle of Wight spazieren gehen. Für den heutigen Blick ein erschreckendes Bild: Alle außer dem großen Poeten sind in ausladende, jede Bewegung beengende Kleidung gezwängt. Die Blickrichtungen: Tennyson schaut in mittlere Ferne. Seine Frau, die untergehakt ganz dicht neben ihm steht, blickt zu seinem Gesicht auf. Einer der Knaben hält den Vater an der Hand und sieht zu ihm auf. Der andere hält die Hand seiner Mutter und schaut mit kläglichem, verhuschtem Blick in die Kamera. Hinter ihnen flirrt verschwommen das Laubwerk eines großen Gartens im Wind. Ihr Schatten fällt über den Rasen: Sie sind wohl gerade erst losgegangen. Tennysons riesige, kantige Hände sehen aus wie Pranken; er hält sie unbeholfen in Höhe des Magens. Seine Frau hat ein hageres Gesicht und tief liegende Augen. Es ist das Foto einer Familie. Der Wind bläht den riesigen, steif gewölbten Ärmel am Kleid der Frau auf und weht dem Knaben neben dem Vater das lange Haar aus der Stirn, während der sich dem Drama in den Gesichtern seiner Eltern zuwendet; obwohl er die Hand seines Vaters hält, steht er von der Gruppe leicht abseits, und zwischen seinem eng eingeknöpften Körper und dem Bein seines Vaters dringt Licht durch. Dexter hatte dieses Bild in der Küche an die Wand geklebt, 7


zwischen dem Herd und der Tür zum Bad. Mittlerweile ist es eingerissen und fleckig und mit einem Film von Bratenfettspritzern überzogen. Es hängt dort schon lange. Immer kurz davor, sich abzulösen, klappt es manchmal zur Seite, hängt nur noch an einer Ecke. Aber bevor es ganz herunterfällt, rettet es jedes Mal jemand und klebt es wieder fest.

*

Abends, wenn sie die Kinder zu Bett gebracht hatten, gingen Athena und Dexter spazieren. Sie ließen sich durch nichts davon abhalten und schauten meist nur flüchtig nach, ob die Jungen schliefen, bevor sie loszogen. Sie plauderten miteinander und erzählten sich, was der Tag gebracht hatte. »Schau mal, das Haus da drüben«, sagte Dexter. »Als ich heute früh auf dem Weg zur Arbeit dort vorbeikam, habe ich mich dummerweise auf ein Gespräch mit so einem senilen Besserwisser eingelassen. Aber ich bin ja froh, dass wenigstens du so etwas lustig findest.« Dexter lief o-beinig und schnell. Sie hielten mühelos miteinander Schritt und berührten sich nicht. Jeden Abend gingen sie kilometerweit durch die Dunkelheit, mal nach Osten durch das parkartige Gelände am Flüsschen entlang bis zu der Stelle, wo es in den Yarra River mündete, mal nach Nordwesten bis zu dem riesigen Royal Park, der wie eine umgedrehte Untertasse aussah und in dem die wilden Hunde aus dem Zoo den Mond anheulten und die Affen hinter der Mauer schnatterten. Dexter spitzte die Lippen 8


und pfiff ein Lied. Er pfiff auf eine altmodische, freudige Art, liebte fröhliche Triller, und wenn er sich dem Höhepunkt der Melodie näherte, blieb er stehen, wandte sich Athena zu und hob den gekrümmten Zeigefinger, um sie auf seinen bevorstehenden Triumph hinzuweisen. »Und jetzt«, verkündete er an der Kreuzung vor einer Bank, »singe ich die Registerarie aus Don Giovanni.« Von einem Freund seines Vaters, der die Weltanschauung vertrat, dass alle Menschen gleich seien, hatte er einmal gehört, er habe eine gute Stimme. Er hielt sich für einen dramatischen Bariton im russischen Sinne, konnte aber auch eine glaubwürdige und wortgetreue Fassung des »Vicar of Bray« und von »Jerusalem« zum Besten geben. Dexter wünschte sich ein ruhmreiches Leben, und auf diesen abendlichen Spaziergängen hatte er es auch: Wenn er die Aufmerksamkeit ganzer Familien vom Bildschirm wegzog, durch die Träume der Kinder trompetete und Hunde dazu brachte, zu heulen und hinter den Blechzäunen zu kratzen. »Du singst ja nie!«, rief er, noch ganz glühend, Athena zu. »Oh doch«, sagte sie, aber er stimmte bereits einen anderen Refrain an. Sie liebte ihn. Die beiden liebten sich. Sie waren Freunde. Sie wohnten in einem spärlich möblierten Haus am Merri Creek: Die Wände hatten Risse, die Fußböden waren schief und die Türen hingen lose in den Angeln. In der Küche stand ein Klavier, und tagsüber schloss Athena sich oft dort ein, unter dem Porträt von Dexters Vater, und klimperte Bartóks Mikrokosmos oder die leichtesten von Bachs Kleinen Präludien herunter. Präludien wofür? Selbst unter ihren ungeübten Fingern klangen diese einfachen Akkorde wie ein Triumphschrei, und sie musste oft zum Fenster rennen und ihr heißes Gesicht hinaushalten. Aber 9


es gab auch Tage, wo ihre Annäherung an die Musik, unter dem Porträt mit seinem sehnsüchtigen Ausdruck, das aussah wie aus dem neunzehnten Jahrhundert, so wenig rhythmisch und die Melodie so wenig wiederzuerkennen war, dass sie sich schämte, beinahe so, als hätte sie einen Altar geschändet. Dann klappte sie das Klavier zu und ging mit einem Besen in der Hand auf den Hof hinaus. Jenseits des hinteren Zauns, zum Bach hin, wohnte ein Ehepaar, das Dexter und Athena nie zu Gesicht bekommen hatten, das sie aber unter sich Mr. und Mrs. Arschloch nannten. Die beiden soffen und zerschlugen Gegenstände, sie jagten sich und schimpften und kotzten, und sie verfluchten einander bis in die tiefste Hölle.

* Ist es nicht seltsam, dass in einer Stadt von der Größe Melbournes zwei Menschen, die füreinander während des Studiums fast wie Bruder und Schwester gewesen sind, es schaffen können, sich ohne ein Wort des Abschieds zu trennen, ihr tägliches Leben nur wenige Kilometer voneinander entfernt zu führen und sich trotzdem nie wieder über den Weg zu laufen? Zu heiraten, Kinder zu bekommen; in manchem zu scheitern, anderes in Angriff zu nehmen; auszugehen und zu tanzen, einzukaufen und zu tanken, in denselben Zeitungen über dieselben Morde zu lesen, in derselben kalten Morgenfrühe zu frösteln und sich doch nie zu begegnen. So können achtzehn, zwanzig Jahre vergehen. Wie seltsam! 10


Hatten Dexter und Elizabeth in dieser Zeit manchmal aneinander gedacht? Natürlich, und zwar Dexter häufiger an Elizabeth als umgekehrt, nicht, weil die Zuneigung zwischen ihnen ungleich verteilt gewesen wäre, sondern weil Dexter ganz vernarrt in die Vergangenheit war. Er glaubte an sie, sie hielt ihn aufrecht, er benutzte sie, um in das allgemeine Durcheinander eine Bedeutung einzuweben. Er zitierte sie in Anekdoten, die er mit den immer gleichen Worten erzählte. Er konnte sich sogar detailliert an Träume erinnern, die andere Menschen vor Jahren gehabt hatten. Elizabeth mochte die Vergangenheit nicht. Sie empfand sie als peinlich und störend. Sie und Dexter waren nie ineinander verliebt gewesen, doch als sie noch auf dem College waren, hatte sie sich einmal in sein Bett gelegt und einen ganzen Samstagnachmittag lang auf seine Rückkehr gewartet, weil sie mit jemandem ficken wollte und es zu der Zeit gerade keinen anderen gab. Stundenlang lag sie erregt und ungeduldig da, aber er kam und kam nicht, und so stand sie auf und beugte sich aus dem schmalen Fenster, durch das ein warmer Wind hereinstrich, hörte Geschrei vom Sportplatz der Universität und begriff, dass er dort vermutlich Kricket spielte. Sie verließ das Bett, strich die Decke glatt und ging über den Garten und durch das Tor zurück zu ihrem Zimmer im nächsten Gebäude. Sie ärgerte sich. Und sie erzählte ihm nie davon. Dass sie einen Sieg gegen sein unersättliches Gedächtnis errang, war selten.

*

11


In ihrem Geldbeutel bewahrte Elizabeth ein Foto auf. Auf einer leeren Holzveranda stand eine karierte Reisetasche mit zwei Henkeln. Die Tasche sah stabil aus; sie war vollgepackt. Der obere Reißverschluss stand offen. Aus ihm ragte zwischen den beiden Henkeln der Kopf eines Kindes heraus. Das runde Gesicht blickte unbeeindruckt geradeaus in die Kamera. Das Haar war wirr, die Haut dunkel, die Augäpfel strahlend weiß. Auf der Rückseite des Bildes stand in der lockeren, einschüchternden Handschrift ihrer beider Mutter: »Vicki: kostbare Fracht«. Sie hatte ihr Bündel fallen lassen und war gestorben. Was ist zwischen zwei Schwestern möglich, die mit zwanzig Jahren Abstand geboren sind? Muss die ältere der jüngeren eher Schwester oder Mutter sein? Elizabeth saß um ein Uhr nachts aufrecht im Bett, häkelte und sah sich im Fernsehen die Sendung Mann muss nicht sein an. Das Telefon klingelte genau in dem Moment, als der Hund gerade mit dem Schuh des Ehemanns im Maul im Bild auftauchte. Elizabeth roch den Braten sofort. »Vicki. Ist etwas passiert?« »Eigentlich nicht.« »Wie spät ist es bei euch?« »Zehn Uhr abends.« »Ich kann nicht schon wieder kommen«, sagte Elizabeth. »Ich weiß gar nicht, warum du mich anrufst. Die Telefonrechnung ist bestimmt schon astronomisch. Warst du in der Schule?« »Mehr oder weniger. Nicht oft.« Elizabeth stieß die erkaltete Wärmflasche von der Matratze. Die Bettdecke war geklaut, das Laken gekauft. Beides gehörte zusammen. 12


»Du hast geschworen, dass du alt genug bist, auf dich aufzupassen. Ich hab dich gewarnt. Ich hab dir gesagt, ich kann nicht ständig zu dir rüberkommen. Hast du eine Ahnung, was so ein Flug kostet?« »Ich will gar nicht, dass du kommst«, sagte Vicki. Ihre Stimme klang abwesend. »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich möchte zu dir kommen.« »Und dableiben?« »Ich bin doch erst siebzehn.« »Als wir das letzte Mal darüber gesprochen haben, war siebzehn noch erwachsen – schon vergessen?« Das Mädchen sagte nichts. In der Telefonverbindung zischte und sang es. Ihre Mutter war tot, und die beiden kamen einfach nicht mehr miteinander zurecht.

*

Philip erschien nicht mit dem Auto. Das überraschte Elizabeth nicht. Sie nahm den Bus zum Flughafen. Vickis Flugzeug hatte Verspätung. Elizabeth ging auf den glänzenden Fliesen auf und ab. Sie mochte es nicht, wenn die Leute sahen, dass man sie warten ließ, und zumindest ein Mädchen lächelte sie so schüchtern an, dass man merkte, ihr dämmerte gerade, dass sie Elizabeth schon mal im Fernsehen gesehen hatte. Außerdem bekam man hier keinen anständigen Kaffee, und einigermaßen angenehm sitzen konnte man auch nicht. Sie ließ sich an einem Blechautomaten vor einer Drogerie den Puls messen. Die Ziffer, die aufleuchtete, war so niedrig, 13


dass sie dachte, das Ding sei kaputt. Sie schlenderte in den Laden, stahl einen Lippenstift von Dior für fünfundzwanzig Dollar und ein billiges Adressbuch mit Plastikeinband und probierte es dann noch einmal: Der Adrenalinausstoß nach dem belanglosen Diebstahl machte sich bemerkbar. Das Adressbuch konnte sie Vicki schenken, falls die den Flug nicht sowieso verpasst hatte. Elizabeth ließ die geklauten Sachen aus dem Ärmel in ihre Tasche gleiten und ging in die Cafeteria, um eine Flasche Mineralwasser zu kaufen. Ein Mann saß mit dem Rücken zu ihr, inmitten einer Reihe von Blumenkübeln aus Plastik, die den Bereich der Cafeteria abgrenzten. Sie musste sich ganz schmal machen und versuchen, seitlich durchzuschlüpfen, um an seinem ungünstig stehenden Stuhl vorbeizukommen. Welcher ihrer Sinne erkannte ihn zuerst? Sie war so nahe, dass sie gleichzeitig sein ungewaschenes Haar roch, seinen bis zu den Ohren hochgerutschten steifen Hemdkragen sah, das unbekümmerte Schlürfen seiner Lippen an der Tasse hörte. Sie stand genau hinter ihm und balancierte auf den Zehenspitzen. War es möglich? Und wenn sie ihn ansprach, würde es ihr hinterher wohl leidtun? »Entschuldigen Sie«, sagte sie. Er wandte den Kopf. Es war Dexter. Oje, ihre schrecklich modernen Kleider, ihr Haar so stachelig wie unter Schock. Er sah den Fächer von Linien um ihre äußeren Augenwinkel, und sein Herz machte einen Sprung. Er stieß den Stuhl zurück und stand unbeholfen und hastig auf. »Morty«, flüsterte er. »Morty, guck mal. Ich bin’s.« »Ich habe es mir schon gedacht«, sagte sie. »Ich hab es mir gedacht.« Sie hörte, wie die Wärme aus ihrer Stimme wich 14


und Trockenheit sich breitmachte, und hatte plötzlich das Bedürfnis, um etwas Verlorenes zu weinen. Warum fängt er nicht an zu brüllen? Warum macht er keinen Riesenaufstand? Freut er sich etwa nicht, mich zu sehen? Sehe ich irgendwie komisch aus? Aber wir haben uns ja früher auch nie umarmt. Warum sollten wir jetzt damit anfangen? »Du siehst sehr – du siehst –« Ihm fiel kein höfliches Wort ein, er war so übervoll von Gefühlen. »Das ist ja noch dieselbe Jacke«, sagte sie, trat einen Schritt zurück und deutete darauf. »Dieselbe stinkige alte Khakijacke.« »Mein Vater ist auch hier«, sagte Dexter. »Schau, Dad! Da ist Morty!« Dexters Vater hatte eine Papierserviette im Kragen stecken und eine Gabel in der Hand. Er nahm seinen Hut von dem leeren Stuhl und hielt sich verdattert daran fest. Neben ihm saß ein kleiner Junge mit blassen Augen und einem PrinzEisenherz-Haarschnitt. Dexter erholte sich allmählich wieder, begann in seinen riesigen Golfschuhen herumzutänzeln und mit den Armen zu fuchteln. Elizabeth schob sich an ihm vorbei auf den Stuhl. »Ich geh Kuchen holen!«, rief Dexter. Dr. Fox sah Elizabeth an, kaute dabei weiter, nickte und lächelte. Sie musste jetzt fast vierzig sein, genau wie Dex. Gottlob waren sie nicht dumm genug gewesen, zu heiraten, obwohl Dexter sie ohne Zweifel gevögelt hatte, als sie noch zusammen studierten. Er hätte fast laut aufgelacht. Sie war ganz offensichtlich nicht die Sorte Frau, die heiratet. Kinder kamen sicher überhaupt nicht in Frage. Er sah ihre weit geöffneten Augen, ihre nervös bebenden Nasenflügel, ihren Geltungsdrang, spürte etwas Exzentrisches und Erfolgrei15


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.