Am Rand von Istanbul herrscht Leyla als »Königin des Müllbergs« über eine kleine Kolonie von Verrückten und Verstoßenen. Yildiz lebt in einer geräumigen Stadtwohnung und hat dennoch einiges mit Leyla gemeinsam. Beide sind ohne Liebe aufgewachsen. Beide wurden von nahestehenden Menschen verletzt. Und beide kämpfen gegen das Böse in der Welt und in sich selbst. Ganz allmählich überschneiden sich die Lebensgeschichten der beiden Frauen. flebnem øfiigüzel bricht alle Tabus und erzählt über das Leben zweier Frauen am Rand einer Metropole, die auf eine dreitausendjährige Geschichte zurückblickt und deren Gesichter unterschiedlicher nicht sein könnten: Istanbul.
flebnem øfiigüzel, geboren 1973 in Yalova (Hauptstadt der türkischen Provinz Yalova), studierte Anthropologie an der Universität Istanbul und arbeitete einige Jahre als Journalistin bei verschiedenen Fernsehsendern. Bekannt wurde sie mit zwei Erzählungen, für die sie in der Türkei zahlreiche Literaturpreise erhielt. flebnem øfiigüzel lebt mit ihrer Tochter in Istanbul.
S¸ EBNEM I˙ S¸ I˙ GÜZEL
Am Rand Roman
Aus dem Türkischen von Christoph K. Neumann
Berliner Taschenbuch Verlag
Januar 2010 BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin © øletifiim Yayıncılık, 2007 © flebnem øfiigüzel, 2005 Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel Çöplük bei øletifiim Yayıncılık, Istanbul Für die deutsche Ausgabe © 2008 Berlin Verlag GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Fotografie der © Anzensberger Agency Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany isbn 978-3-8333-0637-2 www.berlinverlage.de
Zum Andenken an Abidin und Zeynep øfiigüzel
Es gibt keine Verhältnisse, an die sich der Mensch nicht schließlich gewöhnt, besonders wenn er sieht, daß alle, die ihn umgeben, das gleiche Leben führen. Drei Monate früher hätte er nicht geglaubt, dass er unter solchen Umständen wie den jetzigen hätte ruhig einschlafen können. Leo N. Tolstoi, Anna Karenina
Schach auf höchstem Niveau ist die Fähigkeit, Dinge zu kontrollieren, zwischen denen es keine Beziehung gibt. Das ist so, als kontrolliere man das Chaos. Garri Kasparow
Kinder ohne Mutter und Vater wachsen wie junge Wölfe auf. Bobby Fischer
Sie war nicht tot, auch wenn alle ihre Folterer dachten, sie sei es. Virginia Woolf, The Voyage Out
1 leyla fand den mann auf dem höchsten Hügel der Deponie. Er sollte nach achtundzwanzig Tagen, die er ohne Ahnung von der Welt und bewusstlos im Müll verbracht hatte, den Namen Vollstrecker erhalten. Zunächst aber war er für Leyla, die Königin der Müllhalde, nichts als der Mann, den sie auf dem Müll gefunden hatte. Er lag dort auf dem Gipfel des Müllbergs, als sei er im Reich Gottes verwundet und dann hinabgeworfen worden, vom Himmel gefallen, von einem Toten nicht zu unterscheiden. Das war es auch, was die Kanalratte herausfinden wollte, die sich auf seiner Brust, ja genau über seinem Herzen zusammengerollt hatte. Ihr Schwanz schlängelte sich hinunter bis zu den Lenden des Mannes. Was ihre Farbe anging, so verlor sich die katzengroße Ratte in dem schlammfarbenen, schlammigen Unterhemd, das sich über den Brustkorb spannte. Erst als Leyla näher kam, bemerkte sie, dass es sich um eine Ratte handelte. Sie hörte sogar das Geräusch, das das Beschnüffeln des Mannes verursachte. Denn die Möwen, die dauernd über ihren Köpfen kreisten, hatten aufgehört zu schreien. Die waren wie Falken, kaum zu glauben; und die frohe Kunde musste alle Möwen über der Deponie erreicht haben: Ein Mann ist auf der Müllhalde gefunden worden! Wenn diese Ratte erst losschlüge, dann würden die Vögel auf beide losgehen. Aber da wandte die Ratte den Kopf, erblickte Leyla und machte sich davon. Leyla sah in den Himmel. Die Möwen wussten, dass sie ihr nichts entreißen konnten. Sie flogen augenblicklich auseinander. »Heute seid ihr vernünftig«, rief Leyla ihnen zu. Als die Möwen sich zurückzogen, öffnete sich der Himmel wie ein Vorhang. Leyla sah an diesem Tag ein weiteres Mal die Wolken, die wie changierende Seide, wie Tüll über den Himmel gebreitet waren. Das 9
hatte sie schon vorher getan, als sie in einiger Entfernung von der Müllhalde Zweige der Mäusedornbüsche abgeschnitten hatte, die man gegen Neujahr ganz gut verkaufen konnte. Dabei hatte sie sich gegen diesen Schweinehund wehren müssen, der sich auf sie geworfen hatte, um sein Krummschwert auf ihre Achselhöhle niederfahren zu lassen. Ohnehin hatte sie nur deswegen diese Machete abgekriegt, weil sie darüber nachgedacht hatte, wie schön doch die Wolken waren und dass Gott sie ihr heute als Geburtstagsgeschenk geschickt habe. Man durfte entweder nichts denken oder nur an eine Sache. Das hatte der Schachlehrer gesagt, bei dem sie mit zwölf Jahren Unterricht genommen hatte. Das heißt, sie ist über die schwarzen und weißen Felder des Schachbretts gehüpft, bis sie auf dem Müll gelandet ist! »Was für ein Leben!« – Nein, nicht ich habe sie mit diesen Worten verspottet; sie selbst hatte sich verspottet. Während sie vor dem Mann, der sie als »Luder vom Müll« beschimpfte, geflüchtet war, waren ihre einst die herrlichsten Schachmatts ziehenden Hände durch die Mäusedornzweige verletzt worden. Sie hatte gedacht: »Die Mäusedorne liegen jetzt noch in meinem Schoß, aber heute Abend werden sie in einem schick eingerichteten Wohnzimmer hängen und auf einen gefüllten Truthahn hinunterblicken.« Wenn die von Gott geschaffenen Mäusedornfrüchte sich von ihren auf eine Abfallhalde blickenden Büschen lösen und in einem warmen, großen und lichten Wohnzimmer niederlassen können, warum sollten dann diese Leute aus demselben Wohnzimmer nicht auf dem Müll landen können? Außerdem ist nach diesen Tagen des Festes und der Genüsse am Ende auch für die Mäusedorne, deren rote Kügelchen dann pat, pat abfallen, die Müllhalde das Ziel der Reise. Auch dies waren Leylas Gedanken. Als eine erwachsene Frau, die ihr Leben fast zur Hälfte auf der Deponie verbracht hatte, brauchte sie sich heute an ihrem Geburtstag nicht zu fragen: »Wo hast du deine Tage auf Erden vertan?« Der Müll bestand aus lauter Dingen, die einmal sehr geliebt worden und sehr wertvoll gewesen waren. Demnach gab es nur eine einzige Sache, die Leyla genau wusste: Alles im Leben ist Müll! 10
Das Einzige, was sie wollte, war, diesem Kerl mit der Machete, der behauptete, der ganze Mäusedorn gehöre ihm, zu entkommen. Deswegen begann sie, wie eine Ziege auf den höchsten Gipfel des Müllbergs zu steigen. Das konnte der Ochse mit dem Schwert nicht. Er hatte Angst vor dem Müllberg. Der gehörte Leyla. Sie war die Königin der Müllhalde. Sie hatte den Boden ihres eigenen Reiches betreten, sich umgedreht und zugesehen, wie der Kerl da, wo er stand, sein Schwert schwang. Er konnte nicht hinter ihr her. Sie hätte nur ein Zeichen mit der Hand geben, hätte nur einmal kurz pfeifen müssen, und die Aaskrähen, die Müllmöwen hätten ihn in Stücke gerissen. Ich hatte es ja schon erwähnt, die waren wie die Falken! Leyla fiel auf, dass sie dauernd um einen bestimmten Punkt kreisten. Es war also etwas passiert auf dem Gipfel des Müllbergs. Neugierig stieg sie an die höchste Stelle. Sie wusste genau, wo sich der Abfall so stark zusammengepresst hatte, dass er hart wie Stein geworden war. Sonst hätte der Müllberg schnell wie eine Lawine ins Gleiten kommen können. Vor sechs Jahren war er auf einmal bis vor die Tür der Hütte gerutscht, in der Leyla und Dolch lebten. Der Unterstand von Tourist und Lindwurm war dem Erdboden gleichgemacht worden, aber weiter war nichts passiert. Dolch hatte sie am nächsten Tag ihre aus Blechkanistern hergestellten Häuser fünfhundert Meter weiter weg neu bauen lassen. Wenn Dolch etwas gesagt hatte, geschah es auch; seit einem Jahr aber war er verschwunden. Dabei ging doch im Leben nichts verloren. Es wurde zu Müll, aber doch nicht zu nichts. Alles setzt in dieser Welt seine Existenz als Gas, Asche, schmutziger Rest, als irgendetwas fort, in das es sich verwandelt hat. Dolch hatte seine Müllhalde, sein Königreich verlassen und war gegangen, aber ganz sicher war er irgendwo am Leben. Wie in ihren Träumen würde er plötzlich wieder auftauchen. Sehen Sie: Das Geräusch, das an den Stellen, auf die Leyla trat, zu hören war, war die Stimme von allem, was sich von der Welt nicht entfernen, was sich nicht vernichten ließ. Jedes einzelne Leid scheint die ganze Welt auszufüllen; jede Trauer schafft sich ihr eigenes Universum. Der Müll und Leyla befanden sich in einem neuen Universum. Auch die Geräusche, von denen wir angenommen haben, es seien die Stim11
men derer, die nicht zu vernichten sind, kamen aus diesem Universum. Ihnen diesen Klang zu beschreiben, ist so schwierig, wie es für Leyla und die anderen gewesen wäre, Ihnen mit einer überzeugenden Erklärung glaubhaft zu machen, was für ein bezaubernd schöner Ort die Müllhalde war. Aber einen Moment: Es gibt nichts, was man nicht erklären kann. Und wer sich nicht überzeugen lässt, verliert – sowohl in der menschlichen Geschichte als auch in großen Romanen. Beim Schach ist es genauso. Wenn sie will, erzählt Leyla die Geschichte ihres Ruins. Oder erinnert sich an sie. Schließlich ist auch unsere eigene Vergangenheit ein Müllhaufen. Der Augenblick, in dem Sie das geliebte Wesen unbemerkt beobachtet haben, liegt auf ebenjenem Erinnerungsmüll wie der Augenblick, in dem Sie am Boden zerstört waren: und beide beschnuppern sich eng umschlungen. Wenn Sie sich den schönsten Moment heraussuchen und sich an ihn entsinnen wollen, lässt sich gleichzeitig der blutigste nicht vergessen. Man blättert in Erinnerungen, als wühle man im Müll. Das wissen Leylas Möwen; und so klug sind auch Sie. Leyla mochte die Straße und den Müll lieber als ihre Vergangenheit, die seit dem Jahr 1988 unter ihrem neuen Leben begraben lag. Ihre Vergangenheit unterschied sich durch nichts von der Ihren oder der meinen, die wir uns noch nicht klar sind, dass es nirgendwo sonst ein Paradies gibt als in der tiefsten Tiefe unserer Existenz. Also kurz und gut: Woher sollen Sie das Geräusch kennen, das man macht, wenn man über eine Müllhalde läuft? Der Abfall, der übrig bleibt nach einem Mord, nach einem Fest und einer Feier, nach einem Verrat, nach einem Tag wie jedem anderen; der Abfall braver Bürger, Drogenabhängiger, Verliebter, Verheirateter, Gesunder, Kranker und Verstorbener wurde da unter Leylas Füßen zusammengedrückt. Die ganze Menschheit, die Welt unter dem Tritt ihrer Füße! Das ganze Leben besteht aus Müll, und dies war sein Klang! So fand Leyla den Mann auf dem Gipfel der Müllhalde. Als die Möwen auseinandergeflogen waren und die Ratte darauf verzichtet hatte, ihren ersten Bissen zu tun, und weggelaufen war, schaute Leyla sich den Mann näher an. Er war wie ein Glas Kaviar, das auf dem Müll gelandet 12
war. Eines von jenen Gläsern von einem reichen Tisch, auf dessen Grund noch einiges übrig war von dem allerwertvollsten, delikatesten Kaviar. Den Anlass für diesen Vergleich fühlte sie, wenn sie ihre Hand in die Tasche ihres Mantels steckte. Gerade an diesem Morgen, als sie losgegangen war, um am Rand der Müllhalde Mäusedornzweige abzuschneiden, war ihr das Kaviarglas vor die Füße gerollt. Dieses Glas hier! Ihr erstes Geburtstagsgeschenk, denn der Boden der Konserve war noch knapp fingerdick mit Kaviar bedeckt. Sein Besitzer wird zu faul gewesen sein, das Glas mit dem Messer auszukratzen. Und so war es ein Geburtstagsgeschenk für Leyla. Sofort hatte sie ihren langen Zeigefinger in das Glas getaucht. Ach, ihre langen Finger, die früher Türme, Springer, ohne Zögern abgetauschte Bauern und die ängstlich behütete, aber von ihr auch gewohnheitsmäßig zum Gambit gezogene Dame weich am Scheitel gefasst hatten! Die Länge ihrer Finger war beim Schach zu nichts nütze, doch wie geschickt sie jetzt in ein leeres Glas Kaviar eintauchten! »Das unwichtigste Organ für das Schachspiel sind unsere Hände und Finger. Wenn Sie eine Ahnung hätten, wie nutzlos sie sind! Was die Steine bewegt, ist Ihr Kopf !« Das war eine Lektion des Schachlehrers gewesen, die er Leyla erteilt hatte im Moskau des Winters 1975, als ihre Finger den Grund von Kaviargläsern noch nicht erreichten. Jedes Mal, wenn sie vom Unterricht kam, wurde ihr ein kleiner Löffel Kaviar in den Mund gesteckt. Sie dachte damals, das sei so eine Art Zaubertrank. Ein Zaubertrank, der ihr für die Partie gegen die Russen, diese geborenen Schachspieler, Kraft verleihen sollte. Leyla war eine 1963 in der Pakize-Tarzi-Klinik in Istanbul geborene Türkin. Seit ihrem sechsten Lebensjahr hielt sie sich aufgrund der Beschäftigung ihres Vaters in Russland auf. Der einzige Winkel, den sie von ihrer Heimat kannte, war die Marmara-Insel, die sie alle zwei bis drei Jahre für höchstens einen Monat besuchten. Sie erinnerte sich an die aus Marmor bestehende Küste dieser Insel, ihre Abhänge aus Marmor und das Schachspiel, das ihr der alte Yakup Dede, ein Zuwanderer aus Kreta, aus Marmor gefertigt hatte. Dabei war Yakup Dede eigentlich noch mehr als Leyla am Schachspiel interessiert, doch er 13
hatte, als er 1950 auf die Insel gekommen war, auf der ganzen Insel keinen einzigen Diener Gottes gefunden, der Schach spielen konnte. »Schach kann man auch alleine spielen«, hatte Leyla ihm erklärt. »Wirklich?«, hatte Yakup Dede gefragt, als sei ihm das noch nie eingefallen. Er wäre fast in Tränen ausgebrochen, weil ihm das für jedes seiner fünfundzwanzig Jahre auf der Insel leidtat. Wie alle Kinder war Leyla ehrlich, und weil sie ehrlich war, auch grausam. »Worauf es ankommt, ist so zu denken wie dein Gegenüber«, hatte sie noch hinzugesetzt und dann wiederholt, was ihr Botwinnik, ihr Schachlehrer aus Moskau, beigebracht hatte. Wie immer sprach sie dabei, als handele es sich um ihren eigenen Gedanken: »Auf diese Weise können Sie die Möglichkeiten über drei oder vier Züge berechnen. Ich habe sie einmal über acht Züge berechnen können. Aber ich habe viele Konkurrenten, sehr viele …« Das Russische hatte Leylas Türkisch stark verformt. Sie hatte vergessen, was »Idiot« auf Türkisch hieß. Doch wenn auch mit einem schlimmen Akzent, so wählte sie Worte präzise und reihte sie wie Perlen auf eine Kette, vergaß dabei jedoch manchmal, wie gewisse Worte auf Türkisch hießen. Dann wurde sie wütend und schämte sich. Immerhin war sie ein ehrgeiziges Kind. Als sie auf die Insel kamen, hatte Yakup Dede, der sich hier um die Angelegenheiten der Familie kümmerte, gehofft, sie würde eine Partie Schach mit ihm spielen, aber Leyla versuchte sich an das türkische Wort für »Idiot« zu erinnern. Sie saßen am Tisch, den man unter der Linde im Garten gedeckt hatte. Es wehte ein so angenehmer Wind, dass die Linde ihre Düfte über sie ergoss. Leyla sagte: »Wenn ich mit dir spiele, berechne ich alle Möglichkeiten fünfzehn Züge im Voraus.« Danach sagte sie leise »da« – »ja«, das Wort, das sie am häufigsten benutzte. Das Lieblingswort eines kränklichen, verschlossenen, bei jeder sich bietenden Gelegenheit unverschämten, aber zugleich übertrieben feigen und unglücklichen, ganz ungeliebten Kindes, das so keine Ahnung hatte, was Liebe war, und das sich in Russland mit Schach tröstete: »da, da« – »ja, ja«. Sie hatte mit dem Handrücken gegen das von Yakup Dede mit sol14
cher Meisterschaft gefertigte Schachspiel geschlagen. Die Steine waren wie Vögel hoch bis zu den Zweigen der Linde geflogen. Der arme Yakup Dede hatte seinen Kopf in Sicherheit gebracht, aber ein schwarzer Stein hatte ihn doch an der Schulter getroffen. Leyla hatte sich die Hand verletzt; sie blutete gerade so wie jetzt. Der Ochse mit der Machete, der den ganzen Mäusedorn für sein Eigentum hielt, hatte also, als er seine Waffe in mörderischer Absicht schwang, ihr einen Schnitt in die Finger gemacht. Die Klinge hatte fast an derselben Stelle eingeschlagen, an der einst in dem Sommer, als sie zwölf war, die Schachfiguren ihre Hand zum Bluten gebracht hatten. Der Kratzer auf der Kinderhand war nicht so tief wie der jetzt. Es hatte ihr nicht weiter wehgetan. In jenem Alter hatte es andere Dinge gegeben, die sie viel mehr schmerzten. Sie war auf der Straße in Fetzen gerissen worden, hatte viel Blut lassen müssen. Ihre Wunden hatten Narben hinterlassen. Sie hatte einige Zehen auf der Müllhalde eingebüßt; eines Nachts war ihr ein Ohr abhanden gekommen; eine der beiden Lippen ihrer Scham war eingerissen. Trotzdem hatte sie in dem Leben, das sie bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Jahr geführt hatte und in dem sie wie alle anderen auch in Wannen gebadet, gebügelte Kleidung getragen, während der Blutungen weiche Watte in ihren Schritt geklemmt hatte, viel größere Schmerzen erlitten. Ihre Seele war unheilbar verletzt, ihre Vernunft verwüstet, ihr Herz zerstört worden. In jenem Sommer, in dem sie Yakup Dede zusetzte, lag der Grund für all ihre Gemeinheiten und Launen darin, dass man sie von der Schachschule nehmen wollte. An der Schachschule Botwinnik befand sich Leyla unter lauter russischen Männern. Der Kaviar, den sie sich löffelweise in den Mund schaufelte, machte sie weder zu einer Russin, noch gab er ihr Kraft; er machte sie lediglich durstig. Sie mochte so schmächtig, klein, still und unscheinbar sein, wie sie wollte, als eine Ausländerin aus einem Land, das Mitglied der NATO und Knecht der USA war, zog sie die Aufmerksamkeit der misstrauischen, strengen Sowjetverwaltung auf sich. »Die Russen wollen dich hier nicht«, hatte ihr Vater zu ihr gesagt. »Wir werden dich von Botwinniks Kursen abmelden.« 15