impuls 1/2020 - Magazin des Departements Soziale Arbeit der Berner Fachhochschule BFH

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Herausforderung

Minderjährigenheirat

Interview mit Prof. Dr. Marianne Schwander, Dozentin BFH, Lehrbeauftragte an der Universität Bern sowie Spezialistin für Minderjährigenheiraten und Zwangsehen

In der Schulsozialarbeit, über Anlaufstellen, in der Spitalsozialarbeit oder im Quartiertreff – es gibt viele Orte, an denen Sozialarbeitende in der Schweiz mit dem Thema Minderjährigenheirat konfrontiert sein können. Vielleicht haben auch Sie sich schon gefragt, wie ein Gespräch mit möglichen Opfern gelingt und wie Sie Betroffenen effektiv helfen können?

Interview: Beatrice Schild

Marianne Schwander, seit 2013 soll in der Schweiz ein Gesetz Verheiratungen im Kindesalter verhindern. Trotzdem ist es nicht gelungen, dem Phänomen beizukommen. So wurden solche Ehen beispielsweise nur ausnahmsweise annulliert. Warum gelingt es der Schweiz kaum, Minderjährige zu schützen? Das Schwierige ist, dass viele gegensätzliche Ansprüche diese Thematik beeinflussen. Da sind beispielsweise die Eltern, die ihren Kindern mit einer Verheiratung Sicherheit geben möchten. Die Jugendlichen dagegen wollen zwar vor einer solchen Ehe geschützt werden, aber auf keinen Fall ihre Eltern anklagen. Daher kommt es selten zu strafrechtlichen Verurteilungen. Auch zivilrechtlich gibt es wenige Klagen. Für die Problematik ist das Recht auch nur eine von vielen Antworten. Weitere sind Sensibilisierung, Prävention, Intervention, Schutzmassnahmen sowie eine nachhaltige Umsetzung des Grundrechtes der freien Partner- und Partnerinnenwahl. Welche weiteren Hindernisse kommen dazu? Bei Verdacht ist es für Jugendarbeiter, Schulsozialarbeiterinnen oder Lehrerinnen oft schwierig nachzufragen. Viele haben Angst oder Bedenken, die Jugendlichen könnten Fragen missverstehen und sie selber als intolerant gegenüber ihrer Kultur oder gar als islamophob erscheinen. Diese Zurückhaltung wird dadurch verstärkt, dass Kinder in erster Linie als Mitglieder einer Familie gelten. Können Sie das bitte ausführen? Leider ist die Haltung weit verbreitet, dass das Erziehungsrecht der Eltern – auch bei älteren Kindern – grundsätzlich vorgeht. Dies ist grundlegend falsch: Kinder sind eigene Subjekte und haben eigene Rechte wie das Recht auf Selbstbestimmung. Sie haben das Recht auf Schutz, auch vor ihren Eltern. Es spielt keine Rolle,

ob es sich um ein Schweizer Kind, ein Kind der zweiten Einwanderergeneration oder ein Flüchtlingskind handelt. Durch die Unterzeichnung der UNO-Kinderrechtskonvention ist einzig relevant, dass ein Kind bis zum 18. Lebensjahr besondere Rechte und Schutz geniesst. Das Kindeswohl steht im Zentrum, also die Schaffung von Lebensumständen, in denen sich ein Kind entwickeln kann. Sozialarbeitende und andere Berufsvertreterinnen und -vertreter haben die Aufgabe, sich für das Kindeswohl einzusetzen und müssen dies auch tun.

«Viele haben Angst oder Bedenken, die Jugendlichen könnten Fragen missverstehen und sie selber als intolerant gegenüber ihrer Kultur oder gar als islamophob erscheinen.»

Wie sollen Fachpersonen in einem Verdachtsmoment reagieren? Damit das Kind eine Chance hat, seine Rechte durchzusetzen, müssen Personen, die Verdacht schöpfen, das Kind ansprechen ohne zu werten. Zentral ist, dass sie Vertrauen schaffen und nichts ohne sein Einverständnis unternehmen. Sie müssen auch niederschwellige Informationen zur Verfügung stellen, wie «du hast als Minderjahrige das Recht, nicht verheiratet zu werden.» Was können die Jugendlichen konkret tun? Das kommt sehr auf den Kontext an. Ich verweise daher gern auf zwei typische Modellfälle (vgl. Kasten S. 6). Wenn sich ein Kind einer Person anvertraut, dann muss ▶

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