Jan Wagner, Die Sandale des Propheten. LESEPROBE

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Jan Wagner Die Sandale des Propheten Beil채ufige Prosa

Berlin Verlag



Inhalt Prolog : Hundstage Eins : Vom Pudding

Die Sandale des Propheten  17 Ins Unbekannte. Über neue Gedichte  22 Lob der Unschärfe  32 Avernische Vögel. Über Fakten und Poesie  37 Das Wie in der Welt  56 Vom Rotstift  62 Vom Pudding. Formen junger Lyrik  64 Das Stück Eis auf dem Ofen. Ein Gespräch  86 Zwei: Hirn und Leierkasten

Schwarze Schafe. Über Ernst Meister  97 Seidenkleider aus Würmern. Über Wallace Stevens  102 Merlinszeit. Über Wilhelm Lehmann  113 Hirn und Leierkasten. Von Benn zu Williams und zurück  123 Poker am offenen Sarg. Über Matthew Sweeney  140 Der Camerado von Mannahatta. Über Walt Whitman  147 Die Epiphanie im Scheinwerferlicht. Über John Burnside  157


Nichts als Worte. Über Simon Armitage  169 Karrengäule im Galopp. Über Becketts Chamfort  181 Die Maske und der Spiegel. Über Georg Heym  184 Drei: Notizen vom Punkt jenseits der Karte

Vorstellung für eine Akademie  209 Finnisches Leuchten  214 Manntje, Manntje  221 Hubble Gubble  223 Notizen vom Punkt jenseits der Karte  227 Anmerkungen zu den Texten  237


Prolog: Hundstage



Hundstage Erst sind es nur wenige, die sich leicht übersehen lassen. Man vergißt sie. Dann aber tauchen sie überall auf, nehmen die Bürgersteige und Straßenecken ein, besetzen Cafés und Plätze, verstellen die Sicht auf die Brunnen und beginnen das Bild der Altstadt zu prägen: hier der wohlbeleibte und in edlen Zwirn gewandete Signore mit seiner weißen Quadriga aus Königspudeln, dort die vor dem Slowakischen Nationalmuseum auf und ab trippelnde Diva mit einer erlesenen Auswahl von Windspielen. Am St.-Martins-Dom treibt ein französisches Pärchen eine Herde von Milchkühen vorbei, nein: es sind Dänische Doggen, schulterhoch. Eine Dame, sie könnte aus Spanien oder Südamerika eingeschwebt sein, feudelt das historische Kopfsteinpflaster vor der Jesuitenkirche mit ihrem Pekinesen, und unterm Michaelertor, gleich neben der historischen Apotheke mit dem roten Krebs im Schild, trifft ein Rudel von russischen Dachshunden auf ein Sextett Rehpinscher aus Österreich. Vor dem Geburtshaus des Komponisten Johann Nepomuk Hummel tummeln sich Chow-Chows und Möpse, und so geht es weiter: Barsois, Neufundländer und Bernhardiner, bis man kaum noch einen Schritt tun kann, ohne über eine Leine oder ein Fell zu stolpern, über Zwergspaniel, Spitze, Rottweiler und Leonberger, bis die Luft Bratislavas nicht länger erfüllt ist vom Klang des Slowakischen, sondern vom freudigen Bellen der Collies und dem herrischen Kläffen 9


der Setter, vom Japsen und Winseln einer Invasion von Vierbei­ nern. Natürlich hätten uns die Plakate an den Bauzäunen und Laternenpfählen schon vorher auffallen können, bunt genug sind sie. Immerhin nehmen nun auch wir mit etwas Verspätung wahr, daß die Stadt an der Donau an diesem Wochenende keineswegs nur das Poesiefestival Ars Poetica beherbergt; auch für die Dreizehnte Internationale Hundeschau hat Bratislava Pforten und Messehallen geöffnet. Niemand aus unserer Gruppe, die ebenfalls international ist, hat normalerweise mit Hunden zu tun, keinem und keiner käme es an einem normalen Wochenende in seiner Heimatstadt in den Sinn, ein paar freie Stunden der »World Dog Show« zu widmen, doch es bleibt etwas Zeit bis zu unserer nächsten Veranstaltung, es regnet sowieso seit dem frühen Vormittag ununterbrochen, wir sind aufgeräumt und offen genug für eine Schnapsidee – und wer weiß, ob man es nicht später bereuen wird, eine solche Gelegenheit versäumt zu haben. So überqueren wir auf der Neuen Brücke die Donau, gelangen ans südliche Ufer und betreten alsbald mit Aberhunderten von Hundefreunden das Messegelände. Der Andrang ist erschütternd: Ganze Familien, vom Großvater bis zum Neugeborenen im Kinderwagen, haben sich aufgemacht, um dabei­ sein zu können, ganze Reisegruppen, Busladungen von Connaisseuren stellen sich um Eintrittskarten an, drängen durch die Schranken und Drehkreuze zum weit aufgerissenen Tor der ersten Halle, durch den warmen Regen und den Geruch von Fett und Fleisch, der von all den Freßbuden aufsteigt, die einen dichten Ring um die Zweckgebäude bilden, von den Ständen, an denen alles verkauft wird, was sich grillen, braten oder frittieren läßt. Einen Verkäufer von Hot Dogs, das allerdings fällt auf, würde man vergebens suchen. 10


Als wir durch das Tor treten, sind wir drauf und dran, auf der Stelle wieder umzudrehen – oder andernfalls alle Hoffnung fahren zu lassen: Nicht nur der üble Gestank, dessen Grundkomponenten zwar nicht Pech und Schwefel, dafür aber nasses Fell und Besucherschweiß sein müssen, nicht nur die schier unerträgliche Schwüle und ein geradezu eschatologisches Gewimmel lassen an berühmte Deckenfresken und an Szenen aus Dantes Inferno denken. Als uns nach wenigen Schritten ein Rudel schneeweißer und aufgrund ihrer unschuldigen Farbe noch abscheulicher anzuschauender, wahrhaftig furchteinflößender Dogos Argentinos umspringt, Prachtbestien »mit schmutzgem, fettgem Bart und Augenhöhlen, / Rot angelaufen, dickem Bauch und Kralle«, ahnen wir, welche Art Tier dem Florentiner beim Schreiben seines sechsten Gesangs als Modell zur Verfügung gestanden haben muß: Als Cerberus, der Wurm, uns da entdeckt’, Fletscht er die Zähn und öffnete den Rachen; Kein Glied war da an ihm, das nicht gebleckt. Mein Führer, flink, die Hände aufzumachen, Nahm Erde auf, und was die Hand nur hält, Warf er hinein ins gierige Maul des Drachen.

Was hier aus den Händen stolzer Besitzer in die Schlünde fliegt, sind, wenn wir es richtig sehen, vor allem Hundekuchen. Es herrscht das Belohnungsprinzip, das sich an den mit blauem Turnierboden ausgelegten Freiflächen beobachten läßt, um die sich an den Knotenpunkten jeder Halle – es gibt immerhin vier davon, und alle sind riesig – die Neugierigen sammeln. Hier gibt es etwas zu gewinnen, soviel ist klar, es wird prämiert, man sieht es an den blaugoldenen Schleifen, hört es auch hin und 11


wieder quer durch die dicke Luft, wenn ein überglücklicher Züchter, eine zu Tränen gerührte Besitzerin aufschreit, wenn plötzlich Applaus aufbrandet – aber nach welchen Kriterien all das vonstatten geht, ist für den Uneingeweihten nicht ohne weiteres erkennbar. Ein korrekt gekleideter Punktrichter ist die unangefochtene Autorität in dieser Arena, das steht fest; zu ihm blickt man ängstlich und erwartungsvoll hin, wenn er die Läufe der Hunde befühlt, ihre Brust, wenn er Maß nimmt – und schließlich wieder und wieder das Signal gibt, das all die Herrchen und Frauchen, die sich ihrerseits in ihre besten Anzüge und Kostüme bemüht haben, im Kreis laufen läßt, einer nach dem anderen, den Hund an der kurzen Leine neben sich führend und im Laufen ermahnend, ermunternd, während der strenge Blick des Richters auf den Vierbeinern ruht. Irgend jemand scheidet nach jeder dieser Übungen aus, aus welchem Grund auch immer, und ihm oder ihr gilt das ganze Mitgefühl der Umstehenden, die erst den Hund, dann den Besitzer streicheln oder beiden einen ermunternden Klaps geben. Anderswo ist der Wettbewerb nachvollziehbarer, und auch die Bemühungen der Dobermänner, die einem Ball hinterherjagen, begreifen wir. Weil aber alle Vertreter einer Hundeart gleich aussehen, zumindest für unsere ungeschulten Augen, halten wir uns dankbar an den Namen fest, die auch in dem kostenlosen und in hohen Stapeln ausliegenden Katalog aufgeführt sind, dessen selbstbewußtes Motto, »Join the Best«, ich zunächst fälschlich als »Join the Beast« lese. Die Lust der Hundenarren an seltsamen Namen ist grenzenlos. Daß ein Bullterrier auf Bulldozer Bill oder ein irritierend kleinwüchsiges Wesen auf Napoleon hört, ist verständlich, genau wie Mighty Mouse für einen weiteren Winzling oder Absolute Bullet Proof, Gladiator und Zombi für drei sagenhaft aggressiv wirkende Zuchtresultate. Daneben taucht auch allerlei Vertrautes auf, Kleopatra 12


und Jules Verne, Tristan und Midas, Van Gogh, Sultan und sogar Che Guevara nebst Buddha. Wer aber hat jenes Wesen mit den Fledermausohren auf den Namen Estella Golden Lady getauft, wer ruft nach Honey Tao und meint die bemitleidenswerte Kreuzung aus Zuckerwatte und Wischmop? Wer läßt Hotchocolate Heart of Sugar und Midnight Eclipse durch Ringe springen, pfeift nach Happy Bavarian Sergeant Brown und Velvet Ambition? Zugeben muß man aber, daß der Bulldogge mit dem Ausdruck unendlicher Ratlosigkeit auf ihrem breiten Gesicht kein besserer Name hätte zufallen können – It’s Probably Me, so stellt der Katalog sie vor. Je länger wir durch die Hallen gehen, uns durch die engen Gänge zwängen, desto bewußter wird uns, daß tatsächlich die ganze Welt hier versammelt ist, man die Sprachen aller Länder, aller Kontinente vernehmen kann, mehr noch: Für alle Anwesenden ist dies hier die Welt – eine seltsame, eine verwirrende Parallelwelt, die ein unergründlicher Gott sich ausgedacht haben muß und an die wir uns doch schon ein bißchen gewöhnt haben in den zwei Stunden unseres Aufenthalts. Längst nehmen wir den Geruch und den Lärm kaum noch wahr, lassen uns vorbeischieben an Schoßhunden in selbstgestrickten rosafarbenen Überziehern, an Ständen mit Pokalen und Plastiktütenspendern für all das, was anfällt, an Käfigen, aus denen es plötzlich bellt, wenn man ihnen zu nahe kommt. »My Shar-Pei is smarter than your honor student!« versichert das Schild an einem von ihnen. Der Hundefotograf und seine Assistentin haben immer geöffnet und verewigen Sie und ihren Liebling vor einem Hintergrund Ihrer Wahl. Ein Pudel mit einem Schnurrbart wie ein Zenmeister betrachtet uns überlegen, sein weiser Blick, wir spüren es, folgt uns noch lange. Doch wir müßten selbst dann aufbrechen, wenn wir noch nicht mit den Kräften am Ende wären, immerhin haben auch 13


uns Verpflichtungen nach Bratislava geführt. So machen wir uns auf den Weg zurück Richtung Halle Eins. Hier ist es noch heißer geworden, noch voller, es ist schockierend, es ist fremdartig. Und doch ist da plötzlich dieser winzige Moment des Verstehens, glaubt man, fast ergriffen, einem Verwandten, einem Bruder zu begegnen, als eine von uns zum Abschluß jenen prächtigen und bis zur Perfektion gestriegelten Riesenschnauzer fotografieren möchte und sein Besitzer mit Anmut und Bescheidenheit beiseite tritt, in seinem Gesicht das feine Lächeln dessen, der weiß, daß es gut ist, daß es gelungen ist, der den Betrachtern die Frucht all seiner Mühen mit der freundlichen Geste des Schöpfers überläßt: Seht, das Werk ist fertig, erfreut euch daran.

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Eins: Vom Pudding



Die Sandale Des Propheten Wann immer sich die Frage nach dem Einfluß stellt, den Gedichte heutzutage auf den Gang der Dinge haben können oder nicht, kommen mir zwei Begebenheiten in den Sinn. Beide mögen weniger bedeutsam sein, als ich es mir wünsche; trotzdem erscheinen sie mir erzählenswert. Ich denke zunächst an jenen Tag im Mai, an dem in Lviv, dem ehemaligen Lemberg im Westen der Ukraine, eine Tagung zu Ende ging und ich mich auf die Rück­ reise machte. Der kleine Flughafen von Lviv liegt weit außerhalb der Altstadt, die wie eine versunkene Karavelle zwischen den Hügeln ruht, und erinnert eher an ein etwas heruntergekommenes, doch noch immer stolzes Bahnhofsgebäude aus der Kaiserzeit. Überraschend für den an die funktionale Anonymität der Flughäfen des Westens gewöhnten Reisenden ist auch, daß es nur einen Schalter gibt, nur eine Schlange, in die man sich einzureihen hat, wenn man einen der wenigen Flüge erreichen will. Weder Gepäckaufgabe noch Förderbänder gibt es, so daß man seinen Koffer selbst durch die Kontrollpunkte tragen muß, um sie später auf den Gepäckwagen legen zu können; vorbei an der Flugscheinkontrolle, den Milizen mit ihren grünen Militärmützen, groß wie Pokertische, dann durch die Sicherheitsschleuse mit ihren Durchleuchtungsapparaturen. Genau hier endete meine Reise fürs erste, denn der mürrische Zöllner verlangte, das Innere meines Koffers zu sehen. In der Annahme, er habe auf dem Röntgenbild die Flasche mit ukrainischem Wodka 17


entdeckt, setzte ich zu Erklärungen an, doch er sagte »No« und »that, that« und deutete herrisch auf die Plastiktüte, die meine drei bis dahin publizierten Gedichtbände enthielt. Eine knappe Viertelstunde lang blätterte er nun mal in diesem, mal in jenem Buch, fixierte erst die Seite, dann wieder mich, der ich erst mein Flugzeug zu verpassen, dann weit Schlimmeres befürchtete, blätterte weiter, begutachtete mit finsterer Gründlichkeit Gedicht um Gedicht, Zeile um Zeile. Und so offensichtlich es war, daß der Mann nicht ein Wort Deutsch sprach, so deutlich spürte ich doch, daß ich eine hochbrisante, umstürzlerische Ware mit mir führte, und ich schwebte, getragen von dieser Gewißheit, zu meinem Sitz in der Fokker und auf ihm von Lviv über Warschau bis zurück nach Berlin. Die zweite Geschichte trug sich in Griechenland zu. Mit zwei Malern und einem weiteren Dichter verbrachte ich eine Woche bei Kyparissia in Messenien auf dem Peloponnes. Unser Projekt war es, uns den uralten Olivenbäumen, die in weitläufigen Hainen längs der Küste wachsen, sich vielmehr dem ionischen Boden zu entwinden scheinen, mit den jeweiligen Mitteln zu nähern, die Maler mit Kaltnadelarbeiten, wir mit Worten. Ich hatte mir vorgenommen, einen Zyklus von Haikus zu schreiben, weil mir diese Form gebunden genug schien, dem Ganzen ersten Halt zu geben, und in ihrer Kürze offen noch für flüchtigste ­Impressionen. Allerdings hatte ich geschummelt, nämlich schon vor unserer Reise drei oder vier Siebzehnsilber geschrieben, auf gut Glück sozusagen und ohne die Umgebung, ohne auch nur ­irgend etwas gesehen zu haben – und natürlich ohne den anderen davon zu erzählen. Der folgende war einer davon: sagt: welcher prophet verlor die sandale dort, aus der schon moos wächst? 18


Am vierten Tag unseres Aufenthaltes bat R., einer der beiden Maler, uns Schreibende, erste Gedichtentwürfe sehen zu dürfen, um sie in seine Kupferplatten einzuarbeiten – eine Bitte, der wir gerne nachkamen. Wir fuhren anschließend erneut zum Hain, um jeder für sich spazierenzugehen und sich an einem Platz seiner Wahl auf die eigene Arbeit zu konzentrieren, und sahen uns erst bei Sonnenuntergang wieder, als einer nach dem anderen beim Auto eintraf. »Du«, sagte R. und schlug mir auf die Schulter, »ich habe eben deine Sandale gesehen.« Dies nun war ein Fund, der, nachdem ich die erste Überraschung verarbeitet hatte, einige überaus spannende poetologische Fragen aufwarf. Lag die Sandale nur deshalb dort im Hain, weil ich sie zuvor an meinem Tisch in Berlin beschrieben hatte? Und: Hätte es sie überhaupt gegeben, wenn ich nicht der Reise vorgegriffen und jene Zeilen aufs Papier geworfen hätte? Die meisten Menschen werden sich einig sein, daß die Wirkung der Poesie dieser Tage eher gering ist. Dafür sorgt schon die überschaubare Zahl ihrer Leser. Wer eine Botschaft hat, ein politisches Anliegen, täte besser daran, in den Keller zu gehen und die Druckerpresse anzuschmeißen, denn jedes Pamphlet findet größere Verbreitung als ein Gedichtband. Und selbst wenn man die Verse auf Flugblättern abwürfe: Schon die Tatsache, daß etwas zu gebundener Sprache verdichtet ist, dürfte Freund und Feind gleichermaßen abschrecken. Auch ich habe von Pablo Nerudas Lesungen vor Abertausenden von Bergarbeitern gehört, und ich weiß, daß es in jedem Land Zeiten gibt, in denen Poesie und allgemeines Interesse sich verbünden können und müssen. Doch zumindest in dem Kulturkreis, in dem ich tätig bin, sieht man das Dichten gemeinhin als eine antiquierte Tätigkeit ohne jeden Bezug zum eigenen, alltäglichen Leben und betrachtet die Lyrik im besten Fall als einen liebenswerten Anachronismus, den sich exaltierte Diplomaten 19


aus altem Adel oder labile Persönlichkeiten unter therapeutischer Aufsicht leisten. Dennoch weigere ich mich, den Unkenrufern zuzustimmen, den Schwarzmalern, setze aber bescheidener an. Nein, ein Gedicht wird nicht den Hunger beseitigen, es macht in der Regel nicht einmal denjenigen satt, der es schreibt. Nein, ein Gedicht wird nicht die Welt verändern – dafür aber ist es selbst schon eine aufs erstaunlichste veränderte Welt, die man betreten kann oder auch nicht. Wer es unterläßt, verharrt im Hergebrachten. Wer den Schritt aber wagt, wird reich belohnt. Auf wenigen Quadratzentimetern bedruckten Papiers wird er einen unermeßlichen Raum entdecken, in dem zeitlich, geographisch und semantisch weit Auseinanderliegendes in Einklang, ins Klingen gerät, in dem widersprüchlichste Dinge und Paradoxien zusammenfinden. Die Lyrik ist das trotzige Dennoch, das seine Kraft gerade aus der Tatsache bezieht, daß es nicht in die heutige Welt zu passen scheint, daß es unzeitgemäß ist – wobei man berechtigterweise die Frage stellen könnte, ob die Lyrik nicht zu jeder Zeit und immer schon unzeitgemäß war insofern, als sie sich nie dem Geist ihrer Zeit ergab, nie glatt in ihr aufging, ihr manchmal vielleicht gar voraus war. Fest steht: Sie läßt sich nicht unterbringen in einem reinen Kosten-Nutzen-Denken. Sie verweigert sich dem Warencharakter, dem Warenstrom, sie ist schlechthin unkonsumierbar und schon dadurch ein politischer Akt, selbst da, wo sie sich nicht vordergründig politisch gibt. Das Gedicht ist auf herrliche Art und Weise vollkommen nutzlos – so nutzlos wie ein Lachen nutzlos ist, ein jähes Glücks- und Hochgefühl, ein absichtsloses Spiel. Hier darf man an ein paar Worte W. H. Audens denken. Der schrieb einmal, daß die Poesie das Management an etwas erinnere, an das Manager stets erinnert werden sollten, daran nämlich, daß 20


die von ihnen Gemanagten Leute mit Gesichtern seien, nicht anonyme Nummern, daß im homo laborans immer auch ein homo ludens stecke. Es läßt sich also mit Fug und Recht behaupten, daß das Gedicht schon durch sein bloßes Dasein subversiv ist – indem es sich behauptet. Möglicherweise hatte der Grenzbeamte von Lviv allen Grund, mißtrauisch zu sein, als er in drei deutschen Gedichtbänden blätterte. Vielleicht war es nicht die fremde Sprache, die ihm verdächtig erschien, vielleicht erinnerte er sich vielmehr an die Zeiten des Kommunismus, in denen im Samisdat weitergereichte Gedichte tatsächlich als gefährlich galten, weil sie winzige Kapseln voller Freiheit waren. Denn das sind sie heute noch, selbst wenn das in einer freien Gesellschaft weniger sichtbar sein mag. Auch da aber, nein, gerade da, wo sowohl Privilegien als auch Einschränkungen kaum noch wahrgenommen werden, wo das Außergewöhnliche zur Selbstverständlichkeit und schließlich zur traurigen Gewohnheit wird, tut man gut daran, sich der unbequemen Freiheit, dem oft schwierigen Spiel der Poesie zu öffnen. Ein Gedicht nimmt sich das Recht, die Dinge so zu denken und zu sehen, wie sie nie zuvor bedacht und gesehen worden sind, und lädt den Leser, seinen Partner, dazu ein, es ihm gleichzutun. Es verhilft dem geflissentlich Übersehenen zu seiner verdienten Aufmerksamkeit und läßt das nur scheinbar Banale leuchten oder, in den Worten von Shelleys Defence of Poetry, »lifts the veil from the hidden beauty of the world, and makes familiar objects be as if they were not familiar«. Indem es das tut, fügt es der Welt gleichzeitig etwas hinzu. Mit einer ausgelatschten Leder­ sandale fängt es an, schimmlig, moosbewachsen, vollkommen unbrauchbar. Aber damit hört es nicht auf.

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Ins Unbekannte Über neue Gedichte Im Jahre 1820 erschien in England ein Essay des Schriftstellers Thomas Love Peacock, der mit The Four Ages of Poetry betitelt war und mit einer erstaunlichen Hypothese aufwartete: Die gesamte Dichtung, von ihren Anfängen bis zum Ende des Römischen Reiches, aber auch die danach, bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein verfaßte, lasse sich in vier Zeitalter unterteilen, so Peacock. Dem primitiven eisernen oder bardischen, dem er nach dem Untergang Roms die fahrenden Sänger und Troubadoure zurechnet, folge das Goldene Zeitalter, als dessen hervorragendste Protagonisten er Homer und, für die Neuzeit, Shakespeare anführt. Das Silberne Zeitalter imitiere und variiere die goldene Ära, sei gerade noch originell genug, um Eigenes, Neuartiges hervorzubringen, während das Messingzeitalter schließlich ein bloßes Zerrbild der ursprünglichen Dichtkunst sei, ein sentimentaler Abklatsch ohne jede Eleganz und Kraft. Peacock betrieb den gewaltigen theoretischen Aufwand seiner Abhandlung allerdings mit einem wenig rühm­ lichen Ziel. Zum einen war ihm daran gelegen, der Verskunst seiner eigenen Zeit – dem zweiten Messingzeitalter, wie er es sah –, der Lyrik eines William Wordsworth, eines Samuel Taylor Coleridge und eines Lord Byron, um nur einige der wichtigsten Vertreter der englischen Romantik zu nennen, eine so radikale wie gnadenlose Abfuhr zu erteilen. Zum an22


deren, und darin gipfelte die Streitschrift, zielte der Autor, in dessen Zweitnamen kurioserweise die Liebe und in dessen Nachnamen der Pfau auftaucht, auf die Verunglimpfung der Dichtung als solche ab: »Poesie war die geistige Rassel, die in der Kindheit der ­Zivilisation den Intellekt aufgeweckt hat«, schreibt er, wenig liebevoll und von der Eitelkeit der Gattung Pavoninae keineswegs frei, und spricht der Poesie rundheraus jeglichen Nutzen ab. Es sei an der Zeit, daß der vernünftige, gereifte Mensch sich dieses Kinderspielzeugs endlich entledige. Soweit Peacock, dessen Essay längst in Staub und Dunkelheit versunken wäre, wenn er nicht einen ihm bekannten Poeten, Percy Bysshe Shelley, dazu angestachelt hätte, eine gründliche und gültige Entgegnung zu verfassen – die legendäre Defense of Poetry. Und heute? Ist die Verteidigung der Poesie noch länger – oder vielleicht wieder – notwendig? Die Gedichte Shelleys mögen unvergänglich, der Name Peacocks hingegen fast vergessen sein – doch seine Vorbehalte, das Peacocksche an sich, hat die Vier Zeitalter der Poesie problemlos überdauert. Der Einwand, daß keine goldene Hochzeit, kein Dienstjubiläum und keine öffentliche Festtagsrede ohne Verse auskommt, trägt nur kurz und bestärkt letztlich den Verdacht. Im Grunde nämlich ist die Poesie – außerhalb des Deutschunterrichts natürlich – nur in zwei Formen allgemein akzeptiert: als Lobgesang und als Therapeutikum. Ihren Nutzwert hat sie folglich als rhetorisches Beiwerk, als feierlicher Schmuck, oder sie dient der Bewältigung innerer Konflikte, wie sie vor allem die Pubertät kennzeichnen. Genau dies ist auch der Grund dafür, daß sich bei Gesprächspartnern, sobald die Rede auf Dichtung kommt oder man sich, behüte, als Lyriker entpuppt, ein ungläubiges Staunen einstellt. Marginalisiert sind auch Glasbläser, Lamazüchter und Triangelvirtuosen, und doch wird keiner von ihnen mit einer ähnlichen Reaktion rechnen müssen. In den Augen ihrer 23


Verächter, die also aus gutem Grund nach ihrer Schulzeit nichts mehr mit Poesie zu tun haben wollen, ist ein Gedicht, wenn es nicht durch den offiziellen Akt legitimiert ist, ein tunlichst in der Schublade zu verbergendes Dokument eines Augenblicks der Schwäche oder aber, einmal an die Öffentlichkeit gelangt – und das vielleicht gar aus freien Stücken –, so beschämend wie ein Tränenausbruch vor der Betriebsversammlung. So gesehen ist Peacocks Schrift heute vielleicht aktueller denn je. Die Poesie ist keine harte Münze, jedenfalls nicht in den Augen derer, die sie im Grunde belächeln, weil sie dem harten Biss dessen, dem die Realität unbedenklich ist, nichts entgegenzusetzen scheint. Aus dieser Perspektive muß die Poesie immer als Kinderrassel erscheinen. Oder anders und in der Terminologie Thomas Love Peacocks gesagt: Was die breite Rezeption von Lyrik angeht, leben wir nach wie vor in einem Zeitalter aus Messing – während für die Lyriker das Goldene Zeitalter immer unmittelbar bevorsteht, ja gerade in diesem Augenblick anzubrechen scheint. »Wir waren eine ›neue Generation‹«, schreibt der englische Dichter Stephen Spender in seiner Autobiographie, »aber es dauerte eine Weile, bis mir der Sinn dieses Wortes aufging. Es besagte, daß wir Jüngeren unter ganz anderen Verhältnissen zu schaffen begonnen hatten als unsere unmittelbaren Vorgänger, und daß sich diese Erkenntnis in unserem Werk spiegelte. ›Neue Generation‹ – das heißt, daß jede Wendezeit ihre eigenen jungen Talente auf den Plan bringt, deren Einstellung zu den veränderten Zuständen ihr Schaffen von der vorigen Generation unterscheidet.« Tatsächlich kommt es ja in gewissen Abständen, mal in diesem Land, mal in einem anderen, dazu, daß der Dichtung, allen Unkenrufen zum Trotz, besondere Aufmerksamkeit und besonderes Gewicht zuteil wird. Man wird, 24


im Falle Spenders, an die dreißiger Jahre in England denken, als die Lyrik, insbesondere die W. H. Audens und der sogenannten Auden group, zu der neben Spender auch Louis MacNeice und Cecil Day-Lewis gehörten, zur dominierenden Gattung wurde. Man könnte an die siebziger Jahre erinnern, in denen Nordirland nicht nur den Nobelpreisträger Seamus Heaney, sondern neben ihm eine ganze Reihe weiterer außergewöhnlicher Dichter hervorbrachte, oder sich schlicht vergangener literaturhistorischer Epochen wie des Frühexpressionismus, des Barock oder der Romantik entsinnen. Obwohl es als Berufsoptimismus gesehen werden könnte, obwohl es sich also, wenn Dichter und Liebhaber von Gedichten dieser Tage von einer beginnenden Lyrikepoche sprechen, in den Augen mancher um den plumpen Versuch einer self-fulfilling prophecy handeln mag, und auch, wenn der Begriff der »neuen Generation« umstritten ist: Es ist unübersehbar, daß die poetische Landschaft in den letzten Jahren aufs schönste in Bewegung gekommen ist, daß sich eine verblüffend große Zahl jüngerer Lyrikerinnen und Lyriker, die meist in den siebziger, bisweilen auch erst in den achtziger Jahren geboren wurden, zu Wort gemeldet haben und daß die Häufung gelungener, ja aufregender Gedichte erstaunlich ist. Was sich hier manifestiert, ohne daß es je ein Manifest, eine Gründungsurkunde gegeben hätte, ist in sich durchaus widersprüchlich und schwer auf einen Nenner zu bringen. Das war allerdings weder bei der Gruppe um Auden noch bei den Expressionisten oder den Beatniks anders. Was sich dem Außenstehenden, der nur die plötzliche Häufung von sogenannten Talenten wahrnimmt, als ein Phänomen von einiger Geschlossenheit präsentieren könnte – und deshalb zu Schlagworten wie Generation, Gruppe oder gar Schule reizt –, setzt sich wie immer aus höchst unterschiedlichen Stimmen und Temperamenten zusammen. Der teilnehmende Beobachter kann sowohl eine Erneuerung 25


der Naturlyrik erkennen wie auch Versuche, das Politische ins Gedicht zurückzutragen – ohne daß sich dies generalisieren läßt und mehr als nur einen Bruchteil der Autoren und der geschriebenen Gedichte betrifft. Tatsächlich findet man in thematischer wie auch in formaler Hinsicht eine solche Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten vor, daß es schwerfällt, die neuere Lyrik auf einen Nenner zu bringen – wenn man das denn wollte. Denn die Vielfalt an interessanten Poetiken, die nebeneinander bestehen können und zumeist friedlich koexistieren, ist eines ihrer Merkmale, macht vielleicht gerade ihren Reiz aus. Woher aber diese Vielfalt der Ansätze? Sie mag daher rühren, daß die beiden klassischen Gegensätze, als die man, etwas vereinfacht gesagt, die experimentelle Lyrik auf der einen und eine eher inhaltsbetonte auf der anderen Seite nennen könnte, sich nicht mehr so radikal, wie es lange Zeit der Fall war, gegenüberstehen, oder besser: daß keine Entscheidung zugunsten der einen Richtung gefällt werden muß, die die andere vollkommen ausschlösse. Die Lehrer, die man sich als Lyriker ja immer selber sucht (und die man über kurz oder lang auch selber wieder loswerden muß, was sich nicht immer ganz einfach gestaltet), diese Lehrer und ihre Poetiken also, die in die eigene einfließen, können höchst widersprüchlichen Traditionen, den verschiedensten Epochen und Sprachräumen entstammen. Es ist auch kein Zufall, daß die Arbeit an Übersetzungen fremdsprachiger Lyrik, nicht, wie einmal geargwöhnt wurde, eingestellt wurde, sondern im Gegenteil für viele eine Grundlage der eigenen Arbeit ist. Eher als mit einem langen Gang, der immer geradeaus führt und stetig breiter und heller wird, um schließlich bei der perfekten Ästhetik anzulangen, läßt sich die Poesie mit einem riesigen und sehr verwinkelten Haus voller Gänge und Zwischenböden vergleichen, in dem sich viele Türen öffnen lassen 26


und in dem die unterschiedlichsten und nach ganz anderem Geschmack eingerichteten Räume eine gemeinsame Wand teilen – wer das Ohr dagegenpreßt, wird überrascht sein, wer auf der anderen Seite auf und ab geht und hustet. Es ist nicht länger eine Glaubenssache, auf welche Schule man sich beruft. Der notwendige und fruchtbare Konflikt zwischen Sprachbehandlung und Inhalt findet weniger in Polemiken und Kontroversen statt (die es natürlich trotzdem gibt), auch nicht in Manifesten verschworener Künstlergruppen, als im einzelnen Dichter, der sich beider Traditionen bewußt ist, und angesichts des nächsten zu schreibenden Gedichts – und immer gibt es ja nur dieses eine, noch zu schreibende Gedicht. Eine Reihe jüngerer Lyriker mag zwar den Prozeß der Formung, den Materialcharakter der Sprache deutlicher sichtbar machen, andere mögen dem Erzählerischen näher sein. Doch so wie das eine niemals im Sinne einer strengen Versuchsanordnung geschieht, bewegt sich das andere nie gänzlich naiv und narrativ von A nach B, ohne von C etwas wissen zu wollen. Über fast die gesamte jüngere Lyrik, egal, ob sie eher zur inhaltsbetonten oder zur sprachbetonten Sprechweise neigt, ließe sich sagen, was Émile Zola einst über den experimentellen Roman bemerkte: Sie bewegt sich du connu à l’inconnu, ins Unbekannte, Unerhörte, Neuartige, wohin jedes gelungene Gedicht zielt, schon immer zielte. Neben der Vielfalt der poetischen Ansätze lassen sich also doch Gemeinsamkeiten festhalten: Es sind die genaue Kenntnis der Tradition, der Traditionen, die technisches Unvermögen und Naivität vermeiden hilft, und die Unverkrampft­heit im Umgang mit einst unvereinbaren Gegensätzen, die zu einer neuen Offenheit und Spielfreude geführt hat. Diese Spielfreude macht sich auch im Umgang mit dem Reim bemerkbar. Mit dem Reim? An dieser Stelle sind ein Füße27


scharren, ein nervöses Hüsteln, eine allgemeine Unruhe und ein Murren hinter vorgehaltener Hand nicht zu überhören – auch wenn es, das sollte festgehalten werden, nicht um eine Rückkehr zur Singbarkeit, zur Sangeslust, zum Volksliedhaften und schulbildend Einprägsamen geht. Auch ist keinesfalls an eine pure Vergnügungslyrik zu denken, muß man junge Salonpoeten vor Augen haben, bei denen zwar jede Zeile und jeder kokette Reim ein sprachliches amuse-geule ist, man aber dennoch mit knurrendem Magen nach Hause geht. Doch obwohl, wie bei traditionellen Formen ganz allgemein, die Gefahr der Vereinnahmung durch Gestrige nicht zu unterschätzen ist (»Endlich wird wieder gereimt!«), wird, so scheint es, verstärkt auf dieses uralte Mittel zurückgegriffen. Daß dabei weniger der herkömmliche und reine Reim, sondern der schier unerschöpfliche Vorrat an unreinen, an überaus unreinen und kaum noch kenntlichen Reimen benutzt wird, eröffnet eine Vielfalt an Möglichkeiten. Hinzu kommt die gestalterische Funktion des Reims: nicht nur als unterlegte, im besten Fall unaufdringliche und vielleicht gar unsichtbare Struktur, sondern auch als kompositorisches Mittel. Zu diesem wird er ja, wenn man ihn nicht als zu erfüllende Vorgabe, als Pflicht, sondern als Assoziationen und Abwege provozierenden, als einen kreativen Störfaktor im Schreibprozeß betrachtet. Wo Lippen mit Lappen korrespondieren und auf Uppsala Obstsalat serviert wird, ist der Weg vom Maskara zum Massaker nicht weit, und wo sich etwa Natur auf Natter reimt, läßt sich gedanklich diskret vom Busen der Natur zur Natter am Busen fortschreiten – und, sieht man genau hin, der spielerische Bruch der Regel just in dem Augenblick ihrer Etablierung beobachten. Ebenso selbstverständlich wie die Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen und vergangenen Reichtum, ob er nun in 28


deutscher oder in einer anderen Sprache vorliegt, ist die Reflexion über das Medium der Poesie, über die Sprache also, ihre Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, über die Etymologie – wenn auch das Nachdenken über die Feinmechanik des Gedichts dem Schreiben vorangeht, jedenfalls in den seltensten Fällen explizit zum Gegenstand des Gedichts selbst wird. All das könnte alten Vorurteilen gegenüber der Lyrik den Boden entziehen: Keineswegs nämlich ist das Gedicht ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, noch ist das Sprechen in Versen ein Verfahren, das dem Bewältigen emotionaler Krisensituationen vorbehalten wäre. Die meisten Gedichte verweigern sich sowohl der für den Leser ermüdenden (wenn auch für den Dichter notwendigen) poetischen Selbstbefragung und -vergewisserung wie auch dem populären Sentimentalitätenhandel und sind selbstbewußt das, was Gedichte im besten Fall immer schon waren: Komplexe sprachliche Kunstwerke. Dieses erneuerte Selbstverständnis erlaubt die Kontaktaufnahme mit der Welt dort draußen, ohne sie einerseits emotional zu mißbrauchen oder sie andererseits nur abzubilden. Während ein neuer Thomas Love Peacock den Nutzen des Gedichts allenfalls in Ausnahmesituationen, in der rhetorischen Feier oder der ­einsamen Gefühlsentladung sähe, bewegt sich das Gedicht seinerseits auf das Alltägliche zu und sucht sich seine Themen überall: in den Boutiquen und Parks, auf den Müllhalden und an den Wäscheleinen, im Konzert und im Club, im Möbelkatalog und im Schlafwagenabteil, es beschäftigt sich mit allem, was sich ihm bietet, den Nebensächlichkeiten und den großen Fragen, es wendet sich den Fachjargons ebenso wie der Umgangssprache zu. Die Lyrik hätte nichts mit dem alltäglichen, mit dem sogenannten wirklichen Leben zu tun? Das ist ein Mißverständnis, doch es bleibt abzuwarten, ob es sich ausräumen läßt. 29


Die Nische, in der die Lyrik, seit sie den ihr nachgesagten Rang als Königsgattung verloren hat, ihr trotz allem keineswegs unangenehmes Dasein fristet, ist vielfach beklagt worden – was dann besonders nachvollziehbar ist, wenn man bedenkt, daß diese Nische in den meisten Buchhandlungen zwischen dem Regal für Esoterik und dem für Gartenbücher zu finden ist. Ganz abgesehen von der Frage aber, ob nicht die Lyrik schon immer eine Kunst von wenigen für wenige gewesen ist, kann man dieser Schattenexistenz auch positive Seiten abgewinnen: Immerhin läßt es sich hier, abseits der großen Aufmerksamkeit und des Lärms der Märkte, gut schreiben und nachdenken; die Gefahr, von grellem Scheinwerferlicht geblendet zu werden oder gar, wie es in der Prosa hin und wieder der Fall sein mag, ökonomischen Versuchungen ausgesetzt zu sein, unter denen das Dichten litte, ist äußerst gering. Was sich nun als vielstimmige neue Generation präsentiert, hat sich so jahrelang entwickeln, voneinander Kenntnis nehmen und sich austauschen können. Kaum eine Lyrikerin oder ein Lyriker, der nicht selbst einmal an der Herausgabe einer Zeitschrift, am Aufbau eines Kleinverlags oder einer Lesereihe beteiligt war, also an jenem Netzwerk mitgewirkt hat, das die Lyrikszene trug und weiterhin trägt. Daß die großen Verlage, von wenigen rühm­ lichen Ausnahmen abgesehen, eher weniger als mehr Gedichtbände veröffentlichen – eine Entwicklung, die der zunehmenden Wertschätzung junger Lyrik durch Publikum und Kritik zuwiderläuft –, mag aus rein marktwirtschaftlichen Gründen nicht überraschen. Beklagenswert ist es dennoch, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil damit jene, die es besser wissen müßten, die Vorurteile bestätigen und zugleich dafür sorgen, daß niemand sich eines Besseren belehren lassen kann – es sei denn, er konsultiert die Zeitschriften, die Anthologien und die Bücher jener kleineren Verlage, in denen die Lyrik ausdauernd 30


gepflegt wird. Ein Massenmedium wird die Lyrik, vielleicht zu ihrem Glück, nie werden; als Mysterium für Eingeweihte scheint sie allerdings auch nicht gedacht zu sein. Sie ist, um einen letzten und weitverbreiteten Vorbehalt zu erwähnen, nicht schwieriger als andere Dinge, deren Spielregeln man kennen, mit denen man sich beschäftigen muß, bevor sie sich mit Gewinn genießen lassen. Aller à l’inconnu: Wer bereit ist, sich auf den Weg zu machen, dem bieten sich derzeit viele Gelegenheiten dazu.

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Anmerkungen zu den Texten Hundstage Unveröffentlicht. Die Sandale des Propheten Entstanden anläßlich des XIX. Internationalen Poesiefestivals in Medellín, Kolumbien. Abgedruckt in: Wilfried F. Schoeller/Herbert Wiesner (Hrsg.), Widerstand des Textes. Politisch-ästhetische Ortsbestimmungen, Matthes & Seitz, Berlin 2010. Ins Unbekannte. Über neue Gedichte In: Süddeutsche Zeitung 25. 6. 2007. Lob der Unschärfe In: Zwischen den Zeilen Nr. 25, Urs Engeler Editor, Basel/Weil am Rhein 2006. Avernische Vögel. Über Fakten und Poesie Dankesrede anläßlich der Verleihung des Arno-Reinfrank-Preises der Stadt Speyer 2006. Abgedruckt in: Sigfrid Gauch, Andrea Steinbrecher, Alexander Wasner (Hrsg.), Nicht schreiben ist auch keine Lösung. Jahrbuch für Literatur 13, Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt 2007. – Für die Zitate zu Johann Wilhelm Ritter bin ich Susanne Schulte zu Dank verpflichtet. Das Wie in der Welt Vortrag, entstanden anläßlich der Poetikkonferenz »Dichtes Gerede« in der Berliner Lettrétage im April 2008. Abgedruckt in: Rheinischer Merkur 30. 12. 2010. – Für das Zitat eines Weggefährten Peter Huchels danke ich Lutz Seiler.

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Vom Rotstift In: Thomas Geiger (Hrsg.), Laute Verse. Gedichte aus der Gegenwart, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009. Vom Pudding. Formen junger Lyrik In: edition text + kritik, Heft 171: »Junge Lyrik«, München, Juli 2006. Das Stück Eis auf dem Ofen. Ein Gespräch In: Volker Demuth/Swantje Lichtenstein (Hrsg.), Universität der Luft, Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2010. Schwarze Schafe. Über Ernst Meister Dankesrede anläßlich der Verleihung des Ernst-Meister-Preises der Stadt Hagen 2005. Abgedruckt in: Lose Blätter Nr. 36, Berlin 2006. Seidenkleider aus Würmern. Über Wallace Stevens In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 24. 7. 2010. Merlinszeit. Über Wilhelm Lehmann Dankesrede anläßlich der Verleihung des Wilhelm-Lehmann-Preises der Wilhelm-Lehmann-Gesellschaft und der Stadt Eckernförde 2009. In: Sichtbare Zeit. Journal der Wilhelm-Lehmann-Gesellschaft, Wallstein Verlag, Göttingen 2010. Hirn und Leierkasten. Von Benn zu Williams und zurück In: edition text + kritik, Heft 44, Dritte Auflage, Neufassung: »Gottfried Benn«, München, April 2006. Poker am offenen Sarg. Über Matthew Sweeney In: Matthew Sweeney, Rosa Milch, Berlin Verlag, Berlin 2008. Der Camerado von Mannahatta. Über Walt Whitman In: Frankfurter Rundschau 5. 1. 2010. Die Epiphanie im Scheinwerferlicht. Über John Burnside Laudatio, gehalten anläßlich der Verleihung des Petrarca-Preises an John Burnside am 18. Juni 2011 im Kloster Benediktbeuern. Unveröffentlicht.

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Nichts als Worte. Über Simon Armitage In: Simon Armitage, Zoom!, Berlin Verlag, Berlin 2011. Karrengäule im Galopp. Über Becketts Chamfort In: Tagesspiegel 28. 12. 2003. Die Maske und der Spiegel. Über Georg Heym Vortrag, gehalten am 22. Januar 2011 im Museum Künstlerkolonie, Darmstadt. Unveröffentlicht. Vorstellung für eine Akademie Vortrag, gehalten im Rahmen der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung am 22. Oktober 2010 in der Orangerie, Darmstadt. In: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Jahrbuch 2010, Wallstein Verlag, Göttingen 2011. Finnisches Leuchten Unter dem finnischen Titel »Suomen kajastusta« abgedruckt in: Kirjailija 3/08, Helsinki 2008, übersetzt von Jukka Koskelainen. Manntje, Manntje In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 24. 2. 2006 sowie in: Felicitas von Lovenberg (Hrsg.), Mein Lieblingsmärchen. 101 Verführungen zum Lesen, Sanssouci im Carl Hanser Verlag, München 2007. Hubble Gubble In: Björn Kuhligk/Tom Schulz (Hrsg.), Das Berliner Kneipenbuch, Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2006. Notizen vom Punkt jenseits der Karte Vortrag, entstanden anläßlich des »18. Druskininkai Poetic Fall« in Druskininkai, Litauen, im Oktober 2007. Das Thema, das von den Veranstaltern gestellt wurde, lautete »Eldorado Round the Corner: The Close and the Distant in Literature«. Für Informationen zu Olevano Romano und den romantischen Malern konnte ich auf die Publikationen Dr. Domenico Riccardis zurückgreifen. Unveröffentlicht.

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