JANET MALCOLM
TSCHECHOW LESEN Eine literarische Reise Aus dem Amerikanischen von Anna und Henning Ritter
Berlin Verlag
Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel Reading Chekhov, A Critical Journey bei Random House, Inc., New York | © 2001 Janet Malcolm | Für die deutsche Ausgabe © 2010 Berlin Verlag GmbH, Berlin | Alle Rechte vorbehalten | Auszug aus »Requiem« aus dem Band »Im Spiegelland« mit freundlicher Genehmigung von FTM Agency Ltd., Moskau, © Anna Achmatowa. © der deutschen Übersetzung von Ludolf Müller: 1982 Piper Verlag GmbH, München | Umschlaggestaltung: Nina Rothfos und Patrick Gabler, Hamburg | Typografie: Renate Stefan, Berlin | Gesetzt aus der Bembo und der Priori durch psb, Berlin | Druck & Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm | Printed in Germany 2010 | ISBN 978-3-8270-0900-5 | www.berlinverlage.de
I Nachdem sie zum ersten Mal miteinander geschlafen haben, fahren Dmitri Dmitritsch Gurow und Anna Sergejewna von Diederitz, der Held und die Heldin in Anton Tschechows Erzählung »Die Dame mit dem Hündchen« (1899), im Morgengrauen zu einem Dorf bei Jalta, das Oreanda heißt. Dort setzen sie sich auf eine Bank in der Nähe der Kirche und blicken aufs Meer hinunter. »Jalta war kaum zu sehen durch den Morgennebel, über den Gipfeln der Berge standen reglos weiße Wolken«, schreibt Tschechow an der berühmten Stelle, die so weitergeht: Kein Blatt rührte sich an den Bäumen, die Zikaden sangen, und das eintönige, dumpfe Rauschen des Meeres, das von unten heraufdrang, sprach von der Ruhe, vom ewigen Schlaf, der uns erwartet. So hat es unten gerauscht, als hier noch kein Jalta war, kein Oreanda, so rauscht es heute und wird noch genauso gleichgültig und dumpf rauschen, wenn wir einmal nicht mehr sind. Und in dieser Beständigkeit, in der vollkommenen Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und Tod eines jeden von uns liegt vielleicht das Unterpfand
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unserer ewigen Rettung verborgen, der unaufhörlichen Bewegung des Lebens auf der Erde, der unaufhörlichen Vollendung. Neben einer jungen Frau sitzend, die im Morgenlicht so schön erschien, besänftigt und bezaubert von dieser märchenhaften Umgebung – dem Meer, den Bergen, den Wolken, dem weiten Himmel, dachte Gurow, daß im Grunde, wenn man es sich recht überlegte, auf dieser Welt alles schön sei, alles, außer dem, was wir denken und tun, wenn wir die höchsten Ziele des Daseins vergessen, unsere menschliche Würde.
Heute sitze ich auf derselben Bank bei der Kirche und habe denselben Ausblick. Neben mir sitzt meine Englisch sprechende Reiseleiterin Nina (ich kann kein Russisch), und ein paar hundert Meter entfernt wartet der Fahrer Jewgeni in seinem Auto am Beginn des Fußweges, der zu dem Aussichtspunkt führt, wo Gurow und Anna saßen, als sie sich der großen Liebe, die vor ihnen lag, noch nicht bewußt waren. Ich bin eine Figur in einem neuartigen Drama: in der absurden Farce einer literarischen Pilgerreise, die die magischen Seiten des Werks eines Genies verläßt und sich zur »Urszene« aufmacht, die hinter den Erwartungen nur zurückbleiben kann. Weil aber Nina und Jewgeni sich einige Mühe gemacht haben, um den Aussichtspunkt zu finden, tue ich so, als ob ich begeistert wäre. Nina – eine großgewachsene Frau Ende Sechzig, mit kurzen, glatten Haaren, vergißmeinnichtblauen Augen und einer unverkennbar leidenschaftlichen Natur – weiß das zu schätzen. Sie fängt an zu singen. »Es ist eine große, weite, wunderbare Welt, in der wir leben«, singt sie und fragt dann: »Kennen Sie dieses Lied?« Als ich es bejahe, erzählt sie mir, daß Deanna Durbin es 1948 in dem Film For the Love of Mary gesungen hat. »Mögen Sie Deanna Durbin?« fragt sie. Ich sage ja.
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»Ich verehre Deanna Durbin«, sagt Nina. »Ich verehre sie seit meiner Jugend.« Sie erzählt mir von einer zufälligen Begegnung in der Kirche von Jalta vor zwei Jahren mit einer Engländerin namens Muriel, die sich ebenfalls als Verehrerin von Deanna Durbin erwies und sie infolgedessen zu der jährlichen Konferenz einer Organisation einlud, die sich Deanna-Durbin-Gesellschaft nannte und dieses Jahr in Scarborough in England tagte. Nina besitzt Videos aller Filme von Deanna Durbin und kennt alle ihre Lieder. Sie will mir die Adresse der Deanna-Durbin-Gesellschaft geben. Nina wurde im heutigen St. Petersburg geboren, wo sie auch aufwuchs, und nachdem sie dort an der Universität Sprachen studiert hatte, wurde sie Reiseleiterin bei Intourist, derzeit zuständig für Jalta. Sie ist in Rente gegangen, und wie alle Rentner in der ehemaligen Sowjetunion kann sie von ihrer Rente nicht leben. Sie arbeitet jetzt als selbständige Reiseleiterin und wartet auf Aufträge vom Hotel Jalta, das gegenwärtig das einzige Hotel in der Stadt ist, in dem man wohnen kann. Meine Reise nach Jalta war für sie ein Glückstreffer; sie hatte schon lange nicht mehr gearbeitet, als das Hotel anrief. Es ist der zweite Tag meiner Bekanntschaft mit Nina, der dritte Tag meines Aufenthalts im Hotel Jalta und der neunte Tag meiner Reise in die ehemalige Sowjetunion. Ich habe von St. Petersburg und Moskau meinen Weg nach Süden angetreten. Meine Ankunft in Jalta war von einem Ereignis gekennzeichnet, was auf ziemlich dramatische Weise etwas sichtbar machte, das unterhalb der Schwelle meines Bewußtseins gelegen hatte, als ich zu meiner Reise aufbrach, um die Häuser aufzusuchen, in denen Tschechow gelebt und über die er geschrieben hatte. Ich flog von Moskau nach Simferopol, der nächsten Stadt bei Jalta, die einen Flughafen hat, zwei Stunden
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Fahrt entfernt. Tschechow lebte während der letzten fünf Jahre seines Lebens meistens in Jalta. (Er starb im Juli 1904.) Die Verbannung an Orte mit mildem Klima wie die Krim oder die Riviera war damals die bevorzugte Therapie für Tuberkulose, in deren letztem Stadium sich Tschechow in den späten neunziger Jahren befand. Er baute eine hübsche Villa ein paar Kilometer vom Stadtzentrum entfernt in einem Vorort namens Autka und kaufte außerdem ein Häuschen am Wasser in einem tatarischen Küstendorf, das Gursuf hieß. In diesen Häusern schrieb er sowohl die Dramen Drei Schwestern und Der Kirschgarten als auch die Erzählungen »Die Dame mit dem Hündchen« und »Der Bischof«. Als ich im Flughafen Simferopol in der Schlange am Einreiseschalter wartete, um meinen Paß und mein Visum stempeln zu lassen, sah ich wie in einer Traumsequenz in Zeitlupe in der Gepäckabteilung hinter einer Glasscheibe einen Mann mit meinem Koffer in der Hand das Gebäude verlassen. Die Halluzination stellte sich als wirklich heraus. Wie benommen füllte ich das Formular für abhanden gekommenes Gepäck aus und folgte einer Englisch sprechenden Dame, die für das Hotel Jalta arbeitete, zu einem Wagen auf dem Parkplatz. Sie sagte, daß sie Nachforschungen nach meinem Gepäck anstellen werde, und verschwand. Der Fahrer – derselbe Jewgeni, der jetzt in Oreanda im Auto sitzt – fuhr mich schweigend zum Hotel, da sein Englisch und mein Russisch auf exakt dem gleichen Niveau waren. Als wir uns der Küste des Schwarzen Meeres näherten, gab das Bauernland den Blick auf eine Gegend frei, die in der Vielfalt und Schönheit ihrer Vegetation die Riviera noch übertraf. Die kurvenreiche Straße eröffnete die Aussicht auf Berge und weiter unten aufs Meer. Aber als das Hotel Jalta auftauchte, hielt ich wegen dessen ungeheuerlicher Häßlichkeit den
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Atem an. Es ist ein monströser Bau aus dem Jahr 1975, in dem zweitausendfünfhundert Personen unterkommen können, ein Schlag ins Gesicht der Landschaft. Seine Größe wäre überall problematisch, aber auf den Hügeln oberhalb von Jalta ist sie eine Katastrophe. Aus einer Glas- und Betonfassade ragen Hunderte – wenn nicht gar Tausende – identische Balkone hervor. Die Auffahrt gleicht einem Parkplatz im Stil amerikanischer Supermärkte. Die riesige Eingangshalle mit niedriger Decke, schwarzem Marmorfußboden und metallbeschlagenen Wänden sieht aus wie die Kreuzung aus einer maroden Bank und einem heruntergekommenen Nachtclub. In einer Ecke befindet sich eine Bar, und an einer Wand steht eine Reihe Spielautomaten. Eine große Fläche leeren schwarzen Marmorfußbodens erstreckt sich zwischen den Spielautomaten und dem Empfang. Als ich die Eingangshalle betrat, war sie fast ganz leer: Zwei oder drei Männer spielten an den Automaten, und an der Bar saß ein Pärchen. An der Rezeption erhielt ich den Schlüssel für ein Zimmer in der vierten Etage, und nachdem ich einen grotesk langen Flur entlanggegangen war, öffnete ich die Tür zu einer Zelle von zweieinhalb mal dreieinhalb Metern, die mit hellen skandinavischen Holzmöbeln im Stil der fünfziger und sechziger Jahre hübsch möbliert war und gerade einmal Platz für ein Doppelbett, einen kleinen runden Tisch mit zwei Stühlen, einen Sessel und einen winzigen Kühlschrank bot. Mein kleiner Balkon – ebenso wie die unzähligen anderen – gab einen begrenzten Ausblick auf das Meer frei und auf große Swimmingpools, Tennisplätze, einige Nebengebäude und einen Vortragssaal. In den Schwimmbecken und auf den Tennisplätzen war niemand zu sehen, aber amerikanische Popmusik dröhnte aus den Lautsprechern. Ich schloss die Glastür, um die Geräusche zu dämpfen, und öffnete erwartungsvoll den Kühlschrank. Er war leer. Im Bad fand ich
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funktionierende Armaturen vor und einen Seifenbehälter aus Plastik, der braunen Marmor vortäuschen sollte. Bei meiner Ankunft erwartete mich in der Lobby ein junger Mann namens Igor, der fließend Englisch sprach und sich konsequent des Lächelns enthielt, und führte mich in sein Büro, wo er die Unternehmungen der nächsten beiden Tage aufzählte, die mit Nina und Jewgeni vereinbart waren. Diese Unternehmungen waren im voraus bezahlt, und er wollte mir klarmachen, daß alles Weitere zusätzliche Kosten bedeuten würde. (Die Fahrt nach Oreanda wäre eine solche zusätzliche Leistung.) Als ich mein abhanden gekommenes Gepäck erwähnte und mich erkundigte, ob ich irgendwo ein Nachthemd und Kleidung zum Wechseln kaufen könnte, schaute er auf seine Uhr und sagte, wenn ich in die Stadt hinunterginge – ein Weg von zwanzig bis dreißig Minuten –, könnte ich wohl noch ein geöffnetes Geschäft finden. Als ich im Sonnenlicht des Spätnachmittags in die Stadt ging, eine kurvige Straße hinunter, die erfüllt war vom Duft der Bäume, Büsche und Feldblumen, die die Straße säumten, und das schaurige Hotel hinter mir ließ, spürte ich einen Hauch von Glück. Obwohl es Mai war, hatte in St. Petersburg eine eisige Kälte geherrscht, und in Moskau war es nur wenige Grad wärmer gewesen. Aber hier war es wirklich schon Frühling; die Luft war frisch und mild. In ein paar Monaten – das wußte ich aus der »Dame mit dem Hündchen« – würde Jalta heiß und staubig sein. An dem Tag, an dem Gurow und Anna ein Liebespaar wurden, war es in den Zimmern schwül, »auf den Straßen wirbelte der Wind den Staub auf, riß Hüte vom Kopf. Den ganzen Tag hatte man Durst, und Gurow kehrte oft im Pavillon ein und bot Anna Sergejewna bald Wasser mit Fruchtsirup an, bald Halbgefrorenes. Man wußte nicht, wohin man sich retten sollte.« Am Abend, als sie sich im Hafen unter
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die Menge mischten, die sich dort eingefunden hatte, um nach einem einlaufenden Schiff Ausschau zu halten, küßte Gurow Anna, und sie gingen in ihr Hotel. Nachdem sie sich geliebt hatten, saß Anna in »zerknirschter Pose« da, »wie die Sünderin auf einem alten Gemälde«, und Gurow schnitt sich gleichgültig ein Stück von einer Wassermelone ab und aß es »ohne Eile«. Die unvergeßliche Geste Gurows – das Kennzeichen des kalten Lebemanns, der er war – vertieft nur noch das Geheimnis und verdeutlicht die Entschiedenheit seiner späteren Verwandlung in einen Mann, der zu ernster Liebe fähig ist. Als ich weiterging, tauchten kleine Vorstadthäuser des vertrauten alten Typs auf. Jalta schien unberührt geblieben zu sein von jenen Händen, die mein monströses Hotel zwischen die Hügel gesetzt hatten. An der Strandpromenade hatte es, seit Gurow und Anna dort spazierengegangen waren, natürlich einige Veränderungen gegeben. Auf dem Platz gegenüber dem Hafen stand, zur See gewandt, eine gewaltige Lenin-Statue; und im Hafen gab es einen Vergnügungspark für Kinder, der mit grellbunten Comicfiguren ausgestattet war. Die Geschäfte an der von Bäumen gesäumten Promenade – hier verkaufte man Filme, Sonnenöl, Meerjungfraupuppen, Souvenirporzellan – machten einen verwahrlosten, im Stich gelassenen Eindruck; vielleicht würde sich in der heißen, staubigen Saison das Geschäft beleben. Viele waren heute geschlossen, auch die Kleiderläden. Als Tschechow im Juli 1888 zum ersten Mal nach Jalta kam, sprach er gegenüber seiner Schwester Maria ganz verächtlich von der Stadt: »Jalta ist eine Mischung von Europäischem, das an die Ansichten von Nizza erinnert, und von etwas Billigem und Schäbigem. Die Hotelkästen, in denen unglückliche Schwindsüchtige vor sich hin dämmern, die dreisten tatarischen Gesichter, das Gewimmel der Damen mit dem unverhüllten Ausdruck von etwas sehr Abstoßendem, die
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Gesichter der müßigen Reichen, die sich nach einem billigen Abenteuer sehnen, der Parfumgeruch anstelle des Duftes von Zedern und Meer, der elende, schmutzige Pier, die melancholischen Lichter weit draußen im Meer, das Geschwätz der jungen Damen und Herren, die sich hier eingefunden haben, um die Natur, von der sie keine Ahnung haben, zu bestaunen – all dies hat eine deprimierende Wirkung, die so überwältigend ist, daß man sich vorzuwerfen beginnt, Vorurteile zu haben und ungerecht zu sein.« Ich begann den Hügel hinaufzusteigen. Die Sonne näherte sich dem Horizont, und ein kalter Hauch lag in der Luft. Es bedrückte mich, daß ich, Tausende von Kilometern von zu Hause entfernt, nichts besaß als das, was ich auf dem Leib trug. Ich versuchte mich zusammenzunehmen und über meine kleine Obsession wegen des Verlusts von ein paar Kleidungsstücken hinwegzukommen, und zu diesem Zweck beschwor ich Tschechow und seinen ausgeprägten Sinn für das, was im Leben wichtig ist, der aus seinem Werk hervorleuchtet. Der Schatten der Sterblichkeit liegt auf seinen Texten; seine Figuren erinnern einander ständig daran: »Wir müssen alle sterben« und »Das Leben ist uns nicht zweimal gegeben«. Tschechow selbst brauchte solche Ermahnungen nicht. Das letzte Jahrzehnt seines Lebens war geprägt von dem täglichen Kampf mit einer immer bösartiger werdenden Lungen- und Darmtuberkulose. Und doch, als er im Heilbad Badenweiler, wohin ihn ein Spezialist fatalerweise geschickt hatte, im Sterben lag, schrieb er Briefe an Maria, in denen er sich immer wieder darüber beklagte, wie schlecht die deutschen Frauen gekleidet seien, nicht aber über sein Schicksal. »Nirgends kleiden sich die Frauen so abscheulich … Ich habe noch keine schöne Frau gesehen, und auch keine, die nicht mit irgendwelchen absurden Litzen aufgetakelt wäre«, schrieb er am 8. Juni
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1904, und dann am 28. Juni – in seinem letzten Brief und seiner letzten Bemerkung überhaupt –: »Keine einzige anständig gekleidete deutsche Frau, eine Geschmacklosigkeit, die trübsinnig macht.« Ich stieg weiter den Hügel hinauf, immer noch im unerbittlichen Griff des Kummers über meine abhanden gekommene Kleidung. Und dann kam mir die Einsicht: die Erkenntnis, daß, als mein Koffer entwendet wurde, ich statt dessen etwas anderes bekommen hatte – endlich fühlte ich etwas. Bis zu der Unannehmlichkeit am Flughafen hatte ich für nichts ein sehr starkes Gefühl empfunden. Ohne genau zu wissen, warum, fand ich Reiseschriftstellerei immer etwas langweilig, und jetzt schien der Grund klar: Vom Gefühl her ist Reisen eine schwache Erfahrung, blaß im Vergleich zum wirklichen Leben. Als Gurow Anna in einem Gartenlokal anredet (er nähert sich ihr dabei über den Hund), kommen die beiden so ins Gespräch: »Sind Sie schon lange in Jalta?« »Fünf Tage.« »Und ich bin schon die zweite Woche hier.« Sie schwiegen eine Weile. »Die Zeit vergeht schnell, es ist nur so langweilig hier!« sagte sie, ohne ihn anzublicken. »Das ist nur so eine Redensart, es sei langweilig hier. Der Spießer lebt bei sich zu Haus in Beljow oder Shisdra – und langweilt sich nicht, aber kommt er hierher: ›Ach, diese Langeweile! Ach dieser Staub!‹ Man könnte meinen, er käme aus Granada.«
Dieser Abschnitt veranschaulicht Gurows geistreiche Art (wie Valdimir Nabokov bemerkt hat). Er drückt auch die Erkennt-
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nis aus, die sich mir eben erst offenbart hat und die durch Tschechows Exil in Jalta auch ihm offenbart wurde – daß auch wir aus Granada kommen. Wir sind dort, wo etwas los ist; wir sind dort, wo die Früchte der Erfahrung verteilt werden. Auf unseren Reisen stehen wir vor Gemälden und bewundern Landschaften, und manchmal sind wir bewegt, aber selten sind wir so mit dem Leben verbunden wie an irgendeinem Tag in unserem normalen Leben in unserer gewohnten Umgebung. Erst wenn wir mit den kleineren Unbequemlichkeiten der Reise konfrontiert werden, brechen wir aus der touristischen Trance aus und spüren den scharfen Geschmack der Wirklichkeit. (»Ich habe niemals jemanden getroffen, der weniger Tourist war«, schreibt Maxim Kowalewski, ein Soziologieprofessor, den Tschechow 1897 in Nizza traf, über seinen Landsmann, und fährt fort: »Museen, Kunstausstellungen und Ruinen zu besichtigen erschöpfte ihn eher, als daß es ihm Vergnügen bereitete … In Rom sah ich mich genötigt, die Rolle des Reiseführers zu übernehmen, als ich ihm das Forum, die Ruinen von Cäsars Palast und das Kapitol zeigte. Gegenüber alldem blieb er mehr oder weniger gleichgültig.«) In Jalta war Tschechow zutiefst gelangweilt, bevor er sein Haus baute und seinen Garten anlegte, und sogar danach glaubte er, in der Verbannung zu sein, und dachte, daß das Leben sich anderswo abspielte. Als er die Sehnsucht der drei Schwestern nach Moskau beschrieb, drückte er sein eigenes Gefühl des Verbanntseins aus: »Man weiß nicht, was man mit sich anfangen soll.« Tschechows Villa in Autka – Nina hatte mich an unserem ersten gemeinsamen Tag dorthin geführt – ist ein vornehmes zweistöckiges Haus in einer schmucklosen, ein wenig maurisch anmutenden Bauweise mit einem großen gepflegten Garten und geräumigen Zimmern, die über Jalta hinweg einen Ausblick zum Meer freigaben. Maria Tschechowa, die bis 1957
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lebte, hat Haus und Garten gerettet, indem sie während des Krieges die Nazi-Besatzer fernhielt und die Demütigungen der Stalin- und Chruschtschow-Ära überstand. Das Haus blieb eingerichtet wie zu Tschechows Zeiten: hübsch, einfach, elegant. Wie Tschechow auf Damenkleidung achtete (sie bleibt in seinem Werk nie unbemerkt und hat immer eine Bedeutung), so achtete er auf die Möblierung seiner Häuser. Vielleicht war ihm seine Liebe zu Ordnung und Eleganz angeboren, wahrscheinlich aber handelte es sich um eine Reaktion auf die Unordnung und Härte seines frühen Familienlebens. Sein Vater Pawel Jegorowitsch war der Sohn eines Leibeigenen, der es geschafft hatte, seine Freiheit und die seiner Frau und seiner Kinder zu erkaufen. Pawel brachte es zu etwas und wurde Besitzer eines Lebensmittelladens in Taganrog, einer Stadt mit einer starken ausländischen (vor allem griechischen) Bevölkerung, am Asowschen Meer in Südrußland gelegen. Der Laden, wie Tschechows bester Biograph Ernest J. Simmons in seinem Buch Chekhov (1962) schildert, erinnert an einen Gemischtwarenladen in Neu-England, wo man Kerzen, Tabak, Garn, Nägel und Haushaltswaren kaufen kann, obwohl hier, im Unterschied zu Neu-England, auch Wodka verkauft wurde, den man an Ort und Stelle in einem separaten Raum trank. Nach Simmons Schilderung lagen »dreckige Überreste auf dem Boden, in den Regalen abgetragenes, schmutziges Ölzeug, und im Sommer ließen sich überall Schwärme von Fliegen nieder. Von den angebotenen Waren ging ein unangenehmes Gemisch von Gerüchen aus: Der Zucker roch nach Benzin, der Kaffee nach Heringen. Freche Ratten liefen im Laden herum.« Tschechows ältester Bruder Alexander hat berichtet, wie der »zukünftige Schriftsteller« Anton, der damals neunjährige Schüler, in einer eisigen Winternacht vom Vater aus dem warmen Zimmer, wo er seine Hausaufgaben machte, gezerrt wurde,
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damit er auf den ungeheizten Laden aufpaßte. Der Bericht betont die Grausamkeit des Vaters und den Jammer des Jungen. Er ist blumig ausgeschmückt, im Stil eines Groschenhefts geschrieben. Der verschwiegene Anton selbst hat keine Erinnerungen an den Kummer seiner Kindheit hinterlassen, obwohl es in seinen Erzählungen Stellen gibt, von denen man annimmt, daß sie sich darauf beziehen. In der langen Erzählung »Drei Jahre« (1895) zum Beispiel sagt der Protagonist Laptew zu seiner Frau: »Ich erinnere mich, wie mein Vater mich besserte – oder um es schlichter zu sagen, mich schlug –, da war ich nicht einmal fünf Jahre. Er pflegte mich mit Birkenruten zu schlagen, zog mir die Ohren lang, schlug mich auf den Kopf, und jeden Morgen, wenn ich aufwachte, war mein erster Gedanke: Ob er mich heute prügeln wird?« In einem Brief von 1894 an seinen Verleger und engen Freund Alexej Suworin gestattet sich Tschechow die bittere Reflexion: »Ich habe von klein auf an den Fortschritt geglaubt und gar nicht anders gekonnt, als an ihn zu glauben, denn der Unterschied zwischen der Zeit, als ich geschlagen wurde, und der Zeit, als man aufhörte, mich zu schlagen, war ungeheuer.« Tschechow litt an etwas, das er 1899 einem anderen Briefpartner als »Autobiographophobie« beschrieb. Der Adressat dieses Geständnisses war Grigori Rossolimo, der in der medizinischen Ausbildung zu seinem Jahrgang gehörte. Er hatte Tschechow geschrieben, um von ihm für ein Album, das er für ein Jahrgangstreffen zusammenstellte, einen Lebenslauf zu erbitten – den Tschechow schließlich lieferte, doch nicht ohne seinem Widerwillen Ausdruck zu verleihen, über sich selbst schreiben zu müssen. Sieben Jahre zuvor, als ihn W. A. Tichonow, Herausgeber der Zeitschrift Norden, um biographische Mitteilungen als Begleittext für eine Photographie gebeten hatte, antwortete Tschechow:
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Sie brauchen meine Biographie? Da ist sie. Geboren wurde ich 1860 in Taganrog. 1879 beendete ich das Gymnasium in Taganrog. 1884 beendete ich das Studium an der Medizinischen Fakultät der Universität Moskau. 1888 bekam ich den Puschkinpreis. 1890 unternahm ich eine Reise nach Sachalin durch Sibirien und zurück übers Meer. 1891 unternahm ich eine Rundreise durch Europa, wo ich sehr guten Wein trank und Austern aß. 1892 habe ich mich mit W. A. Tichonow bei einem Namenstag [des Schriftstellers Schtscheglow] amüsiert. Zu schreiben begann ich 1879 in der Libelle. Meine Erzählungsbände sind: »Bunte Erzählungen«, »In der Dämmerung«, »Erzählungen«, »Mürrische Menschen« und die Novelle »Ein Duell«. Ich habe auch im dramatischen Fach gesündigt, wenn auch mit Maßen. Bin in sämtliche Sprachen übersetzt, ausgenommen Fremdsprachen. Übrigens, die Deutschen haben mich schon längst übersetzt. Die Tschechen und Serben finden mich ebenfalls gut. Auch die Franzosen können mit mir etwas anfangen. In die Geheimnisse der Liebe eingeweiht wurde ich, als ich dreizehn Jahre alt war. Mit meinen Kollegen – Medizinern wie Literaten – pflege ich ausgezeichnete Beziehungen. Junggeselle. Möchte eine Pension bekommen. Praktiziere als Arzt und gehe dabei so weit, daß ich im Sommer manchmal gerichtsmedizinische Obduktionen vornehme, die ich schon zwei bis drei Jahre nicht mehr durchgeführt habe. Unter den Schriftstellern bevorzuge ich Tolstoi, unter den Ärzten Sacharin. Aber das ist alles Unfug. Schreiben Sie, was Sie wollen. Wo keine Fakten sind, ersetzen Sie sie durch Lyrik.
Maxim Gorki hat über Tschechow gesagt, daß »in Gegenwart von Anton Pawlowitsch jeder ein unbewußtes Verlangen spürte,
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einfacher zu sein, wahrhaftiger, mehr er selbst«. Tschechows scherzhafter Lebenslauf hat eine ähnlich reinigende Wirkung. Nachdem man ihn gelesen hat, muß einem jeder Versuch der Selbstbeschreibung, der länger und weniger verspielt ist, als prätentiös und lächerlich erscheinen.
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