Peter Tyle hat Erfolg an der Wallstreet und Glück in der Liebe. Doch alles bricht über ihm zusammen, als seine Frau ermordet und er selbst zum Hauptverdächtigen wird. Auf der Suche nach dem Mörder findet Peter sich in Moskau wieder, zwischen den Fronten von Pharmakonzernen und der russischen Mafia. Viel Zeit hat er nicht. Die Polizei ist ihm bereits dicht auf den Fersen. Lee Vance studierte an der Harvard Business School und war lange Jahre General Partner bei Goldman Sachs, eine der ältesten und angesehensten Investmentbanken der Welt. Er lebt mit seiner Familie in New York.
L E E VA N C E DIE ENTSCHĂ„DIGUNG Thriller Aus dem Amerikanischen von Kristian Lutze
Berliner Taschenbuch Verlag
Mix
Produktgruppe aus vorbildlich bewirtschafteten Wäldern und anderen kontrollierten Herkünften Zert.-Nr. GFA-COC-001223 www.fsc.org © 1996 Forest Stewardship Council
Januar 2010 BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin © 2007 by Lee Vance Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Restitution bei Alfred A. Knopf, New York Für die deutsche Ausgabe © 2008 Berlin Verlag GmbH, Berlin Bloomsbury Berlin Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Fotografie von © Getty Images Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-8333-0635-8 www.berlinverlage.de
F端r Cynthia, Nikki und Matthew
Er wird erwerben und doch nichts davon genießen und über seine eingetauschten Güter nicht froh werden. Hiob, 20, 18
HE R B S T
1 »Elf«, triumphiert Tigger, als sein Wurf von dem Plastikbrett abprallt und in den Korb fällt. »Du hast ja heute echt die Seuche. Damit schuldest du mir achthundert.« »Noch einmal um den ganzen Einsatz. Alles oder nichts«, sage ich und stehe auf, um die in meinem Büro verstreuten Nerf-Bälle einzusammeln. Als ich durch die Glaswand auf die Tische im Handelssaal blicke, wenden sich mehrere Köpfe abrupt ab. Die Junior Trader wetten auf unsere Spiele. Sie können den an der Tür hängenden Korb zwar nicht sehen, aber es ist allgemein bekannt, dass der Verlierer die Bälle einsammeln muss. Dass der halbe Trading Floor mitbekommt, wie ich vier Spiele in Folge abgebe, wurmt mich beinahe so sehr, wie sie verloren zu haben. »Hausregeln«, sagt Tigger. »Fünfhundert-Dollar-Limit pro Spiel.« »Hausregeln«, pflichte ich ihm bei. »Und wessen Haus ist das?« »Das gehört sich nicht, Peter. Regeln sind die Grundlage jeder Zivilisation.« Die breiten Vokale seines Brooklyner Akzents machen all seine Bemühungen, kultiviert zu klingen, zunichte und entlarven ihn als einen Oldtimer, einen der letzten Mohikaner, die sich hocharbeiten konnten, bevor man an der Wall Street dazu übergegangen ist, den Nachwuchs ausschließlich an den Elite-Unis des Landes zu rekrutieren. Tigger ist ein kleiner Mann Anfang fünfzig mit Wampe, Hängebacken, vorstehenden Augen und einem zu großen Kopf. Er war mein erster Boss und tadelt mich 11
immer noch freimütig, obwohl ich in der Hierarchie längst über ihm stehe. »Achthundert Dollar«, sage ich und schnappe mir einen Ball, der unter seinem Stuhl gelandet ist. »Das ist richtig viel Geld. Damit könntest du dich komplett neu einkleiden und für die restlichen vierhundert noch die alten Sachen entrümpeln lassen.« »Ich kaufe Klamotten nur im Dreierpack. Was hast du für die Krawatte gezahlt?« »Hundertzehn vielleicht«, sage ich mit einem Blick auf das Strukturmuster meiner Krawatte. »In irgendeinem Duty-freeShop. Im Laden kostet sie hundertvierzig.« »Du trägst eine Hundertzehn-Dollar-Krawatte, die in China für fünfzig Cent produziert wurde. Du kaufst uptown Hamburger für fünfundzwanzig Dollar und lässt dir von Typen, die nur einen Vornamen haben, für hundert Dollar die Haare schneiden. Es ist geradezu meine Pflicht, dir dein Geld abzuknöpfen, so verdammt dämlich, wie du damit umgehst.« Keisha öffnet die Tür, als ich gerade auf allen vieren unter der Couch nach einem Ball fische. »Josh auf deiner Privatleitung. Er muss dich dringend sprechen«, sagt sie und verdreht die Augen. Josh ist mein Boss, Chef von Klein & Klein, ein ehemaliger Banker aus dem Rostgürtel, dem alten industriellen Herzen der USA, obwohl er sich im Laufe der Zeit das pompöse Gehabe eines ottomanischen Paschas zugelegt hat. Alles ist dringend. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er anfängt, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen. Ich nehme den Hörer ab. »Peter Tyler.« »Ich stelle Sie jetzt zu Josh durch«, flüstert seine Sekretärin atemlos. »Ich stelle Sie jetzt zu Josh durch«, sage ich zu Tigger und schalte solange den Apparat auf stumm. »Was für ein Arschloch, kann nicht mal seine Anrufe selbst erledigen.« »Gib ihm bloß kein Geld«, warnt Tigger mich. »Das dritte 12
Quartal endet am Freitag. Wir haben das Budget schon erreicht. Ich will mit Rückenwind in die Bonus-Saison gehen.« »Peter«, dröhnt eine raue Stimme leutselig aus dem Hörer, »wie geht’s uns denn heute?« »Prächtig«, antworte ich und stelle mit dem Daumen den Empfang leiser. Die Kunden, die er betreut hat, müssen alle stocktaub sein. »Der Dollar notiert schwächer, der Ölpreis steigt und die Anleihen haben nachgegeben. Die allgemeine Lage ist gut für uns.« »Ausgezeichnet«, sagt er ohne rechte Begeisterung. »Etwas bereitet mir heute Morgen allerdings Sorgen, Peter. Ich habe mir den Risk Report des Gesamtunternehmens angesehen.« »Das tut mir leid, Josh«, sage ich und ergänze stumm: Denn Sie verstehen ihn nicht. »Und was scheint Ihnen Anlass zur Sorge zu sein?« »Das Controlling meint, wir hätten unsere japanische Kreditkurve zu weit gepreist. Wir stehen ohnehin unter Druck, die Zahlen für dieses Quartal zu liefern, und ich will keine unangenehmen Überraschungen erleben.« »Die Kurve wird als Rendite-Spread über Staatsanleihen notiert, Josh. Wir sind Unternehmensanleihen long und die JGBs short.« Ich mache eine Pause, damit ihm das Ausmaß seiner eigenen Verwirrung bewusst wird. Joshs Stärke sind schon immer persönliche Beziehungen gewesen, sein Haupttalent das Beschwatzen von fetten CEOs auf dem Golfplatz. Über seine Unkenntnis selbst grundlegender Marktregeln können sich die Händler in der Firma stets aufs Neue amüsieren. »Und das heißt?«, fragt er unsicher. »Der Wert des Spread ist gegen unsere Position gelaufen. Das Controlling wirft uns vor, Profite zu verstecken, keine Verluste.« Tigger drückt sich vor Lachen beide Hände auf den Mund. Ich grinse kurz zu ihm rüber, muss Josh jedoch zugutehalten, dass er überhaupt fragt. Schließlich ist er derjenige, der Druck kriegt, 13
wenn einmal irgendwas richtig schiefläuft, was in Finanzfirmen wie der unsrigen leider alltäglich vorkommt. Giganten wie Enron, Barings und Daiwa Banks sind wegen byzantinischer Betrügereien praktisch über Nacht in die Knie gegangen, und das gedemütigte Management konnte zu seiner Rechtfertigung nur vorbringen, dass man zu dumm oder zu unaufmerksam gewesen war, die Machenschaften zu durchschauen. Josh gibt sich wenigstens Mühe. »Wir sollten grundsätzlich gar nichts verbergen«, sagt er streng, um das Missverständnis zu überspielen. »Was mich zum zweiten Anlass meiner Besorgnis bringt. Wir werden einige unserer Bankprovisionen unerwartet erst im kommenden Monat einnehmen. Wenn wir die Projektion der Analysten erfüllen wollen, müssen wir tief graben.« Stimmt. An der Wall Street wird man immer nur an seiner jüngsten Performance gemessen, und die Banker spielen eifrig dasselbe Spiel wie wir auch und versuchen, die Einnahmen nach Möglichkeit ins vierte Quartal zu verschieben, damit sie als Helden dastehen, wenn es an die Verteilung der Prämien geht. »Ich würde Ihnen wirklich gern helfen, Josh, aber die Kasse ist leer. Wir haben die japanische Kreditkurve weit gepreist, weil wir Liquiditätsprobleme haben. Wir sind mehr als hundertzwanzig Yard Unternehmensanleihen long, und der Markt ist Geld für lediglich etwa zehn.« Tigger reckt beide Daumen. Josh schweigt. »Ein Yard sind eine Milliarde Yen«, füge ich zur Erklärung hinzu, obwohl ich ganz genau weiß, dass Josh Yen garantiert nicht in Dollar umrechnen kann. »Sie wollen also sagen, eine Gewinnentnahme zum jetzigen Zeitpunkt wäre unklug?«, fragt er nach einer weiteren Pause. »Genau.« Er seufzt wie ein Mann, der das Gewicht der Welt auf den Schultern trägt, aber ich falle nicht darauf rein. Ein Ex-Banker wie Josh muss wissen, dass seine ehemaligen Kohorten ihn als Sandsack benutzen, und es gibt keinen Grund, warum meine Jungs das 14
für ihn ausbügeln sollten. Welche Provisionen Josh auch von ihnen braucht, um die benötigten Zahlen zu präsentieren, bis Freitag werden sie sich auf wundersame Weise eingestellt haben. »Noch eine Sache, Peter«, sagt er. »William Turndale hat heute Morgen angerufen, während ich beim Frühstück war. Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte, bevor ich ihn zurückrufe?« William Turndale ist CEO von Turndale & Company, einer Vermögensverwaltungsfirma und einer unserer wichtigsten Kunden. Er gilt allgemein als der größte Wichser an der Wall Street, was ein bisschen so ist, als hätte man die größte Schuhgröße in der NBA – insofern ist es unwahrscheinlich, dass er Josh angerufen hat, um ihm zu unserer großartigen Arbeit zu gratulieren. Pascha oder nicht, selbst der Chef einer Fortune-100-Investmentbank muss sich von seinen Kunden zusammenscheißen lassen. »Sekunde.« Ich stelle den Apparat auf stumm und sehe Tigger an. »Haben wir deines Wissens irgendwelchen Ärger mit Turndale?« »Wegen irgendwas zicken die ja immer rum«, erwidert er achselzuckend. »Aber ich habe nichts Bestimmtes gehört.« »Wir wissen nicht, warum er angerufen hat«, sage ich in den Hörer. »Nun gut«, seufzt Josh. »Ich rufe ihn zurück und höre, was er will.« »Sagen Sie mir Bescheid, wenn es irgendein Problem gibt. Übrigens hat mir Tigger, der neben mir sitzt, gerade eine Notiz rübergeschoben. Er denkt, dass wir aus der Position japanischer Unternehmensanleihen vielleicht ein bisschen Bargeld lockermachen können. Ich schau mir die Sache an und melde mich dann wieder.« Tigger richtet sich auf seinem Stuhl auf und hebt zu einem gestotterten Protest an. Ich lege einen Finger auf meine Lippen. »Das ist großartig, Peter«, sagt Josh und klingt schon ein wenig fröhlicher. »Vielen herzlichen Dank. Zu Hause alles in Ordnung?« 15