Lost Memory. Mein vergessenes Leben

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GABRIELLE ZEVIN

Mein vergessenes Leben Aus dem Amerikanischen von Ulrike Nolte

BLOOMSBURY Kinderb端cher & Jugendb端cher


Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Memoirs of a Teenage Amnesiac bei Farrar, Straus Giroux, New York | © 2007 Gabrielle Zevin | Für die deutsche Ausgabe © 2010 Berlin Verlag GmbH, Berlin | Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher, Berlin | Alle Rechte vorbehalten | Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Fotografie von © Mike Bentley / iStockphoto.com | Gesetzt aus der Stempel Garamond | Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel | Printed in Germany | ISBN 978-3-8270-5265-0 | www.berlinverlage.de


Fßr meine Lektorin Janine O’Malley, die passend zu dieser Gelegenheit ihre Hochzeit feiert.



Ich War Ich Bin Ich Will

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Meine Geschichte ist hauptsächlich eine Lovestory. Wie die meisten Lovestorys handelt sie vom Zufall, von Schwerkraft und einem kleinen Schädeltrauma. Alles begann damit, dass ich eine Münze warf. Ich hatte auf Kopf gewettet, doch sie landete auf Zahl. Hätte sich der Zufall für mich entschieden, würde es vermutlich gar keine Geschichte geben. Höchstens ein Kapitel oder ein paar Anfangssätze eines Buches ohne klares Thema. Die folgenden Seiten würden vielleicht eine flüchtige Andeutung von Liebe enthalten, aber vielleicht auch nicht. Manchmal muss man eben verlieren.



Ich War



1 Wäre meine Geschichte anders verlaufen, dann hieße ich Natalja oder Natascha, spräche Russisch und würde das ganze Jahr mit Frostblasen auf den Lippen herumlaufen. Vielleicht wäre ich sogar eines dieser Straßenkinder, die für eine richtige Markenjeans alles und jeden verkaufen würden. Aber ich bin weder Natalja noch Natascha, denn im Alter von sechs Monaten wurde ich aus Kratowo bei Moskau nach Brooklyn, New York, gebracht. Ich kann mich nicht an die Reise erinnern und auch nicht daran, jemals in Russland gelebt zu haben. Über meine Waisenzeit weiß ich nur, was meine Eltern mir erzählt haben und was ihnen vorher erzählt worden war, und das war schon recht dürftig: Ein wenige Tage altes Baby wurde in einem Schreibmaschinenkoffer gefunden, den jemand auf der vorletzten Bankreihe einer russisch-orthodoxen Kirche zurückgelassen hatte. War der Koffer ein Hinweis auf den Beruf meines leiblichen Vaters? Bedeutete die Kirche, dass meine Mutter religiös war? Da ich all das sowieso niemals erfahren werde, habe ich mich entschieden, keine Spekulationen anzustellen. Außerdem kann ich Waisenkindergeschichten nicht leiden. Sie sind alle gleich, und trotzdem ist die Romanwelt voll davon. Beim Bücher13


lesen bekommt man das Gefühl, jeder Mensch auf der Welt müsse ein Waisenkind sein. Soweit ich mich erinnere, habe ich immer gewusst, dass ich adoptiert bin. Es gab keine dramatische Wirmüssen-dir-etwas-beichten-Rede. Meine Adoption gehörte eben dazu, war so normal wie die Tatsache, dass ich dunkles Haar habe und ein Einzelkind bin. Ich wusste, dass meine Eltern mich adoptiert hatten, bevor ich überhaupt verstand, was das bedeutete. Denn dafür hätte ich ja zumindest ansatzweise eine Ahnung von Sex haben müssen, und die bekam ich erst in der dritten Klasse, als Gina Padakis ihren Großeltern ein bedenklich zerlesenes Exemplar von The Joy of Sex entwendete und mit zur Schule brachte. Sie ließ das Buch in der Mittagspause herumgehen, und während alle anderen sich bei der Entdeckung grausten, dass ihre Eltern es getan hatten, damit sie auf die Welt kommen konnten (so viel Haar an seltsamen Stellen, und die Paare in den Zeichnungen sahen nicht aus, als hätten sie den im Titel versprochenen Spaß …), ging es mir bestens, und ich fühlte mich sogar etwas überlegen. Zwar war ich ein Adoptivkind, aber wenigstens hatten meine Eltern sich nicht um meinetwillen derartig gedemütigt. Vermutlich fragt ihr euch jetzt, warum die beiden nicht auf herkömmliche Weise für Nachwuchs gesorgt haben. Okay, auch wenn es eigentlich keinen was angeht, sie haben es eine Weile erfolglos versucht. Nach ungefähr einem Jahr haben Mum und Dad dann entschieden, dass sie, statt ungefähr eine Million Dollar für Fertilitätsbehandlungen auszugeben, mit dem Geld besser eine gute Tat vollbringen und es in mich investieren konnten. Das ist der Grund, warum ihr jetzt nicht die rührende, un14


verfälschte Lebensgeschichte einer russischen Vollwaise namens Natalja in den Händen haltet, sondern – da es nun einmal anders gekommen ist – die eines Mädchens mit original amerikanischem Namen. Sagen wir mal Nancy. Oder Naomi. Über dieses Thema denke ich allerdings normalerweise selten nach und erwähne es hier nur, um zu zeigen, dass ich in gewisser Weise von Geburt an dafür prädestiniert war, Amnesie zu bekommen. Ich musste schon immer Leerstellen füllen. Aber okay, ich sollte nicht zu viel vorwegnehmen. Als mein bester Freund William, den ich zu diesem Zeitpunkt komplett vergessen hatte, von meinem, sagen wir mal, Unfall hörte, schrieb er mir einen Brief. (Den entdeckte ich erst sehr viel später, denn Will hatte ihn in die Hülle einer selbst gebrannten Mix-CD gesteckt.) Will hatte eine ramponierte schwarze Schreibmaschine von seinem Großonkel Desmond geerbt, der angeblich Kriegsberichterstatter gewesen war, allerdings konnte Will nicht genau sagen, in welchem Krieg. Am Zeilenschalthebel befand sich eine Delle, und Will vertrat die Theorie, sie sei durch eine abprallende Kugel verursacht worden. Jedenfalls schrieb er leidenschaftlich gern Briefe auf seiner Schreibmaschine, auch wenn es viel einfacher gewesen wäre, eine E-Mail zu schicken oder anzurufen. Nebenbei bemerkt, hatte Will kein Problem mit moderner Technik, er hatte nur eine Vorliebe für Dinge, die andere Leute vergessen hatten. Ich sollte erwähnen, dass der folgende Text zwar die einzige Aufzeichnung der Ereignisse ist, die zu meinem Unfall geführt haben, aber nicht viel über Wills Persön15


lichkeit aussagt. Es passte überhaupt nicht zu ihm, sich so förmlich, steif und geradezu langweilig auszudrücken. Die Fußnoten können euch eine ungefähre Vorstellung von ihm vermitteln, aber die Hälfte meiner Leser wird sie vermutlich überspringen. Genau wie ich damals. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich für Fußnoten ungefähr so viel übrig wie für Waisenkinderschnulzen. Gruß Partner, als Erstes solltest du über mich wissen, dass ich mich an die ganze Sache erinnere, und zweitens, dass ich vermutlich der ehrlichste Mensch der Welt bin. Mir ist klar, dass du im Æugenblick niemandem trauen kannst, der von sich behauptet, ehrlich zu sein, und deshalb hätte ich es normalerweise nicht erwähnt. Æber ich finde, du brauchst diese Info, also schreibe ich es trotzdem. Da ich dir eine möglichst große Hilfe sein möchte, habe ich chronologisch die Æreignisse aufgelistet, die zu deinem Unfall geführt haben, was du nützlich finden kannst oder auch nicht, auf jeden Fall findest du sie hier: 18:36 _ _ _ _ _ _ Uhr _ _ _ Naomi Porter und William Landsman, Co-Redakteure des preisgekrönten1 Jahrbuchs ______________________________________________

1 Okay, zumindest wurden wir in der Endausscheidung ehrenvoll erwähnt. 16


der Thomas Purdue Ganztagsschule, verlassen das Büro des P h ö n i x.2 18:45 _ _ _ _ _ _ Uhr ___

Porter und Landsman betreten den Schulparkplatz. Porter bemerkt, dass die Fotokamera im Büro vergessen wurde. 3 18:46 _ _ _ _ _ _ Uhr _ _ _ Æs folgt eine Diskussion darüber, wer ins Büro zurückgehen soll, um die Kamera zu holen. Landsman schlägt vor, eine Münze zu werfen4, was von Porter akzeptiert wird. Landsman entscheidet sich für „Kopf“, woraufhin Porter argumentiert5, dass sie „Kopf“ haben sollte. Landsman gibt nach, was für gewöhnlich der Fall ist. Landsman wirft die Münze, und Porter verliert. 18:53 _ _ _ _ _ _ Uhr _ _ _ Landsman fährt nach Hause; Porter kehrt zurück ins Redaktionsbüro des Phönix. ______________________________________________

2 Zwar beginnt die Schule für gewöhnliche Sterbliche erst nach dem August, aber Ferienzeiten gelten nicht für Footballspieler, Bigbandmitglieder und uns. Ebenfalls nicht für Hobby-Ornithologen. Wir hatten geplant, am nächsten Morgen das erste Sommertreffen der Tom Purdue Birdwatchers zu fotografieren. 3 Wir diskutieren häufig. Außenstehende würden diesen Vorgang vermutlich als „Streit“ bezeichnen. 4 Woraus sich eine Reihe philosophischer Fragen ableiten lässt, die ich noch überdenke und aktuell nicht weiter ausführen möchte. 5 Bedeutet ebenfalls „Streit“. 17


6 19:02 _ _ _ _ _ _ Uhr _ _ _ (ca.) Porter erreicht das Büro und holt die Kamera. 19:05 _ _ _ _ _ _ Uhr _ _ _ (ca.) Porter stürzt auf der Æingangstreppe der Schule, fällt die Stufen hinunter und schlägt am Ænde mit dem Kopf auf, ohne jedoch die Kamera zu verlieren.7 Porter wird von einem gewissen James Larkin gefunden.8 Wie schon erwähnt, stehe ich jederzeit zur Verfügung, um eventuelle Fragen zu beantworten. Weiterhin dein ergebenster Diener William B.9 Landsman PS: Æntschuldige das Æ. Inzwischen dürftest du bemerkt haben, dass damit entweder der Buchstabe Æ oder Æ gemeint ist. Meine Schreib______________________________________________

6 Ab diesem Moment bleibt mir unglücklicherweise nichts weiter übrig, als mich auf die Aussagen von anderen zu verlassen, wie zum Beispiel von deinem Vater und diesem Lump James. 7 Bei der Kamera handelt es sich um eine Oneiric 8000 G Professional, die wir gerade erst für 3599,99 Dollar (steuerfrei, inkl. Versand) erstanden haben, unter Verwendung des gesamten Erlöses aus der GeschenkpapierWohltätigkeitsaktion des letzten Jahres. Die Redaktion dankt allen großzügigen Spendern. 18


maschine ist defekt, so dass immer beide gleichzeitig angeschlagen werden.8 9

Natürlich erinnerte ich mich an nichts davon. Nicht an den Münzwurf, nicht an die Kamera und ganz bestimmt nicht an meinen besten Freund, den sensationell ehrlichen William Blake Landsman. Das Erste, was nach dem Unfall in meinem Gedächtnis haften blieb, war dieser Lump James. Allerdings wusste ich zum damaligen Zeitpunkt nicht einmal seinen Namen, und ich erinnere mich keineswegs an den vollständigen James, nur an einen bestimmten Teil. Nämlich seine Stimme. Meine Augen waren noch geschlossen, und vermutlich könnte man sagen, dass ich schlief oder zumindest vor mich hin dämmerte. Ungefähr wie beim morgendlichen Weckerklingeln: Man schafft es, das Geräusch eine Weile zu ignorieren, aber man kann schon Radiomusik und die Dusche hören, Kaffee und Toast riechen. Man weiß, dass man aufwachen wird, nur nicht, wann; und man fragt sich, wer oder was einem den nötigen Schubs geben wird, um den Tag zu beginnen. Seine Stimme klang ruhig und tief. Ich verbinde solche ______________________________________________

8 Keine Ahnung, was er an einem Ferientag dort zu suchen hatte. 9 Vermutlich hast du auch vergessen, wofür das B steht, nämlich für Blake. Leider kann ich kaum einen Dichter weniger leiden als William Blake, und was seine Gemälde angeht, ist meine Meinung so fifty-fifty. Die Person, die für meine Namensgebung verantwortlich ist, das heißt meine Mutter, ist auch deine Literaturlehrerin, das heißt Mrs Landsman. 19


Stimmen immer mit Ehrlichkeit. Aber ich bin sicher, da draußen wartet ein Haufen verlogener Baritonsprecher nur auf leichte Beute wie mich, die man über den Tisch ziehen kann. Selbst in meinem Zustand, nur halb bei Bewusstsein, fiel ich meinen Illusionen zum Opfer und entschied, jedes Wort zu glauben, das James über die Lippen kam: »Sir, mein Name ist James Larkin. Leider ist niemand von ihrer Familie anwesend, aber Naomi und ich sind ein Paar, und ich werde im Krankenwagen mitfahren.« Ich hörte keinen Widerspruch. Sein Tonfall lud nicht zu Diskussionen ein. Jemand ergriff meine Hand, und ich schlug die Augen auf. Es war James, auch wenn ich sein Gesicht nicht kannte. »Hallo«, sagte er sanft. »Schön, dass du zurück bist.« Trotz dieser Begrüßung fragte ich mich weder, wo ich wohl gewesen war, noch, wieso ich mich in einem Krankenwagen befand – zusammen mit einem Jungen, der sich als mein Freund bezeichnete, obwohl er mir ganz unbekannt vorkam. So absurd es klingt, ich bemühte mich um ein höfliches Lächeln. Ich bezweifle allerdings, dass er es bemerkte, denn der Versuch dauerte nicht lange. Gleich darauf kam der Schmerz. Ein Schmerz, der unbeschreiblich war und der keinen Platz für andere Gedanken ließ. Er ging von irgendeiner Stelle über meinem linken Auge aus, doch darauf kam es kaum an, denn das Gefühl, das in Wellen durch den Rest meines Kopfes pulsierte, war fast noch schlimmer. Ich war sicher, mein Gehirn sei zu groß für meinen Schädel und ich müsse mich jeden Moment übergeben, aber nichts passierte. Ohne dass ich James darum bitten musste, sagte er: »Jemand soll ihr ein Schmerzmittel geben!« 20


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