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Die Narrative der IT-Branche
Narrative prägen die digitale Transformation der Gesellschaft wesentlich stärker, als wir meinen. Wir wollen das nicht gerne wahrhaben, weil wir die Illusion des rationalen Handelns zu sehr lieben und uns gerne selbst Sachlichkeit unterstellen. Doch tatsächlich lassen sich fast alle von uns von Narrativen beeinflussen. Das ist an sich weder schlecht noch gut. Wichtig ist nur, sich dessen bewusst zu sein, besser noch: die Narrative zu erkennen.
Im Buch «What Tech Calls Thinking. An Inquiry into the Intellectual Bedrock of Silicon Valley», erschienen bei Farrar, Strauss, and Giroux, New York 1 , stellt Adrian Daub die wichtigsten Narrative des Silicon Valley vor und erläutert dabei die lokalen Hintergründe. Beim Lesen wird einem bewusst, wie entscheidend unser Diskurs über die digitale Transformation geprägt wurde durch eine Mischung aus Interessen, Besonderheiten und Absonderlichkeiten eines kleinen Kreises von Insidern aus dem fernen Kalifornien. Wie sie die Welt dort erfahren, so erklären wir uns die Welt – und sind uns oft nicht einmal bewusst, dass wir vieles davon gar nicht verstehen (können). Denn der Insiderklub im Silicon Valley predigt zwar global, denkt aber sehr lokal und hat selbst für kalifornische Verhältnisse eine ziemlich enge Lebenserfahrung.
Daub zeichnet detailliert nach, wie sich die Ideen und Überzeugungen des heutigen Silicon Valley entwickelt haben. Er zeigt die Kontingenz UND die Logik hinter der Kontingenz. Er stellt die eleganten Kurven aus, welche das Denken bisweilen nehmen musste, um das Aussteigerparadies zum Herrenhaus der westlichen Welt zu machen. Gerade weil er nicht polemisch argumentiert, sondern genau urteilt – es gibt nur ganz wenige Sätze, welche man als polemisch interpretieren könnte, und diese sind voller Poesie – erschüttern einen seine Diagnosen. Ist das alles wirklich so einfach? Bei aller Skepsis gegenüber Daubs fantastischer analytischer Brillanz lautet die Antwort: ja, wahrscheinlich schon.
Inhaltlich dicht und erkenntnisreich formuliert das Buch den Aufruf zum intellektuellen Aufstand gegen den Glauben an die Narrative des Silicon Valley. Allerdings merkt man beim Weitererzählen der Inhalte schnell, dass die Erkenntnisse im Buch zugleich zu revolutionär und zu sachlich konkret sind, um breite Akzeptanz zu finden oder um überhaupt Wissenschaftler*innen oder Künstler*innen zu beeindrucken. Wer Inhalte ernst nimmt und mit ökonomischen Erkenntnissen kombiniert, zu denen sich Daub eher plump äussert, der oder die kann viele sinnfreie Diskussionen ersatzlos streichen – beispielsweise darüber, ob es berechtigt oder ein Skandal war, dass Donald Trump aus den sozialen Medien verbannt wurde – und wer ist schon bereit, auf ideologische Diskussionen zu verzichten.
Bemerkenswert an diesem Buch ist vieles und es ist zu gut geschrieben, um hier kurz nacherzählt zu werden. Deshalb nur das Inhaltsverzeichnis:
1 Aussteigen
2 Inhalt
3 Genie
4 Kommunikation
5 Begehren
6 Disruption
7 Scheitern.
Daub lässt damit wenig aus, was man an Klischees kennt, ergänzt dafür noch einiges, was ausserhalb des Silicon Valley wenig bekannt ist, beispielsweise die Thesen des Religions- und Literaturwissenschaftlers René Girard, dessen Einfluss unter anderem das recht seltsame letzte Kapitel aus Peter Thiels «Zero to One» verständlich macht.
Hätte es eines Beweises gebraucht, dass die Forschung zur digitalen Transformation die Unterstützung der vergleichenden Literaturwissenschaft benötigt … Daub hat ihn mit diesem Buch erbracht. Doch nun steht der Aufstand gegen die herrschenden Narrative im Raum und wir wissen nicht, ob er stattfinden wird. Wollen wir im alten, erschöpften Europa noch einmal zu denken anfangen? Wollen wir das wirklich? Niemand kann sich das vorstellen. Aber ein schönes Buch ist es trotzdem.