David Nello: 9 monate XXL

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d a v i d n e l·l o

9 monateX X L Roman

Aus dem Katalanischen von Cornelia Eisner

Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher


Die deutsche Übersetzung wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung vom Institut Ramon Llull.

Produktgruppe aus vorbildlich bewirtschafteten Wäldern und anderen kontrollierten Herkünften www.fsc.org Zert.-Nr. GFA-COC-001278 © 1996 Forest Stewardship Council

Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel Babushka bei Baula, Barcelona | © 2006 David Nel·lo | Für die deutsche Ausgabe © 2010 Berlin Verlag GmbH, Berlin | Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher, Berlin | Alle Rechte vorbehalten | Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg | Typografie: Renate Stefan, Berlin | Gesetzt aus der Bembo und der Unitus durch psb, Berlin | Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm | Printed in Germany | ISBN 978-3-8270-5287-2 | www.berlinverlage.de


I Wir wurden oft für Schwestern gehalten, und darauf war sie extrem stolz. »Nein, wir sind Mutter und Tochter«, sagte sie, um gleich mit einem sehr vielsagenden oder vielleicht auch nur koketten Lachen hinzuzufügen: »Und es ist ja wohl klar, wer die Mutter ist und wer die Tochter, oder?« Okay, natürlich sah sie jung aus, aber ich glaube nicht, dass irgendjemand auf die Idee gekommen wäre, ich könnte die Mutter sein und sie die Tochter, mal ehrlich. »Deine Mutter ist ja total jung, Eli«, sagten meine Freundinnen zu mir, wenn sie sie zum ersten Mal sahen. Ich zuckte mit den Schultern und sagte, das wüsste ich schon. Dann fragten sie mich, wie es denn sei, eine so junge Mutter zu haben. Ich antwortete, das sei ganz normal, sie sei wie jede andere Mutter auch, ich hätte nie eine ältere Mutter gehabt, sie sei die einzige Mutter, die ich kannte. Es stimmt schon, dass manche meiner Freundinnen echt alte Mütter hatten. Viele stylten sich auf jung und trugen trendige Klamotten, aber man sah ihnen ihr Alter schon von weitem an. Die andere unausweichliche Frage ließ auch nicht lange auf sich warten: »Und dein Vater? Ist der auch so jung wie deine Mutter?« Ich zuckte wieder mit den 5


Schultern. Manchmal sagte ich nein, er sei älter. Das sagte ich, weil ich keine Lust hatte, ihnen mein ganzes Leben zu erzählen. Wenn ich sie provozieren wollte, sagte ich, dass ich es nicht wüsste. »Was soll das heißen, du weißt es nicht?«, fragten sie verwundert. »Na, dass ich es eben nicht weiß, dass ich keine Ahnung habe, ob er steinalt ist oder super jung oder vielleicht schon tot … Tot glaub ich ja nicht, aber wer weiß, möglich ist alles.« Wieso erzähle ich eigentlich als Erstes von meiner Mutter? Wieso rede ich überhaupt über sie? Ich weiß nicht, das ist halt so passiert. Ein Grund ist sicher, dass wir uns immer sehr nahegestanden haben, wir haben immer zusammengehalten. »Du und ich, wir sind zwei Robinsons«, sagte sie mal zu mir, als ich schon alt genug war, das zu verstehen. Hey, jetzt soll aber niemand glauben, wir wären wie Mutter und Tochter aus so einem typischen Hollywood-Film, zwei so schräge Tussis mit gefärbtem Haar, die behaupten, sie seien total gute Freundinnen und hätten keine Geheimnisse voreinander. Und ob wir Geheimnisse voreinander hatten, und zwar massig. Da war zum Beispiel das ganze Vaterthema – topsecret. Ich brauchte gar nicht erst zu fragen, meine Mutter blockte jedes Mal ab und sagte kein Wort mehr. Sie bekam dann so einen verlorenen Blick. Manchmal zupfte sie auch an ihrer Oberlippe rum oder spielte mit ihren Ohrringen. »Jetzt nicht«, sagte sie dann. Und wenn ich nicht lockerließ und fragte, wann wir denn darüber reden könnten, sagte sie, das wüsste sie nicht, aber nicht jetzt. 6


Wenn ich es mir genau überlege, habe ich vielleicht auch aus einem anderen Grund als Erstes von meiner Mutter erzählt: Sie ist hübscher als ich. Das hört sich jetzt vielleicht doof an, wirklich wie in einem schlechten amerikanischen Film. Und es ist in Wahrheit auch kein Grund, von ihr zu erzählen. Okay, sie ist hübscher als ich, na und? Klar, das ist nicht so leicht. Ich meine, manchmal beschäftigt dich das ganz schön. Was dich stört, ist natürlich nicht, dass sie hübsch ist, sondern, dass du hässlicher bist. Also, sie ist zierlich, hat eine gute Figur; vom Gesicht sehen wir uns schon ähnlich, vielleicht heißt es deswegen immer, dass wir Schwestern sind und so, aber ich bin viel kräftiger gebaut. Nicht, dass jetzt jemand glaubt, ich wäre ein Walross oder eine Straßenwalze, so ist es auch wieder nicht. Aber ich habe schon ganz schöne Oberschenkel, einen ordentlichen Hintern … Und, seit ich ungefähr dreizehn bin, auch einen ansehnlichen Busen. Als ich einmal, so mit fünfzehn, an der Autowerkstatt bei uns an der Ecke vorbeiging, pfiff mir der Mechaniker nach und rief: »Geiler Vorbau!« Aber dann erkannte er mich, er kannte mich ja vom Sehen, und sagte: »Sorry, Kleine.« Ich hatte auch so meine Geheimnisse, schon von klein auf. Und nicht nur vor meiner Mutter. Vor allem in der Zeit, in der sie als Hilfsschwester im Krankenhaus arbeitete. Das war ein Scheißjob, und sie hatte oft Nachtschicht. Dann ging sie nach dem Abendessen weg und kam erst im Morgengrauen wieder. Bei mir blieb eine dieser Babysitterinnen, Mireia oder so hießen die alle, bis es Zeit zum Schlafengehen war; dann verdrückte 7


sich die Babysitterin wieder, und ich blieb allein zu Hause. Ich weiß noch, dass ich mich so sehr fürchtete, dass ich nur bei laufendem Radio einschlief, und wenn ich aufs Klo musste, rannte ich panisch über den Flur. »Und was machst du so mit Mireia (oder wie die aktuelle Babysitterin gerade hieß)?«, fragte mich meine Mutter. Und ich antwortete, dass wir nichts machten, dass wir ganz normale Sachen machten, dass ich mich nicht erinnern konnte. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich so normal war, was wir machten, für mein Alter. Es waren vielleicht keine schrecklichen Dinge, die mich auf Lebenszeit traumatisiert hätten. Aber jedem halbwegs vernünftigen Menschen wäre aufgefallen, dass so nicht unbedingt die passendste Beschäftigung für ein Kleinkind aussah. Die armen Mireias, wahrscheinlich war ihnen langweilig. Deswegen hauten sie sich einfach vor den Fernseher und zogen sich jeden Scheiß rein. Und ich mit ihnen. Wir saßen auf dem Sofa und sahen fern. Manchmal sagte Mireia, oder wie auch immer sie hieß: »Komm, Eli, du solltest jetzt wirklich schlafen gehen, das ist nichts für dich.« Da hatte sie allerdings recht, das war wirklich nichts für mich: richtig harte Sexnummern oder total brutale Gewaltszenen. »Nur noch ein bisschen, Mireia, nur noch fünf Minuten!« Und so wurde es immer später. Wenn ich’s mir recht überlege, sollten einige dieser Mädchen eigentlich wegen Fahrlässigkeit oder Verantwortungslosigkeit im Gefängnis sitzen. Denn irgendwann, so gegen zehn oder elf, gingen sie dann einfach; wahrscheinlich waren sie mit ihrem Freund oder mit 8


der Clique verabredet. »Haha, wie schön, wir haben brav babygesittet, und jetzt können wir noch so richtig abgehen, jetzt fängt der Abend erst an.« Sie schlugen die Wohnungstür hinter sich zu und hopsten zufrieden die Treppe hinunter. Die Nacht ist noch jung. Aber ich war auch noch jung, zu jung, um allein zu bleiben, nach allem, was ich im Fernsehen gesehen hatte. Ich kroch ins Bett, machte die Augen zu, und mein Kopf war voll von Gedanken. Ich weiß nicht mehr, was ich dachte, aber besonders lustig war es nicht. Manchmal war ich kurz davor einzuschlafen, dann tastete ich nach dem Radio und schaltete es ab. Doch kurz darauf überkam mich dieses eigenartige Gefühl: Als würde eine kilometerlange Ameisenstraße in mein Ohr kriechen, ganz merkwürdige Ameisen, die komisch knisterten und mich nicht schlafen ließen. Und ich, gefangen zwischen den Ameisen, die in mein Ohr krabbelten, und meiner Müdigkeit, streckte den Arm aus, um das Radio wieder einzuschalten; das war das einzige Mittel gegen die Angst, die Gedanken und die Ameisen … Wie bitte hätte ich das meiner Mutter erzählen sollen? Sie hätte sowieso nichts dagegen tun können, sie konnte sich ihre Schicht ja nicht aussuchen. Sie machte sich sicher Sorgen, natürlich machte sie sich Sorgen. Ich habe da noch ein paar lustige Fotos. Na ja, eigentlich sind sie eher traurig als lustig. Eine dieser Mireia-Babysitterinnen hat sie von mir gemacht. Dem Aussehen nach dürfte ich ungefähr zwei oder drei Jahre alt sein. Diese Fotos sind echt ein Fall für das Jugendamt. Auf allen sitze ich auf dem Sofa, mal habe ich bemalte Lippen und Clips 9


an den Ohren, mal eine Unterhose als Mütze auf dem Kopf (von wem die wohl war, von meiner Mutter oder von der Mireia-Babysitterin?); und auf dem dritten, dem schrägsten von allen, habe ich nur einen sehr süßen rosa Body an, und auf meinem Schoß liegt eine Flasche Jim Beam, als ob ich ein Alkoholikerbaby wäre, das mit harten Getränken aufgezogen wurde. Versteht ihr jetzt, was ich meine? Solche Geheimnisse sind das. Obwohl die Fotos selbst eigentlich nicht geheim sind, ich bin mir sicher, dass sie meiner Mutter irgendwann mal unter die Finger gekommen sind. Aber ich weiß, wenn sie über all das genauer Bescheid wüsste, würde sie ein zu schlechtes Gewissen bekommen, zu viele Schuldgefühle. Bis ich elf oder zwölf Jahre alt war, machte ich fast jede Nacht ins Bett. Ich weiß nicht, wie ich das wieder loswurde, vielleicht fragte meine Mutter irgendjemanden im Krankenhaus um Rat und bekam dort Hilfe. Psychologische Hilfe, meine ich, denn es war ja kein physisches Problem, ich war nicht krank oder so. Es war eher eine Sache im Kopf. Später, als meine Mutter die Arbeit in der Parfümerie bekam, wurde alles besser. Da hatte sie dann akzeptablere Arbeitszeiten und musste nicht mehr so oft den Babysitter bestellen. Aber natürlich war ich da auch schon größer und brauchte sie nicht mehr so sehr. Oder brauchte sie vielleicht auf eine andere Art. Bloß die Chance, als kleines Kind mit ihrem Atem am Ohr einzuschlafen, mit dem eines Erwachsenen, der dich beschützt, wenn du vom Schlaf überwältigt wirst, dich im Arm hält und dir Sicherheit gibt, mit der Anwesenheit 10


von jemandem, der dich gegen alle Ameisen der Welt verteidigt, war ein für alle Mal futsch, und das Radio neben dem Bett hatte als Gesellschaft nicht ausgereicht. Eltern sind komisch, manchmal ist es, als würden sie rein gar nichts verstehen. Man musste wirklich nicht besonders schlau sein, um zu merken, wie schwer es für meine Mutter war, ganz allein mit einer kleinen Tochter klarzukommen. Okay, okay, sie war das Letzte von vier Kindern, und als sie zur Welt kam, waren ihre Eltern schon älter und konnten sich nicht mehr mit so viel Elan um sie kümmern. Aber als sie dann so da stand (mit mir und ohne einen greifbaren Vater, meine ich), bekamen es anscheinend alle mit der Angst zu tun und waren wie gelähmt. Oder sie waren einfach riesengroße Egoisten, die so taten, als wüssten sie nicht, was Sache ist. »Ach, Carme, die ist stark, die schafft das schon« – so oder so ähnlich hieß es immer. Und was noch komischer ist: Plötzlich kam das schlechte Gewissen, oder was immer es war, als hätten sich alle abgesprochen. Eines schönen Tages rief Martí, der große Bruder meiner Mutter, an und fragte sie, ob sie nicht vielleicht umziehen wolle. Wir wohnten damals in der Carrer Violant d’Hongria, beim Bahnhof Sants, in einer miesen, düsteren Miniwohnung, die noch dazu völlig überteuert war. Martí hatte einen tollen Job bei Rentokill, einer Rattenvertilgungsfirma, die in Zügen, U-Bahnen und so weiter tätig war, und er hatte sich eine neue Wohnung gekauft und bot meiner Mutter die alte zu einem günstigen Mietpreis an. Zur gleichen Zeit erwachten auch meine Großeltern aus ihrer langen, unerklärlichen Le11


thargie und fragten ihre Tochter, ob sie nicht vielleicht finanzielle Hilfe brauchen könnte, um meine Ausbildung zu finanzieren und so. Meine Mutter nahm das Angebot von Martí an, auch, weil ich damals gerade aufs Gymnasium wechseln sollte. Aber ihren Eltern sagte sie, dass sie reichlich spät dran waren und sich das Geld sonst wohin stecken könnten, sie würde sich schon melden, wenn sie mal wirklich was brauchte. Also zogen wir nach Gràcia, in die Carrer Mozart. Und ich kam auf ein Gymnasium, in dem ganz schön versnobte Leute herumliefen. Siebte, achte, neunte und zehnte Klasse: Alles prima, ich kann nicht klagen. Und dass ich jetzt so ein Wahnsinnstempo draufhabe und einfach mehrere Jahre überspringe, liegt daran, dass ich darüber überhaupt nicht reden will; das ist nicht der Zeitabschnitt, um den es geht. Es gibt bloß zu sagen, dass ich mich im Gegensatz zu den meisten meiner Freundinnen gut mit meiner Mutter verstand. Vielleicht, weil ich sie jetzt ein bisschen zu sehen bekam, wir verbrachten mehr Zeit miteinander, und das mochte ich. Sie war auch lockerer drauf – der Job in der Parfümerie war ideal für sie. Die Besitzerin hatte sie im Krankenhaus kennen gelernt; sie war wegen irgendeiner Operation dort gewesen und hatte sich sofort prima mit meiner Mutter verstanden und ihr dann vorgeschlagen, für sie zu arbeiten. Mit der Zeit war meine Mutter zu einer unentbehrlichen Hilfe geworden, und Senyora Rosa, so hieß die Besitzerin, vertraute ihr voll und ganz und ließ ihr viel Spielraum. 12


»Deine Mutter ist ja total jung, Eli«, sagten meine Freundinnen, und ich dachte, wenn sie sie ein paar Jahre früher kennen gelernt hätten, als sie immer hundemüde war und diesen leidenden Blick hatte, wenn sie sie damals kennen gelernt hätten, dann würden sie das wohl kaum sagen. Doch die Veränderung war atemberaubend: Meine Mutter kam mit angemalten Lippen und nach teurem Parfüm duftend aus der Parfümerie in der Rambla de Catalunya. Das waren wohl Gratisproben für die Kundschaft. »Willst du nicht auch ein Parfüm, Eli? Es gibt auch welche für junge Mädchen.« – »Vergiss es, Mama«, sagte ich und zog ein Gesicht. Aber man könnte sagen, dass sich der Generationenkonflikt und meine Aufmüpfigkeit auf solche Kleinigkeiten beschränkten. Manchmal gab es auch geheimnisvolle Anrufe, meine Mutter telefonierte dann ganz leise, und wenn es irgendwie ging, verschwand sie mit dem schnurlosen Telefon oder dem Handy in ihrem Zimmer. Danach teilte sie mir mit einem kleinen verschwörerischen Lächeln mit, dass sie abends noch ausgehen würde. Ich fragte nicht, wohin sie ging und mit wem, und sie sagte es mir auch nicht. Sie hatte wohl Verehrer und Affären, aber nach Hause mitgebracht hat sie die eigentlich nie. Wahrscheinlich war ihr das unangenehm, wegen mir, weil ich da war, meine ich. Aber wer weiß, was sie ihnen erzählte; vielleicht sagte sie ihnen ja gar nicht, dass sie eine Tochter hatte. Ich habe von meinen Freundinnen erzählt: alles Mädchen. Und was war mit den Jungs? Gab es die nicht? Doch, klar – aber ich war ein ziemlicher Spätzünder. Ich 13


weiß nicht, wieso, das ist wohl einfach bei jedem anders. Ich hatte Freundinnen, die schon seit Jahren total abgingen, aber ich hingegen, die als eine der Ersten die Regel bekommen hatte, mit meinen Oberschenkeln, meinem Hintern, meinem Busen, alles mehr als bereit, war erst spät mit dem Herzen dabei, mit dem Herzen oder dem Unterleib, wie man’s nimmt. Und das ist, wenn ich’s mir recht überlege, ein Glück, denn sonst wäre die Katastrophe noch viel schlimmer ausgefallen. »Die Katastrophe«, so hat es meine Mutter getauft. Mit dieser Stimme einer leidenden Muttergottes seufzte sie: »Was für eine Katastrophe.« Immer wieder sagte sie es. »Wer hätte schon mit so einer Katastrophe gerechnet.« Dieses ganze Gejammer war wirklich lächerlich, besonders, wenn es von ihr kam. War ihr eigentlich bewusst, was sie da sagte? Mich nervte dieses Gerede von einer Katastrophe; das klang, als ob jemand gestorben wäre oder so. Okay, scheiße war’s natürlich schon, absolute Scheiße. Aber was soll’s, man kann sich’s nicht aussuchen.

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