Wer sucht der findet

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Marius Timmermans Wer sucht, der findet



Marius TiMMerMans

Wer sucht, der findet Heidelberger Trilogie band 2

Auf der Reise zum wahren Glauben


1. Auflage 2016 © Marius Timmermans, 1999 Erschienen bei B.V. Uitgeverij de Banier, Utrecht (NL) Originaltitel: Wie zoekt, zal vinden © der deutschen Übersetzung Betanien Verlag 2016 Postfach 1457 · 33807 Oerlinghausen www.betanien.de · info@betanien.de Übersetzung: Carsten Evers, Hermann Grabe Redaktion: Hans-Werner Deppe Cover: Sara Pieper, Betanien Verlag Umschlagbilder: Zeichnung: Adri Burghout Fotos: istockphoto.com · Mann: amazingmikael, Frau: Studio-Annika Satz: Betanien Verlag Druck: Druckhaus Nord, Bremen ISBN 978-3-945716-22-9


Inhalt 1 Der Beginn der Reise

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2 In Mainz 19 3 Dazubezahlen, oder alles umsonst? 29 4 Auf dem Weg nach Koblenz 45 5 Die Dragoner von Leutnant Battoni 57 6 Empfang im Benediktinerkloster 72 7 Dies tut zu meinem Gedächtnis 85 8 Zur Stärkung 106 9 Der Diebstahl 119 10 Den goldenen Kelch gefunden 132 11 Die Klosterführung 145 12 Das goldene Lehrbuch 157 13 Das kleine Gasthaus 173 14 Christi Schiffchen 188 15 Die Seelöwen 201 16 Das Gesetz im Bund der Werke 209 17 Den Sonntag besonders stellen 225 18 Der letzte Abend an Bord 233 19 In Kopenhagen 243 20 Schockierende Nachrichten bei Oberst Frandsen 254 21 Auf nach Hause!

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22 Der habgierige Müller 283 23 Die Falle 293 24 Überraschung in der Nacht 306 25 Beim einsamen Fischer 318 26 Wer sucht, der findet 338 Die Flüchtlinge von Frankenthal 353 Karte der Reise 354


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Der Beginn der Reise

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ndlich ging die Reise los, die Karl und Johann bis nach Dänemark bringen sollte. Das Letzte, was Johanns Mutter ihm nachrief, war: »Wir hoffen, dass du im Mai oder zu deinem Geburtstag wieder zurück sein kannst, Johann!« Er hatte sich in seinem Sattel umgedreht und erblickte oben auf dem Gang der Torbefestigung deutlich seinen Vater und seine Mutter im strahlenden Licht der aufgehenden Sonne. Mutter hatte seinen kleinen Bruder Wilhelm auf ihrem Arm. Verschiedene andere Menschen standen neben ihr. Da Johann für eine längere Zeit an ein weiter entferntes Ziel reisen wollte, gaben ihm auch einige Freunde das Geleit. Er hörte noch die klare Stimme seiner Schwester Anna: »Bis bald, Karl und Johann! Und seid vorsichtig!« Sogar seine Tante Maria und der Vetter Hans waren am Abend zuvor noch vorbeigekommen, um Abschied zu nehmen. Karl hatte in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, vom 3. auf den 4. Januar, bei ihnen geschlafen. Abends hatte Johann gesagt: »Du musstest einen beträchtlichen Umweg machen, um mich abzuholen. Ich hätte besser nach Worms kommen können, Karl.« Der Kurier aber meinte nur: »Das habe ich gerne getan, Johann. Und morgen reiten wir auch bei Mechthild vorbei. Da wir so zeitig im neuen Jahr verreisen, kommt es nicht auf ein oder zwei Tage an.« 7


An der linken Seite des Weges strahlte die Sonne auf ein kleines Gewässer. »Schau einmal, wie sich dort entlang der Steine Eis gebildet hat, Johann. Man sieht überall, dass dies ein echter Winter ist. Und man kann es auch fühlen.« Die umgebenden Hügel, die alle sanft zum Wasser hinunter abfielen, waren mit einer dicken Schneeschicht bedeckt. Hier und da ragten Pfähle aus dem Schnee heraus. Hieran waren sicherlich Weinstöcke angebunden. Die Sonne schien hell, jedoch wehte ein kühler Ostwind. Als sie eine Senke zwischen den Hügeln passierten, zog Johann seinen Reitermantel besonders fest um sich. Heute Nacht würde es sicherlich starken Frost geben. »Karl, es scheint, als würde es jetzt schon kälter werden.« »Nun, das kann sich manchmal auch schnell wieder wenden. Aber vorläufig kannst du deiner Mutter wohl dankbar sein, dass sie bei dir darauf bestand, die dicke Wolljacke anzuziehen«, lachte Karl. »Los, komm Johann, wir wollen wieder eine Weile traben. Das ist gut für die Pferde und für uns.« Es war auffallend, wie sehr sich die prächtigen tiefschwarzen Reittiere glichen. Karls Pferd hatte lediglich eine größere Blesse auf seiner Stirn. Am Morgen waren die beiden Tiere noch etwas misstrauisch gegeneinander gewesen. Nun aber begannen sie, sich aneinander zu gewöhnen. Der Kurier, der dies gut im Auge behielt, meinte: »Wodan ist älter und darum etwas dominanter. Wenn Donar das nun aber akzeptiert, wird es mit den beiden rasch gutgehen.« Weil wenig Verkehr auf dem Weg war, konnten die beiden Reiter ihren schnellen Trab lange beibehalten. Nach einer halben Stunde gingen die Pferde wieder im Schritt, wobei sie dennoch ein gutes Tempo beibehielten. 8


Johann dachte zurück daran, dass nicht nur Lotte, K­arls Frau, sondern auch Mechthild, sein Mädchen, beim Abschied geweint hatten. Das hatte ihm deutlich gemacht, wie viel ihr an ihm lag. Und er selbst hatte beim Abschied bestimmt dreimal gesagt, wie viel sie ihm bedeute und dass er sicher zurückkehren werde. Die Stunden, die sie in Frankenthal verbracht hatten, hatten sie leider nicht für sich alleine nutzen können. Ihr Vater wollte von Johann noch genau hören, wie die Begegnung mit dem verrückten Junker verlaufen war. Er hatte die Burg bereits aufgesucht, um seine Beschwerde vorzubringen. Der Junker war jedoch noch immer nicht aus Worms zurückgekehrt. Der alte Baron hatte aber zugesagt, dass sein Sohn bei seiner Rückkehr bestraft würde. »Meiner Ansicht nach hat der Alte wenig Einfluss, so dass das verwöhnte Bürschchen einfach tut, was es will«, hatte der Bierbrauer gesagt. Als sie wieder im Sattel saßen, war es, als würde Karl Johanns Gedanken erraten, als er bat: »Erzähl mir noch einmal genau, wie das verlief mit dem Junker, Johann.« »Das ist schnell berichtet. Er kam mit seinem Knecht auf uns zugeritten und beschuldigte mich sozusagen, ich hätte sowohl Mechthild als auch Donar gestohlen. Und er beschimpfte mich als Bauernlümmel. Ich wurde darüber wütend und warf ihm an den Kopf, selber ein Bauernlümmel zu sein. Es ging so schnell, und ehe ich meinen Dolch ziehen konnte, schlug er mir mit seiner Reitpeitsche quer durchs Gesicht. Ich hörte Mechthild vor Entsetzen noch schreien. Dann bäumte Donar sich auf. Das war eine aufregende Situation, sage ich dir!« »Und dann, Johann, was hast du zuerst getan?« »Nun, als er erneut zuzuschlagen begann, bekam ich die 9


Riemen seiner Peitsche zu fassen, wickelte sie rasch um meine Hand und zog so fest daran, dass er beinahe vom Pferd in den Schlitten gefallen wäre. Anschließend konnte ich nichts mehr ausrichten, weil sein Waffenknecht eine Pistole auf meine Brust richtete und dabei rief: ›Halt, oder ich schieße!‹ Dieser Mann musste seinem Herrn natürlich zu Hilfe kommen.« »Ja, an solch einem Meister kann man seine Freude haben«, sagte Karl lachend. »Und hat Mechthild dann den Kerl angesprochen?« »Ja, Mechthild kannte alle beide. Der Knecht war der Sohn einer armen Witwe mit einer großen Familie. Ihre Mutter hatte Mechthild im Winter des Öfteren dorthin geschickt, um ihnen etwas Geld, Kleidung und Nahrungsmittel zu bringen. Sie schrie den Kerl laut an: ›Steck die Pistole weg, du niederträchtiger Flegel! Ist das der Dank dafür, dass meine Mutter euch jahrelang in eurer Armut geholfen hat? Ich werde es meinem Vater sagen.‹ Nun, dann steckte er seine Waffe sogleich in den Halfter. Mechthilds Worte hatten ihm offensichtlich zu denken gegeben. Inzwischen hatte Donar das Seil abgerissen und sich auf und davon gemacht, glücklicherweise in die richtige Richtung. Und der Junker schlug sein eigenes Pferd, Karl! So etwas hast du noch nicht gesehen.« Johann stellte sich in die Steigbügel und tat, als schlüge er Donar wie rasend zwischen die Ohren. Donar hob gleich seinen Kopf an und bewegte seine langen Ohren. Was wollte der Kerl denn bloß von ihm? Johann setzte sich wieder in den Sattel und sagte empört: »Und anschließend prügelte er dem prächtigen Braunen wie ein Verrückter in die Flanken. Schrecklich!« »Und ist er danach nicht mehr in der Nähe des Schlittens aufgetaucht?« 10


»Nein, ich hatte inzwischen natürlich meinen Dolch gezogen, woraufhin mir allerdings Mechthild in den Arm gekniffen hatte. Er rief dann aus einer gewissen Entfernung, dass ich mich wohl unter dem Rock eines Mädchens verstecken würde.« Johann wurde rot vor Zorn, als er nur daran zurückdachte. Karl bemerkte die Empörung im Gesicht seines jungen Freundes. Und die war auch in seiner Stimme zu hören, als Johann drohend und mit zusammengebissenen Zähnen sagte: »Wenn ich dem Burschen noch einmal begegne, Karl, dann weiß ich nicht, was alles passieren kann. Es behagt mir ganz und gar nicht, dass ich nach dieser Beleidigung nichts mehr gesagt oder getan habe. Manchmal denke ich: Erst wenn ich ihn wiedertreffe, kann ich dieses schlechte Gefühl loswerden!« »Du willst also Rache nehmen, Johann?« »Rache, Rache … Ich weiß nicht, ob das das richtige Wort ist. Ich mache mir oft selbst den Vorwurf, dass ich mir den frechen Junker nicht richtig vorgeknöpft habe. Das ärgert mich.« »Johann, du weißt doch: Wer sich selbst überwindet, ist stärker ist als jemand, der eine Stadt besiegt! So sagt es ein altes Sprichwort und so ähnlich steht es in Sprüche 25,28.« »Ja, das weiß ich schon. Aber es kam von Mechthild. Sie hat mich mit aller Kraft gebeten, nichts zu unternehmen.« »Es ist in der Tat nicht schön, wenn ein Rohling dich im Beisein deines Mädchens so beleidigt. Und dann durftest du es nicht einmal heimzahlen. Ich habe leicht reden, weil ich so etwas noch nicht mitgemacht habe«, sagte Karl nachdenklich. »So ist es nun mal«, sagte Johann. »Hättest du in solch einer Situation anders gehandelt?« »Ich weiß es nicht, Johann. Das ist schwer einzuschätzen. Ich bin durchaus schon einmal von einem angetrunke11


nen Hauptmann des kaiserlichen Heeres beleidigt worden. Das war in einer Gaststätte in Frankfurt. Er saß dort und schimpfte über die Ketzer, dass es nicht anzuhören war. Als er auch noch ausrief, dass alle Protestanten Waschlappen und Verräter seien, habe ich ihn mit ruhiger Stimme gefragt, ob er schon einmal von den niederländischen Geusen gehört habe, diesen protestantischen Freiheitskämpfern. Da brüllte der Kerl wie ein Wahnsinniger los. Er wollte sofort eine Schlägerei anfangen. Ich hatte aber längst mitgekriegt, dass da sicher noch zehn seiner Gefährten beim Wein saßen, und fragte mich rechtzeitig, welchen Sinn ein Kampf mit diesem Burschen haben würde. Darüber hinaus trug ich versiegelte Aufträge unter meiner Jacke und die hätten bei einem Kampf womöglich herausfallen und in falsche Hände geraten können. Zu dieser Zeit war ich erst drei Monate im Dienst als Kurier. Im Nachhinein glaube ich, dass es vernünftig war, aber es ist nicht einfach, sich in solch einer Situation zu beherrschen. Wenn ich nach meinem Gefühl gehandelt hätte, würde ich solch einem Kerl vermutlich gleich ins Gesicht geschlagen haben. Aber zum Glück bin ich nicht nur auf meine Einsicht angewiesen. Ich weiß ja, was die Bibel dazu sagt: ›Rächt euch nicht selbst‹, heißt es in Römer 12. Und Jesus selbst sagt: ›Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, so biete ihm auch die andere dar.‹ Er hat es uns vorgemacht.« »Ja. Ich denke an den Vers: ›Er wurde wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut.‹ Das ist für uns doch nahezu unmöglich, Karl!« »Nein, das geht auch nicht aus eigener Kraft. ›Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen.‹ Nun, fang einmal damit an! Der Allerfrömmste bleibt darin in diesem Leben immer noch ein Anfänger, Johann. Aber Gottes Volk hat einen vollkommenen Heiland. Der Herr Jesus hat das, was er lehrte, 12


auch selbst praktiziert. Er ist ja darum der König der Könige, weil er für sein Volk sogar den Tod besiegt hat: ›Verschlungen ist der Tod im Sieg.‹« Fürs Erste hatte Johann genug Belehrung erhalten, daher fragte er: »Wo hast du denn die Schriftstücke für den König von Dänemark versteckt, Karl? Oder … ist es besser, wenn ich es nicht weiß?« »Nun, darüber habe ich schon nachgedacht, Johann. Auf der einen Seite ist es schon richtig, wenn du es nicht weißt. Auf der anderen Seite könnte es richtig sein, wenn du es weißt, weil du dann die Dokumente sichern und aufbewahren könntest, wenn mir etwas zustößt.« »Ist die eine Seite dann, wie man so sagt: ›Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß?‹«, fragte Johann neugierig. »Nun, durchaus schon. Aber ich habe in Münster einmal einen holländischen Geusenhauptmann ohne Ohren getroffen. Seine Ohren hatten die Spanier abgeschnitten. Als wir ins Gespräch über die Sache mit den Protestanten in den Niederlanden und in Deutschland kamen, erzählte er, dass es noch etwas anderes gab, was ihn noch mehr ärgerte. ›Die Ohren kosteten mich viel Blut und drei Tage Schmerzen, aber die Schufte haben meinen Fuß verbrannt‹, sagte er voller Wut. Dann zog er den Stiefel und die Socken aus und ließ seinen verkrüppelten linken Fuß zum Vorschein kommen. Sie hatten ihn ins Feuer gehalten, weil er nicht verriet, wo seine Kameraden waren. Ich sagte bestürzt: ›Wie schrecklich muss das geschmerzt haben!‹ ›Das kannst du mir glauben!‹ sagte er. ›Und wehe, wenn dieses Gesindel in meine Hände fällt. Ich muss mich hier in Deutschland zurückhalten, sonst würde ich sogar hier alle katholischen Papisten und Schwarzröcke über die Klinge springen lassen.‹ Der Mann war voller Hass, Johann, was ja auch kein Wunder ist. Die spanischen Soldaten hatten ihn an einem 13


Baum festgebunden. Dann hatten sie unter seinen Füßen ein Feuer angezündet. Er musste seine Kameraden verraten, die gerade auf Entenjagd waren. Dieser Geuse hassten seine Feinde auch darum so sehr, weil sie ebensolche unmenschlichen Grausamkeiten auch noch seiner Familie angetan hatten. Ganz zu schweigen von seinen vielen Freunden, die an Seele und Leib tiefe Wunden zu tragen hatten. Auf wundersame Weise haben seine Freunde den Mann am nächsten Morgen gefunden. Durch den Blutverlust war er sehr geschwächt. Weil er nichts erzählen wollte, hatten ihm die Spanier zum Schluss in die Brust geschossen. ›Dann stirb, Ketzer!‹, war das Letzte, was er von ihnen gehört hatte. Die Kugel war an einer Blechbüchse abgeprallt, die er in seiner Brusttasche trug, und so hatte er doch überlebt. Ich fühlte sowohl Mitleid als auch Bewunderung für diesen ungestümen verkrüppelten Geusen. Nachdem ich ihm einen Becher Wein angeboten hatte, sagte ich ihm ungefähr dasselbe, was ich eben über das Gebot unseres guten Hirten sagte: ›Liebet eure Feinde!‹« »Und was sagte er darauf, Karl?« Karl war noch in Gedanken versunken, während ihre Pferde ruhig auf dem Weg neben einander hertrabten. Johann wiederholte seine Frage. »Was antwortete denn der Geusenhauptmann darauf, Karl?« »Irgendwann meinte er schließlich: ›Vergeben? Solchen niederträchtigen Verbrechern? Nein, Kurier, du hast leicht Reden, denn du weißt nicht, was die Katholiken und die Spanier in Holland angerichtet haben. Sie sind nichts anderes als Henker und Mörder. Von meiner guten Mutter weiß ich, dass du Recht hast, aber ich kann nicht vergeben. Vorläufig werde ich dieses Gesindel über die Klinge springen lassen, wo ich einen von ihnen sehe. Möglichst alle werde ich beseitigen, wo auch immer ich sie treffe, diese Satansbrut. 14


Die Papisten gehören zurück nach Rom und die Spanier zurück nach Spanien. Und uns sollen sie in Ruhe lassen.‹ Ich habe dann Abschied genommen mit den Worten, dass ich für ihn und sein Land beten wolle. Der Geuse sagte: ›Das ist immer gut, aber vergiss deine eigenen Glaubensgenossen in Deutschland nicht, weil wir gar nicht wissen, was ihnen noch alles bevorsteht‹. Nun, damit hatte er Recht; wir sehen das ja um uns herum.« Johann hatte für jetzt genug von all diesen Grausamkeiten gehört und wandte sich der Umgebung zu. Er spähte voraus und meinte dann: »Schau, Johann, dort bei den Häusern können wir einmal Halt machen und die Pferde etwas ausruhen lassen. Vielleicht möchten sie auch etwas trinken.« Kurz darauf kamen sie zu einer Gruppe von Gebäuden an einem munter plätschernden Bachlauf. Karl zog unter seinem Steigbügel einen zusammengefalteten Beutel hervor, der wie eine Mütze aussah. Er überquerte den Weg und schöpfte mit dem Beutel bei einer Steintreppe Wasser für die Pferde. Johann schaute verblüfft zu: »Das ist schlau, mein Lieber!«, sagte er. »Wo hast du das Ding her, Karl?« »Das habe ich einmal auf einem Jahrmarkt gekauft. Ich glaube, das ist so eine Art Seemannsmütze. Bei Sturm und Regen kann man sie mit der Kordel unter dem Kinn festbinden. Sie ist wasserdicht.« Er hielt das Ding in beiden Händen und ließ Wodan trinken. Nach einigen Schlucken hatte das Pferd genug von dem kalten Wasser. »Hier, Johann, hol für dein Pferd auch mal was.« Kurze Zeit später gingen die Freunde am Wasser etwas auf und ab. Die Sonne verschwand langsam hinter den Hügeln. Neben der Scheune, vor der die Pferde standen, befand sich ein großes Haus. Alles zusammen war wohl ein großer 15


Bauernhof. Es fand sich aber keinerlei Anzeichen von Leben darin. Das Anwesen war still und verlassen. Als Johann hinauf zu einem der oberen Fenster in den dicken Mauern blickte, sah er plötzlich, wie sich etwas hinter oder neben der Gardine bewegte. »Es ist doch jemand im Haus, Karl. Ich sah, wie sich oben etwas regte!« Der Kurier schaute ebenfalls nach oben zu den Fenstern, konnte dort aber nichts Besonderes entdecken. »Vielleicht sind die Bewohner ängstlich gegenüber fremden Reitern, Johann. Nun, mit uns werden sie keinen Ärger bekommen.« Eine Viertelstunde später setzten sie die Reise fort. »Wie weit ist es noch bis Mainz, Karl?« »Noch eine Stunde, Johann. Wir werden im Dunkeln ankommen. Ich kenne aber die Leute in der Unterkunft gut. Normalerweise ist dort immer genug Platz, um zu schlafen. Es kann allerdings sein, dass die Küche geschlossen ist, wenn wir eintreffen.« »Nun, dann essen wir einfach wieder Brot, oder?«, meinte Johann schlicht. »Nein, nein, Freund. Ich würde gerne einen herzhaften Bissen zu mir nehmen. Und die Stadtverwaltung hat uns nicht umsonst ausreichend Reisegeld mit auf den Weg gegeben. Davon werden wir angemessen Gebrauch machen.« »Dann sollten wir stramm weiter reiten«, sagte Johann. »Kann ich später denn einfach bestellen, was ich mag, Karl?« »Ja, zumindest, wenn Frau Süter das Gewünschte vorrätig hat. Was möchtest du denn gerne essen, Johann?« »Na ja, ein paar Scheiben gebratenen Schinken oder ein gebratenes Hähnchen, wenn ich wählen darf.« Lachend setzte Karl sein Pferd in Trab und Donar schloss sich unmittelbar an. »Nun weiß ich noch immer nicht, wo die Dokumente sind, Karl. Ist es besser, dass ich es nicht weiß?« 16


»Würdest du denn gut schweigen können, wenn du so unter Druck gesetzt würdest wie der Geuse?« »Nein!«, rief Johann entsetzt aus. »Wenn es darauf ankommt, will ich es lieber nicht wissen. So tapfer bin ich nicht.« »Du magst überrascht sein. Aber wenn wir in die Hände solcher Schurken fallen wie der Geuse, macht es keinen Unterschied. Wenn dieser Mann wirklich nicht gewusst hätte, wo seine Kameraden steckten, hätte er sie auch nicht verraten können. Aber diese bestialische Behandlung wäre ihm trotzdem nicht erspart geblieben. »Ja, im Grunde ist das so«, dachte Johann. »Hier, Johann, in meinem rechten Stiefel im Stiefelschaft befinden sich die beiden Pergamente mit den Siegeln drauf. Ich habe meinen vertrauten Freund Simon, den Schuster, gebeten, diese säuberlich zwischen zwei Lagen Leder zu verstecken. Das hat er gut hinbekommen, sogar mit der Rundung am Oberteil. Nur durch das Auseinandertrennen der Rückennaht oder durch Aufschneiden kann man sie herausholen.« Johann blickte auf den Stiefel. »Und ich dachte immer: Karl sieht eigentlich immer sehr akkurat aus, aber seine Stiefel sind etwas verschlissen, zumindest wirken sie, als seien sie ziemlich alt und abgenutzt.« »Das ist richtig. Dann verstehst du jetzt auch, warum das so ist. Ich hatte meine Nachrichten schon an den verschiedensten Stellen verstaut. Am liebsten habe ich sie eigentlich in einer Art Tasche an meiner Brust. Aber gut, wer bewusst und gründlich nach so etwas sucht, guckt da natürlich als erstes nach. Es ist nur von Herzen zu hoffen, dass wir die Botschaft sicher an den dänischen Hof bringen können. »Schau einmal, Johann, siehst du die Türme dort vor uns? Das ist eine der vielen Burgen im Rheinland. Seit eh und je finden sich viele Schlösser und Burgen entlang dem Rhein.« 17


Johann schaute in die ihm gewiesene Richtung. Als sie mit der Burg auf gleicher Höhe waren, sahen sie durch eines der Fenster helles Feuer. »Denen da drinnen ist sicher genauso kalt wie mir, sodass sie ordentlich eingeheizt haben«, sagte Johann. Er rieb seine Hände, die bläulich vor Kälte waren. »Hast du keine Handschuhe dabei, Johann?« »Doch schon, aber ich mag sie nicht anziehen. Ich reite lieber einfach mit bloßen Händen. Die Handschuhe befinden sich hier in der Satteltasche.« »Na, an deinen Händen sind sie nützlicher als in der Satteltasche«, sagte Karl trocken. Als sie etwas später um eine Wegbiegung kamen und der Weg etwas anstieg, zeigte Karl schräg voraus. »Dort liegt Mainz, Johann. Morgen überqueren wir dann die Brücke über den Rhein. Und auf der rechten Rheinseite kommen wir auf den Weg nach Frankfurt. Aber zunächst sind wir in einer Viertelstunde in Mainz.«

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In Mainz

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ls die beiden sich dem Tor näherten und ihre Pferde anhielten, bemerkten sie, dass das Stadttor noch offen stand. In der Öffnung konnte man die Silhouette von zwei Torwächtern erkennen. Karl und Johann stiegen ab und führten die Pferde an den Zügeln zum Tor hinein. Als das Licht einer großen Laterne auf ihre Gesichter fiel, rief eine der Wachen: »Ha, Karl! Ein gutes neues Jahr wünsche ich dir!« Der Wächter schüttelte dem Kurier die Hand. »Willkommen in unserer schönen Stadt. Und dies gilt auch für dich, junger Mann.« Der andere Wächter sagte: »Oh ja, es ist der Kurier aus Worms.« Der ältere Torwächter begab sich mit den beiden Reisenden vom Tor aus auf die Hauptstraße. »Wie ist es im Süden, Karl?« Während er das fragte, blickte er zu Johann hinüber. »Meinem Gefährten kannst du vertrauen, Eberhardt. Und was deine Frage angeht: Hier hat sich die letzten vier Wochen nichts verändert. Die Gefahr, dass Tilly mit seinem kaiserlichen Heer noch Verstärkung aus Bayern und Österreich bekommt, ist groß. Unserer Vermutung nach wird der Angriff auf die Pfalz einsetzen, sobald das Wetter es zulässt.« Der Mann schüttelte besorgt seinen Kopf. »Wohin soll das noch führen, Karl? Obwohl ich als Torwächter ja durchaus auf vieles gefasst bin, fühle ich mich doch machtlos gegenüber dieser schrecklichen Gefahr!« »Da ist Einer, der zu helfen vermag, Eberhardt. Darüber 19


haben wir schon einmal gesprochen. Selbst wenn der Tod an uns herantritt, kann und will er Rettung geben.« Der Alte mit dem Schnurrbart blieb stehen. »Wenn man die Berichte aus Böhmen hört«, sagte er, »dann möge Gott uns beistehen, ja.« Freundschaftlich schlug er Karl auf die Schulter. »Ich wünsche dir das Beste, Karl. Ich muss zurück auf meinen Posten. Sehe ich dich morgen noch?« »Nein, wir reisen morgen zum Nordtor hinaus.« Der Mann streckte Johann seine Hand entgegen. Johann griff die Hand fest, um den Torwächter spüren zu lassen, dass er ihn gut verstehen könne. Dann ritten sie weiter zur Herberge. »Kennst du viele Leute in Deutschland, Karl, oder nur in den Städten rund um Worms?« Karl meinte: »Viele … ja, was ist viel? In einem Umkreis von fünfzig Kilometern kenne ich schon einige Torwächter und Stadträte. Und natürlich ziemlich viele Soldaten. Aber bei den wichtigen Versammlungen brauchen sie mich nicht. Dann muss der Kurier schön vor dem Sitzungszimmer warten. Ich bin schließlich nur ein Bote, der die Kontakte zwischen den Städten herstellen und Berichte überbringen muss. Aber im Laufe der Jahre lernt man immer mehr Menschen kennen. Ich weiß natürlich, von welchem Bürgermeister oder Stadtratsmitglied ich eine extra Belohnung bekomme. Aber ich weiß auch«, meinte er lachend, »welche Menschen niemals etwas geben. Sie sind natürlich nicht dazu verpflichtet, aber manchmal zeigt solche kleine Freundlichkeit, dass meine Arbeit wertgeschätzt wird.« »Aber bei uns gabst du doch auf der Versammlung deinen eigenen Bericht und sagtest deine Meinung über die Verteidigung der Stadt, Karl. Oder geschah das auf eigene Faust?« »Ja, ich weiß, was du meinst, aber ich bekam damals die Gelegenheit, das offizielle Gesuch zu erläutern, sich dem 20


Städtebund anzuschließen. Nun, wenn ich die Gelegenheit dazu bekomme, werde ich nichts ungesagt lassen. Meistens jedoch geschieht so etwas nur an kleineren Orten. In einer großen reichen Handelsstadt, so wie hier in Mainz, oder auch in Frankfurt, beschließen die hohen Herren alles selbst. Da kommt ein einfacher Kurier nicht zum Zug.« »Ist Mainz denn eine so reiche Stadt, Karl?« »Ja, durchaus. Man kann sie mit Ulm oder Augsburg vergleichen. Sie ist eine alte Handelsstadt mit viel Weinbau drum herum. Ich denke, dass Mainz mit Köln und Magdeburg zu den drei wohlhabendsten Städten Deutschlands zählt. Aber all die viele Kriegsbedrohung wirkt lähmend auf den Handel. Das verstehst du doch, oder?« »Ja, das ist doch sonnenklar«, meinte Johann. Mittlerweile hatte Karl einige Male gesagt: »Hier links und nun hier rechts die Straße hinein.« Schließlich gelangten sie zu einem großen Gasthof. Auf einem mächtigen Aushängeschild stand: ›In der Traube.‹ Darauf befand sich eine Abbildung mit einer großen, aus Eisen geschmiedeten Traube mit Ranken. Johann sah sofort, dass dieses Schild von einem kundigen Fachmann angefertigt worden war. Karl fasste ihn bei der Schulter und sagte: »Hier bleiben wir heute Nacht, Johann. Aber komm, wir bringen unsere Pferde erst in die Stallung dort hinten.« Als sie sichergestellt hatten, dass es den Pferden an nichts fehlen würde, gingen sie zur Gaststube hinein. Sie war ein großer Raum; sowohl links als auch rechts brannte offenes Feuer. An zwei Seiten der offenen Feuerstellen standen kleine Holzstühle in einem Halbkreis. Einige Männer saßen um das Feuer herum und waren in Gespräche vertieft. An den Tischen zwischen den Feuern saßen Grüppchen von Leuten, ein jeder mit einem Krug Bier oder einem großen Glas Wein vor sich. 21


Als Johann umherschaute, sah er durch drei Bogen im hinteren Teil des Saales verschiedene Esstische mit hohen, gerade Stühlen davor. Da bei ihrem Hereintreten eine bronzene Türklingel ertönte, blickten alle Männer zu ihnen herüber. Karl nahm seinen Hut ab und machte eine leichte Verbeugung, während er allen einen guten Abend wünschte. Johann zog seine dicke Wollmütze vom Kopf und murmelte das Gleiche. Die Gäste erwiderten den Gruß, setzten dann aber sogleich das Gespräch fort. Es fiel Johann auf, dass sie kaum Interesse an den Neuankömmlingen hatten. Offensichtlich war es hier üblich, dass abends noch Gäste hereinkamen. Dann trat eine Frau aus der Küchentür. Johann blieb ein wenig zurück und hörte, wie Karl Frau Süter noch viel Heil und Segen zum neuen Jahr wünschte. Er stellte ihr Johann vor und fragte sogleich, ob sie diese Nacht hier Quartier nehmen könnten. Frau Süter verstand es, ihre Gäste auf freundliche und gebührende Weise zu empfangen. Sie führte die beiden zu einem Tisch im vorderen Speisesaal, und während Karl und Johann ihre Mäntel und Kopfbedeckungen ablegten, bot sie ihnen auf Kosten des Hauses etwas zu trinken an. Karl bestellte einen Seemannstrunk, wobei Johann warme Milch vorzog. Als Frau Süter die Bestellung besorgte, fragte Johann flüsternd: »Soll ich meinen Pistolengürtel auch an die Garderobe hängen, Karl?« »Nein«, antwortete Karl entschieden, «einfach anbehalten. Unter deinem Hemd kann man den schon vermuten, aber nicht sehen. Wenn er dich später beim Essen stört, lockerst du einfach den Riemen etwas. Du musst dir angewöhnen, die Waffen immer bei der Hand zu haben.« 22


Kurze Zeit später gab die Frau Johann seinen Becher Milch und schenkte Karl aus einem steinernen Krug ein Gläschen mit dunkelbrauner Flüssigkeit ein. Dann fragte sie: »Möchtet Ihr noch etwas aus der Küche haben? Die meisten haben schon gegessen. Aber es sind noch zwei oder drei, die noch eine Mahlzeit haben wollen. Wir sind dabei, diese zuzubereiten. Wenn Ihr auch noch essen wollt, sagt es ruhig.« Karl lachte und sagte: »Mein Freund sprach eben noch von einem gebratenen Hähnchen oder Schinkenscheiben, glaube ich. Wenn Ihr ihm diesen Gefallen tun könntet, schließe ich mich seinem Wunsch gerne an.« Die Frau schaute Johann an und sagte: »Ja, in dem Alter und dann nach einer langen Tour durch das frostige Wetter! Mit dem Hähnchen ist es schwierig, das würde etwas länger dauern. Aber die Schinkenscheiben sind überhaupt kein Problem.« »Nun, das ist ausgezeichnet, gnädige Frau«, meinte Johann. »Dann nehmen wir das doch – gerne mit etwas Brot dazu.« Karl nickte der Frau zu und sagte: »Ich bin mir sicher, Ihr wisst, wie sehr wir das zu schätzen wissen, Frau Süter.« »Das geht schon in Ordnung, Kurier. Ihr könnt solange beim Feuer Platz nehmen oder hier sitzen bleiben.« »Wir gehen später vielleicht noch einmal zum Kaminfeuer hinüber. Vorläufig sitzen wir hier bestens«, gab Karl zur Antwort. Dann fragte Johann: »Was trinkst du da eigentlich, Karl? Das sieht aus wie verdünnter Teer oder Pech.« »Wie kommst du da drauf? Hier, riech doch einmal. Riecht das nach Pech oder Teer?« Er spürte durchaus, dass Johann ihn aufziehen wollte, tat aber so, als ob er es nicht merkte und sagte: »Du kannst gerne ein Schlückchen probieren. Es ist eine Kräutermischung 23


in Alkohol. Ich stand einmal dabei, als ein holländischer Schiffer eine Kiste von diesem Getränk hier ablieferte. Der Schiffer behauptete, es sei heilsam für Magen und Darm und würde den Appetit anregen. Nun, ich finde es schmeckt gut. Und wenn es dem Herrn Recht ist, hätte ich gerne den Rest zurück.« Johann hatte nämlich nach dem Probieren noch einen viel größeren Schluck genommen, so dass das Glas nun eher leer als voll war. Das aber bekam ihm schlecht. Denn als er vor Lachen prustete, verschluckte er sich! Die braune Flüssigkeit, die bitter und süß zugleich war, geriet ihm falsch in die Kehle. Er hustete so heftig, dass ihm Tränen in die Augen schossen. Karl schlug ihm einige Male auf den Rücken, während er brummte: »Unrecht schlägt den eigenen Herrn. Das Zeug ist nichts für kleine und große Kinder, merkst du das?« Johann musste trotz des Hustens lachen, war aber nicht imstande, eine Antwort zu geben. Inzwischen hatte sich ein Mönch aus dem hinteren Raum genähert und fragte freundlich: »Kann ich dir helfen, Freund? Es scheint dir nicht gut zu gehen.« Johann konnte während des Hustens nun doch, wenn auch mit Mühe, hervorbringen: »Nein, nicht doch, ich habe mich nur verschluckt.« Karl musterte den Geistlichen prüfend. Der Mann sah keineswegs aus wie ein gewöhnlicher Mönch. Er trug über der Kutte ein Samtoberteil mit einem feinen weißen Kragen. Der Mann machte eine leichte Verbeugung und sagte: »Ich bin Visitator Rosenheim von den Benediktinern. Ich hörte von Frau Süter, dass Ihr ebenso wie ich und mein Fuhrmann und der Kaufmann dort beim Feuer die Mahlzeit noch einnehmen wollt. Habt Ihr etwas dagegen, wenn wir gemeinsam essen?« 24


»Nein, keineswegs«, sagte Karl, »das ist sogar sehr angenehm.« Sie sahen dann, dass ein Mädchen einen der Esstische herrichtete. Sie stellte einen Kerzenständer mit vier Talgkerzen auf die Mitte des Tisches. Tönerne Teller und Besteck für fünf Personen folgten. Kurze Zeit später betrat Frau Süter die Gaststube und tippte einem der Männer im Kreis um das Kaminfeuer auf die Schulter. Der stand rasch auf und nahm hinter einem der Teller Platz. Danach lud die Wirtsfrau auch den hochwürdigen Mönch, seinen Knecht sowie Karl und Johann ein, sich zu Tisch zu begeben. Die Männer setzten sich, und während Johann seine Hände faltete, sagte Karl: »Wir sollten einen Segen für die Mahlzeit erbitten.« Der Geistliche und sein Fuhrmann schlugen vor und nach ihrem Gebet ein Kreuz. Der Kaufmann schaute nur zu und verhielt sich still. Die Kellnerin trug inzwischen eine große Platte mit gebackenen Schinkenscheiben heran, von deren Geruch Johann sofort das Wasser im Munde zusammenlief. Auch die Schale mit braungebratenen Zwiebeln und Schüsseln mit vier Gemüsesorten und dazu eine süß-säuerliche Soße ließen den Appetit zunehmen. Dann kam Frau Süter selbst herbei und servierte einen Korb voller verschiedener Sorten Brot, dazu einen Klumpen goldgelber Butter. »Ich hoffe, dass es ausreichend ist, gnädige Herren. Aber wenn es nicht ausreichen sollte, haben wir noch genug da. Was darf ich zu trinken bringen?« Alle fünf bestellten das bekannte leichte Tafelbier. Sie wurden gleich durch die Wirtin selbst bedient, die offenbar in der Lage war, fünf große Bierkrüge gleichzeitig zu tragen. 25


Zunächst aßen alle mit sichtlichem Appetit, und es wurde nichts geredet. Dann aber blickte Karl den Mönch an und eröffnete das Gespräch. »Ich dachte, dass die Benediktiner in Einfachheit leben und auch nicht unbedingt umherreisen.« Der Mönch blickte auf. Er hatte längst bemerkt, dass Karl und Johann Protestanten waren. »Das ist richtig«, sagte er ruhig. »Wir müssen das Klostergelübde fürs ganze Leben ablegen. Das bedeutet unter anderem, dass wir auf eigenen Besitz und Eheschließung verzichten und unserem Abt absolut gehorsam bleiben müssen. Und es heißt auch, dass wir das Kloster nicht oft verlassen dürfen. Ich bin aber eine Art Aufseher, der für seinen Orden verschiedene Klöster besucht und gewissermaßen Sprechstunden für seine Brüder hält. Zudem muss ich kontrollieren, ob alles nach unseren Regeln geschieht. Darum bin ich viel unterwegs. Zumeist logiere ich mit meinem Fuhrmann in dem einen oder anderen Kloster, aber manchmal, so wie jetzt, komme ich auch in einem Gasthof unter.« Johann schaute von dem einen zum anderen und dachte: »Darf man diesem Mann wohl trauen?« Karl hörte ruhig zu, während er das Essen fortsetzte. Der Kaufmann ließ sich nichts anmerken, aber Johann konnte gut erkennen, dass ihm nichts entging. Als der hohe katholische Geistliche schwieg, nickte Karl einige Male als Zeichen, dass er alles verstanden hatte. Dann sagte der Herr Visitator: »Ihr seid keine Katholiken, oder?« »Nun, wir sind schon katholisch, denn ›katholisch‹ heißt ja ›allgemein‹ und wir sind Glieder der allgemeinen christlichen Kirche. Wir fühlen uns aber vor allem mit dem Heiligen Augustinus verbunden, besonders allerdings mit Doktor Martin Luther«, sagte Karl lachend. »Ich kann mir vorstel26


len, dass Ihr sehr viel wisst, denn Ihr habt sicherlich ein sehr hohes Amt in Eurer Kirche, oder eine Oberaufsicht.« »Ja, bei uns Benediktinern bekleide ich das Amt eines Visitators«, bei den Augustinern spricht man da vielleicht von einem Generalvikar«, entgegnete der freundliche Mönch. »Und über wie viele Benediktinerklöster habt Ihr denn die Aufsicht?«, fragte Karl. »Über neunzehn,« sagte Visitator Rosenheim, ohne darüber nachzudenken. »Na«, sagte Karl. »Dann habt Ihr doch mittlerweile selbst entdeckt, dass die Mönche auch ihr sündiges Herz ins Kloster mitgebracht haben, oder? Gerade jemand wie Ihr sollte dies doch bemerken – zumindest, wenn Ihr ehrlich seid.« Der gelehrte Mönch schaute ihn etwas verwirrt an, ohne aber zornig zu werden und stellte sogleich eine Gegenfrage: »Was für eine Arbeit verrichtet Ihr, wenn ich fragen darf?« »Ich bin der Kurier der Stadt Worms. Und dies ist mein Freund und Reisegefährte.« Mit seiner Gabel zeigte er auf Johann. Der Mönch äußerte schlagfertig: »Dann dürfte es Euch aber auch nicht entgangen sein, wie viele gute Dinge in den Klöstern zu finden sind. Wenn ich an die vielen Stunden denke, die meine Brüder brauchen, um die Bibel und die heiligen Bücher auszumalen oder zu studieren! Hinzu kommt die Pflege von Kranken, der Schulunterricht, überhaupt das Weitergeben von Wissen, so dass die Bauern mehr Ertrag aus ihren Äckern holen. All diese Dinge dürften Euch doch nicht unbekannt sein, nicht wahr?« »Und dann habt Ihr noch vergessen, dass die Mönche den Fremdlingen, die anklopfen, eine Unterkunft verschaffen«, meinte Karl und nickte dem Visitator zu. »Es ist wohl wahr, dass es nicht mehr überall so läuft wie im Kloster Monte Casino, wo der Begründer Eures Ordens, Benedikt von Nursia, 27


die berühmte Benediktinerregel aufstellte. Aber in der Tat, überall geschehen durchaus gute Dinge, das will ich nicht abstreiten!« Der vornehme Mönch schaute ihn überrascht an. »Ich merke, dass Ihr einiges darüber wisst. Aber was habt Ihr denn gegen meine Klöster oder gegen meinen Orden einzuwenden?« Der Kaufmann fiel ihm ins Wort. »Soll ich für Euch auch noch einen Krug Bier bestellen, Männer? Dann verdaut es sich besser und das Reden geht auch etwas flüssiger vonstatten.« Sie stimmten alle gern zu. Der Mann stand auf und gab seine Bestellung auf. Kurze Zeit später kam das Mädchen mit den Getränken und schaute, ob von allem noch genug am Tisch stand. »Ruft nur, Ihr Herren, wenn etwas gebraucht wird«, sagte sie vergnügt, ohne auf Rang und Würden der Gäste zu achten. Sie nickten ihr zu und setzten geruhsam das Essen fort. Karl sagte, während er seinen Teller zurückschob: »Was mich angeht, ich habe genug. Es war prächtig. Meine Komplimente an die Küche. Komm Johann, du sollst hoffentlich noch etwas wachsen. Es ist genug da.« Dann sagte der Mönch, der wohl doch ein wenig gereizt wirkte: »Nun, Stadtkurier, was habt Ihr gegen meinen Orden und vor allem gegen ihren Gründer, den heiligen Benedikt?« »Na, na, nur keine Aufregung«, sagte Karl lachend. »Ich finde Euch viel zu nett, um mit Euch einen Streit anzufangen. Dann möchte ich lieber ein anderes Thema beginnen. Wenn wir aber in aller Offenheit sprechen können, halte ich das für eine gute Sache.« Es blieb einen Moment lang ruhig und vier Gesichter schauten den Geistlichen an. Die Stille blieb. Sollte sich ein so hoher katholischer Geistlicher etwas sagen lassen? 28


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Dazubezahlen, oder alles umsonst?

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ls der Visitator antwortete, traf das Sprichwort zu: »Der Ton macht die Musik.« Er sagte ruhig und beherrscht: »Gut, Ihr habt Recht. Aber ich bleibe doch bei meiner Frage, was Ihr denn gegen das Klosterwesen habt. Das ist doch eine ehrliche Frage, nicht wahr? Es geht hier doch mehr darum, was selbst Pilatus fragte, als er mit Jesus sprach: ›Quid est veritas?‹, aber er wusste nichts vom ›Est vir qui adest!‹« Karl schaute ihn fragend an und meinte dann zögerlich: »Pilatus fragte Jesus in Johannes 18,38: ›Was ist Wahrheit?‹, was auf Lateinisch ›Quid est veritas?‹ heißt. Aber was bedeutet denn ›Est vir qui adest!‹? Bitte nehmt es mir nicht übel, aber ich bin in Latein nicht sehr bewandert.« »Aber Euren Standpunkt könnt Ihr schon durchaus gründlich verteidigen«, sagte der Visitator forsch. »›Quid est veritas?‹ bedeutet in der Tat ›Was ist Wahrheit?‹ Aber wenn man die Buchstaben dieses Satzes anders anordnet, ergibt es den Satz ›Est vir qui adest‹. Und das heißt: ›Es ist der Mann, der vor dir steht.‹ Pilatus wusste zwar, dass Jesus unschuldig ist, aber ihm war nicht klar, dass Jesus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist.« »Genau«, sagte Karl, »und damit bin ich mit Euch einer Meinung. Und gerade weil Jesus ein vollkommener Retter ist, gibt es keine Verdienste, die von unserer Seite noch dazubezahlt werden können oder müssen. Deshalb ist Jesus der 29


alleinige und vollkommene Erlöser von Sünde und Gericht, sonst hätten er oder sein Werk noch irgendwelche Mängel. Aber allein schon vor diesem Gedanken schrecke ich zurück!« Den letzten Satz sprach Karl im Brustton der vollsten Überzeugung aus. Doch danach klang seine Stimme gleich wieder ruhig: »Ich habe nichts Spezielles gegen Benedikt und seine getreuen Nachfolger. Ich glaube selbst, dass diese Männer so manches gute Werk getan haben. Mein Bedenken richtet sich gegen die gesamte Idee des Klosterlebens. Und prinzipiell gegen die Einsiedler aus dem 4. Jahrhundert, mit denen alles begonnen hat. Es ist eine gute Sache, wenn ein Adamskind sich für eine gewisse Zeit zum Studieren und Nachdenken absondert, aber danach muss es rasch auf den Kampflatz des Lebens zurückfinden. Jesus sagte, seine Jünger sind ›in der Welt, aber nicht von der Welt‹, und das trifft den Nagel auf dem Kopf.« Der Mönch war mehr von der Überzeugung beeindruckt, mit der der Kurier dies sagte, als von den Worten selbst. Inzwischen waren alle vier gesättigt und tranken noch etwas zusammen. Der hochwürdige Visitator meinte dann: »Ich weiß natürlich auch, dass es Zeiten gab, in denen Dinge in den Klöstern geschahen, die nicht gut waren, aber gerade in den letzten Jahren hat sich vieles verbessert. Und für viele meiner frommen Brüder ist das Klosterleben doch ein großer Segen. Da bin ich mir sicher. Und darüber hinaus: Wenn Ihr Euch gut in der Bibel auskennt, solltet Ihr doch wissen, dass im Hebräerbrief im 12. Kapitel, ich glaube in Vers 14, steht: ›Jagt nach dem Frieden mit jedermann und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn sehen wird.‹ Das ist eine großartige Wahrheit und darum erinnere ich auch meine Klosterbrüder in den Gesprächen mit ihnen immer wieder daran.« 30


»Das kann durchaus so sein«, brummte Karl, »aber dieses ›dem Frieden mit jedermann nachjagen‹ gilt für Euch wohl gewiss nicht in Bezug auf die Protestanten, oder? Besonders denke ich da an die armen Protestanten in Böhmen. Aber das Thema können wir getrost ruhen lassen. Ich glaube, dass unser Unterschied viel tiefer liegt. Im ganzen Denken der katholischen Kirche sind wir Menschen einfach Sünder, da wir viele Sünden begehen. Je mehr Sünden wir beim Älterwerden tun, desto größere Sünder sind wir vor Gott.« »Natürlich ist das so«, sagte der Mönch erstaunt, »seid Ihr da anderer Auffassung?« Auch Johann und der Kaufmann blickten verwundert auf Karl. Der Kurier erklärte ruhig weiter: »Es ist daher verständlich, dass die Mönche versuchen, heilig und gut zu leben, und deshalb hat Eure Kirche auch so viele Sakramente nötig, um den Schaden zu begrenzen! Das geht bis hin zur Ölung von Sterbenden. Aber das Verständnis eines Menschen, der weiß, dass er zu hundert Prozent allein von der Gnade Gottes abhängig ist, ist ein völlig anderes. Wir sündigen, weil wir Sünder sind, denn wir stammen von Adam ab. Und weil das Gift der Sünde so ansteckend ist, das unser Herz davon völlig durchdrungen ist. Oh, und ich weiß, es führt zu tiefer Reue, wenn wir ehrlich bedenken, dass wir nicht nur einige, sondern alle Gebote Gottes übertreten. ›An Dir allein habe ich gesündigt‹, heißt es in Psalm 51, und zwar schwer und oft. Auch steht da: ›Siehe, in Schuld bin ich geboren und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.‹ Von dem Augenblick meiner Geburt an war ich der Gegenstand des göttlichen Zornes wegen meiner Sünden.« Bevor der Mönch eine Antwort geben konnte, erschien Frau Süter am Tisch. Sie fragte, ob alles nach Wunsch geregelt sei, oder ob noch etwas benötigt würde. Als die Männer der 31


Reihe nach versichert hatten, dass es an nichts fehle, lud Frau Süter die Männer ein, ums Feuer herum Platz zu nehmen. Der Kreis um das Feuer war an der einen Seite schon gefüllt. Auf der anderen jedoch saßen nur drei Personen, so dass hier noch Platz war. Sie schoben ihre Stühle in den Kreis und setzten sich. Der Mönch war von dem Gespräch so angetan, dass er sicherstellte, neben dem Kurier Platz zu nehmen. Natürlich gehörten Johann und der Kaufmann ebenfalls zu der Runde. Der Mönch meinte dann: »Aber Ihr wollt doch nicht behaupten, dass der Mensch gar nichts Gutes tun kann? Ihr als Kurier kommt doch an genügend Orten vorbei, wo Ihr selbst sehen konntet, dass es noch hilfsbereite und freundliche Menschen gibt, oder etwa nicht? Das sind doch gute Werke? Es gibt doch zum Glück noch Nächstenliebe in der Welt!« »Nun«, sagte Karl nachdenklich, »die Nächstenliebe war in Böhmen im vergangenen Jahr weit weg. Und wenn Ihr in Euren Klöstern da draußen noch etwas Nächstenliebe findet, dann ist das eine Folge von Gottes allgemeiner Güte und seiner bewahrenden Hand über Länder und Völker. Wenn das nicht so wäre, hätten wir gänzlich die Hölle auf Erden. Die Menschen wären wie reißende Tiere. Natürlich hat Gott uns noch ein gewisses Bewusstsein von Gut und Böse erhalten. Darum spürt auch jeder vernünftige Mensch durchaus, dass es eine höhere Macht gibt, die alles lenkt. Das ist die natürliche Gotteserkenntnis. Daher opfern heidnische Völker ihren Göttern. Oder sie verehren etwas, sei es nun den Mond, einen dicken Baum oder sonst irgendein Götzenbild. Jeder hat letztlich auch ein Gewissen vom Schöpfer erhalten. Darum ist der Mensch auch nicht zu entschuldigen. Das alles aber als gute Werke des Menschen zu bezeichnen, wäre verkehrt. ›Ein schlechter Baum kann kei32


ne guten Früchte bringen‹, sagt der Heiland in Matthäus 7. Wie soll ein Mensch vor Gott gerecht sein – ein gefallener Mensch, der von Adam abstammt? Er kann die Schuld doch nur noch größer machen!« Karl sprach frei heraus und auch die drei Männer, die auf der anderen Seite beim Feuer saßen, konnten ihn mit etwas Mühe verstehen. Johann bemerkte, dass sich unter ihnen zwei junge Männer befanden, die sich so sehr ähnelten, dass er keinen Unterschied feststellen konnte. Der eine, der neben ihm saß, bemerkte, dass Johann ihn mit dem anderen verglich und sagte: »Ja, wir sind Zwillingsbrüder. Sag mal, ist dein Kamerad etwa Doktor oder Pfarrer? Er sieht gar nicht so aus. Hat er heute etwa die falsche Kleidung an?« »Nein«, antwortete Johann, »er ist Kurier, aber er weiß einfach vieles aus der Bibel.« Inzwischen versuchte Karl, den Mönch davon zu überzeugen, dass in einem sündigen, gefallenen Menschen keine gottgemäße Gerechtigkeit mehr zu finden sei. In Römer 3 steht, dass Gott selbst Ausschau hält, ob denn da noch ein Gerechter zu finden sei; aber nein, nicht ein einziger Sündloser konnte gefunden werden. Schließlich meinte Karl: »Selbst König David musste, als er auf sich selbst blickte, inständig bitten: ›Geh nicht ins Gericht mit deinem Knecht, denn niemand, der lebt, wird vor deinem Angesicht gerecht sein.‹« Karl sagte entschuldigend: »Das steht in einem seiner Psalmen, aber ich weiß nicht genau in welchem. Ich kann mir eher Sätze und Inhalte merken als Zahlen.« Der Mönch saß tief in Gedanken versunken da. Er merkte gar nicht, dass das Dienstmädchen die Männer fragte, ob sie noch etwas zu trinken haben wollten. 33


Karl stieß ihn an und fragte freundlich: »Möchtet Ihr noch etwas trinken, Herr Visitator? Ich gebe einen Umtrunk aus.« Er wandte sich zur anderen Seite, beugte sich über Johann hinweg und fragte die drei Unbekannten: »Darf ich Euch ebenfalls etwas zu trinken anbieten?« Nachdem das Mädchen sich auf den Weg gemacht hatte, die Bestellung auszuführen, fragte der Mönch: »Ihr habt allerhand Bibelkenntnis für einen Kurier. Ihr habt sicherlich viel gelesen?« Auf diese Frage hin schauten alle auf Karl. Der strich durch seinen kurzen Bart und sagte: »Ja, das kann ich schon sagen. Mein Großvater war der Bibliothekar der weithin bekannten Bibliothek von Heidelberg. Da mein Vater schon jung verstorben ist, war ich viel bei ihm. Ich habe manche Nachmittage zwischen den Büchern verbracht. Dort kannte ich ein angenehmes und stilles Plätzchen, und Großvater wusste durchaus, was gut für mich war. Solche Bücher zu finden war keine Schwierigkeit für ihn, obgleich er mir erzählte, dass sich dort beinahe neuntausend Bücher befänden, dazu noch die Handschriften. Opa war stolz darauf. Er behauptete, dass die Bibliothek von Heidelberg die schönste in Deutschland sei. Ob das so ist, weiß ich nicht. Dass aber all die Handschriften und Bücher von äußerst großem Wert sind, stimmt sicherlich. Die Studenten der Universität kamen auch immerzu in die Bücherei. Einige brachten mir sogar Bücher mit schönen Bildern mit.« Er lachte, als er dies sagte. Die Bedienstete brachte ein volles Tablett und verteilte die Getränke, und die Männer stießen auf Karls Gesundheit an. Einer der Zwillinge sagte: »Kurier, ich habe vielleicht vier oder fünf Bücher gelesen und das hat mich große Mühe gekostet. Aber ist es denn gerecht von Gott, wenn er alle Dinge weiß? Dann weiß er doch auch, dass ein sündiger Mensch 34


nichts Gutes mehr tun kann. Man kann doch von niemandem verlangen, dass er etwas tun soll, wovon man weiß, dass er es niemals tun kann, nicht wahr? So einer hat doch überhaupt keine Chance!« Obwohl es so nah am Feuer sehr warm war, beugten sich die Männer noch etwas vor, um Karl sehen zu können. Und das Mädchen hatte im Vorübergehen noch vier weitere Stücke Holz in die Glut gelegt, so dass die Flammen hochschlugen. Karl, der mitten davor saß, schob seinen Stuhl etwas zurück; die anderen taten es ihm gleich. Johann sagte dann: »Wir könnten hier hinten an einem runden Tisch Platz nehmen. Heute Abend wird doch niemand mehr zum Essen kommen.« Aber der Visitator meinte: »Wir könnten auch ein wenig zurückgehen und einen kleineren Kreis bilden.« »Das ist eine gute Idee«, sagte Johann und begann sogleich seinen Stuhl zu verschieben. Kurze Zeit später saßen sie in einem kleinen Halbkreis mit sieben Personen zusammen. Karl blickte in die Runde, wobei seine Augen bei jenem Mann stehen blieben, der neben dem Zwilling beim Feuer gesessen hatte. Es kam ihm vor, als ob er ihn etwas fragen wollte, hielt sich aber dann doch zurück. Dann wandte er sich dem Fragesteller zu und sagte: »Wenn ein König seine guten Gesetze aufrechterhalten möchte, tut er das auch gegenüber Verbrechern, die immer wieder aufs Neue Missetaten begangen haben. Gott hat uns gut erschaffen. Seine Gesetze, die zehn Gebote, sind gut, und er wird daran festhalten. Er wird sich nicht von seiner Linie abbringen lassen, ganz gewiss nicht durch unsere sündige Art. Er ist vollkommen gerecht und fordert auch von seinen Menschen auf allen Gebieten eine vollständige und 35


vollkommene Gerechtigkeit. Er ist unser Schöpfer und darum handelt er auch gerecht, weil wir rein und gut aus seiner Hand hervorgegangen sind. Das will aber nicht heißen, dass Gott nicht weiß, wie es nun um uns bestellt ist. Im Gegenteil. Weil er – mit Ehrfurcht und im Bild gesprochen – weiß, dass wir keine Hufeisen mit unseren Händen zerbrechen können, hat er für jemanden gesorgt, der kann, was wir nicht können. Jemand, der genauso mächtig und stark ist wie er selbst. Daher beharrt Gott zu hundert Prozent auf seiner rechtmäßigen Forderung. Seine Gesetze sind gut, das ist sicher. Er verlässt auch nicht seinen heiligen Richterthron, um auf dem Gnadenthron Platz zu nehmen. Eben darum sorgte er für einen Gerechten, der alle Gebote vollkommen gehalten hat: Das ist sein eigener Sohn, der Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Herr Jesus Christus. Das ist das Evangelium! Und hierin stimme ich Martin Luther zu. Allein durch Christi vollkommenes Werk und Opfer können wir gerettet werden. DURCH IHN, das sollte in goldenen Großbuchstaben geschrieben werden. Er ist unsere einzige Hoffnung auf Rettung. Unter dem Himmel ist kein Name gegeben, wodurch wir selig werden können. ›Die Strafe lag auf ihm, damit wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt worden‹, sagt Jesaja in Kapitel 53. Wenn die Juden sagen, dass der Messias noch kommen müsse, sollten sie betend im Buch des Jesaja lesen, denn dort wurde das Leben von Jesus von Nazareth vorgezeichnet.« Der Visitator nickte und sagte: »Mit Letzterem bin ich von Herzen einer Meinung mit Euch. Die ungläubigen Juden sind Feinde des Evangeliums.« »Nun ja, Herr Visitator«, sagte Karl. »Die Juden haben durchaus ein Brett vor dem Kopf, so dass sie nichts sehen können. Aber der Apostel Paulus spricht doch mit Liebe und 36


herzlicher Zuneigung über das alte Volk Gottes. Aber das ist eine andere Sache. Uns ging es darum, ob gute Werke zu unserer Seligkeit beitragen können, und insbesondere um die Mönche, welche in den Klöstern ihr Leben der Religion weihen. Meine Überzeugung ist: Was unsere Verdienste für unsere Seligkeit angeht, können wir selbst nichts beitragen. Darum muss Gott uns von Adam abschneiden und in Christus einpflanzen. Und das tut er durch den rettenden Glauben. Gottes lebendig machender Geist tut dieses Werk im Herzen der Seinen. Danach beginnen die aus Gnade Erlösten gute Werke zu tun – und zwar aus Dankbarkeit. Aber dann kommt es aus einer ganz anderen Quelle, nämlich aus der Quelle lebendigen Wassers, das Christus uns anbietet. Solche Menschen beginnen aus Glauben zu leben. Sie verlassen sich demütig auf Gottes Zusagen. Wenn sie den vollkommenen Heiland empfangen haben, beginnen sie zu lernen, dass in ihm alle Zusagen und Verheißungen Gottes erfüllt sind – ›Ja und Amen‹ sind, wie die Bibel es sagt. Dann werden sie nach und nach selbst die Verheißungen der Bibel in Anspruch nehmen, so wie sie gerade auf die jeweilige Situation anwendbar sind. Der Herr ist gerecht in all seinen Wegen und Werken. Auch im Geben eines vollkommenen Heilandes. Von mir selbst kann nichts dazukommen und muss es auch nicht, versteht Ihr das nicht, Herr Visitator Rosenheim?« Mit zunehmender Ergriffenheit hatte Johann aufmerksam zugehört. Auch die anderen lauschten mit mehr als nur bloßem Interesse Karls Ausführungen. Einer der beiden Zwillinge saß vorgebeugt mit dem Kopf auf seine Hand gestützt. Da es still blieb, drehte sich Karl dem Mönch zu und sagte freundlich: »Jedenfalls habt Ihr aufmerksam zugehört. Viele Eurer Mitbrüder, vor allem, wenn sie etwas gelehrter 37


sind, werden rasch ärgerlich. Ihr scheint aber nicht so fanatisch zu sein, nicht wahr?« Der Visitator meinte etwas unsicher: »Ich höre gerne einer guten Erörterung zu, was aber nicht heißt, dass ich mit allem übereinstimme. Ihr sagt im Grunde, dass allein geschenkter Glaube selig machen kann. Aber wie steht es dann um die heiligen Sakramente? Sie sind doch wohl nötig, um uns in den Himmel zu bringen!« ›Du meine Güte‹, dachte Johann, ›womit kommt der Kerl denn nun wieder an? Karl wird hier doch hoffentlich auch eine Antwort wissen?‹ Als die Tür des Gasthofes plötzlich aufging und zwei lachende Männer hereinkamen, schaute Johann gleichzeitig mit allen anderen auf. Einer von den zwei Ankömmlingen ging sogleich nach hinten, um zwei Krüge Bier zu bestellen, und der andere nahm seitlich am Stuhlkreis ums Feuer Platz. Er nickte und grüßte, während er den Stuhl für seinen Kameraden zurechtrückte. Er rieb die kalten Hände und streckte sie dem Feuer entgegen. Die Frage des Mönchs blieb in der Zwischenzeit noch unbeantwortet. Johann sah, wie sein Freund in tiefen Ernst versunken dasaß, und er betete leise: »Herr, bitte hilf Karl, eine gute Antwort zu finden.« Die Bedienstete brachte das Bier. Und während einer der Neuankömmlinge sagte: »Gesundheit, Kameraden! Ein Krug Bier ist gut vor dem Schlafengehen«, da dachte Johann: ›Schade, diese Störung! Wenn man sich nur vorstellt, dass ein so mächtiger Mann zu Gott bekehrt würde und dann all den Mönchen in den neunzehn Klöstern vom Heiland erzählen würde! Sollte das vielleicht der Grund dafür sein, dass Karl so lange die Diskussion aufrecht erhielt und dass der hohe Herr immer noch bereitwillig zuhörte?‹ 38


Inzwischen wurden wieder Bestellungen an das Mädchen aufgegeben und sie entschwand nach hinten. Der Visitator Rosenheim fragte dann erneut: »Wie seht Ihr die Bedeutung der heiligen Sakramente, Kurier?« Sogleich schoss ein Gedanke durch Johanns Kopf, mit dem er sich vor ein paar Jahren einmal intensiv beschäftigt hatte. Da er seinem Freund gerne helfen wollte, sagte er spontan: »Die Taufe ist ein Sakrament und ich hörte einst einen Prediger erklären, dass sie weder ein Ruhekissen noch ein sandiger Baugrund sei. Er nannte sie einen Grund, auf den man fest bauen kann. Man kann bei Gott auf die Taufe pochen. Stimmt das, Karl?« »Ja«, sagte dieser. »Das ist so. Man darf Gott auf die Taufe hinweisen. Man darf ihn bitten, dass er die Sache, welche die Taufe bedeutet, auf das Herz anwendet. So wie Wasser unseren schmutzigen Körper reinigt, kann das Blut Christi unser beflecktes Herz und Gewissen abwaschen und vollkommen reinigen. Der Herr Visitator scheint hier aber zu meinen, die Taufe und andere Sakramente hätten eine Wirkung für unsere Seligkeit.« Dieser nickte, und dann meinte Karl: »So wie die Spitze eines Zirkels fest an einem Punkt steht, so muss unser Leben in Gott fest gegründet sein. Zunächst einmal sind wir abgeschnitten von Adam durch die scharfe Pflugschar des Gesetzes. Oder wenn Ihr so wollt, durch die Gartenschere der Gerechtigkeit Gottes. Danach müssen wir durch einen geschenkten Glauben in Christus eingepflanzt werden. Dieser Glaube lässt uns auch Gottes Wohlwollen in Christus erfahren. Dieser Glaube ist die Verbindung zum anderen Fuß des Zirkels. Dieser Fuß zeichnet die sichtbare Alltagspraxis in unserem Leben. In vielerlei Linien und in großen und kleinen Kreisen bewegen wir uns dann. Das Leben von Gottes Volk gleicht einem Zirkel. Der Fuß, der 39


schreibt, ist nicht losgelöst von dem anderen, der feststeht. Hinterher erkennt ein solcher Gläubiger dann in der Vielfarbigkeit seiner Lebensführung und in den entstandenen Bildern, was das alles zu bedeuten hatte, und dass der Herr es am Ende alles gut geführt hat. Soli Deo Gloria – allein Gott sei die Ehre. Als besondere Stärkung hat Gott nun die zwei Sakramente gegeben. Sie sind Zeichen und zugleich Siegel, um die Verheißungen des Evangeliums besser zu verstehen und daran festzuhalten. Sie dienen der Bestärkung der drei guten Gaben Gottes: Glaube, Hoffnung und Liebe. Sie gründen sich alle auf das einzigartige Opfer Christi am Kreuz, das dargebracht wurde zur Vergebung der Sünden und zur Erlangung des ewigen Lebens, allein durch Gottes Gnade. Ihr merkt also schon, Herr Visitator, dass ich die Sakramente sehr eng beieinander sehe, um nicht zu sagen als ein Ganzes betrachte, zusammen mit der vollkommenen Gnade Gottes in Christus für einen armen Sünder. Wohlgemerkt: einen Sünder, der überhaupt keine Rechte geltend machen und keine guten Werke vollbringen kann.« Er schwieg, denn an der anderen Seite der Wirtsstube waren drei Männer aufgestanden. Sie wünschten den anderen Gästen eine gute Nachtruhe und liefen dann um die Ecke des großen Raumes, wo eine breite Treppe nach oben führte. Auch die Zwillinge standen nun auf und gaben zu erkennen, dass sie zu Bett gehen wollten. »Wir sollten allmählich auch einmal fragen, wo unser Zimmer ist, Johann«, meinte Karl. Dann fragte der Visitator freundlich: »Reist Ihr morgen in nördliche Richtung, Kurier? Könnten wir dann nicht vielleicht noch ein Stückchen gemeinsam ziehen?« »Wir müssen auf jeden Fall auch in den Norden. Ich wollte morgen durch den Taunus in Richtung Limburg reisen 40


und dann durch den Westerwald nach Siegen. Aber wohin führt denn Eure Reise?« »Ich muss nach Koblenz. Vor den Toren der Stadt liegt ein Kloster, von uns aus gesehen nicht so weit vom Rhein entfernt. Es dürfte kein großer Umweg für Euch sein. Ihr könnt auch von Koblenz aus nach Siegen weiterreisen und morgen Abend mit Eurem jungen Freund in unserem Kloster übernachten. Ihr wäret dann meine Gäste.« Karl blickte zu Johann. »Was denkst du darüber, Johann?« Dieser dachte: ›Wäre das denn nicht zu gefährlich?‹ Er dachte an die geheimen Papiere im Schaft von Karls Stiefel. Würden sie sich damit nicht in die Höhle des Löwen begeben? Daher sagte er: »Karl, du hast das Sagen. Wenn du gehst, gehe ich mit dir mit.« Karl brummte, während er seinen Bart rieb: »Es ist für uns schon ein Umweg, aber kein großer. Wir nehmen Euer freundliches Angebot daher an, Herr Visitator.« »Ausgezeichnet«, sagte der Mönch. »Dann werde ich meinen Fuhrmann darüber unterrichten.« Er zeigte auf einen Mann, der noch bei den anderen im Kreis um das Feuer saß und sich unterhielt. »Ich habe einen leichten Reisewagen für zwei Personen mit einigen Bücherkisten darauf. Wenn wir morgen den Rhein entlang reisen, können wir das Gespräch fortsetzen.« Er stand auf und gab seinem Knecht Anweisungen. Kurze Zeit später zeigte die Bedienstete Karl und Johann ein einfaches, aber schönes Zweibettzimmer. Sie überreichte den Schlüssel und fragte, zu welcher Zeit sie morgen früh das Frühstück zu sich nehmen wollten. »Johann, ist sieben Uhr in Ordnung?«, fragte Karl. »Das ist ausgezeichnet, Karl. Muss der Visitator das nicht auch wissen?« »Oh ja, das ist höchstwahrscheinlich ganz praktisch.« 41


Er bat das Mädchen, den Visitator Rosenheim und seinen Knecht wissen zu lassen, dass sie um sieben Uhr frühstücken würden. Dann könnten sie gleichzeitig abreisen. Sie versicherten ihr noch, dass alles bestens in Ordnung sei und bedankten sich für die gute Verpflegung. Sie ihrerseits wünschte eine gute Nacht und verabschiedete sich. Auf dem Tischlein stand neben einer dicken Kerze auch eine Laterne. Beide zusammen gaben reichlich Licht. Karl suchte in seiner kleinen Satteltasche, die er immer abschnallte und mitnahm, eine kleine Bibel. Er wies Johann an, er solle sich neben ihn auf den Bettrand setzen. Dann las er Psalm 91 vor und bat Gott um Bewahrung in der Nacht. Auch betete er darum, dass Gott das Gespräch dieses Abends segnen möge und auch die noch bevorstehende Unterhaltung mit dem Klostervisitator am nächsten Tag. Aus fester Gewohnheit brachte er auch Familie und Volk vor den Thron der Gnade. Während Johann die Kleidung auszog, kontrollierte Karl die Tür der Schlafstube. Zu seiner Verwunderung sah Johann, dass er seinen Dolch zog und diesen durch einen eisernen Ring klemmte, mit der Spitze tief in den Türpfosten. »Ich vertraue den Menschen hier schon, aber man kann bei manchen Dingen nicht vorsichtig genug sein«, meinte er erklärend. Auch das kleine Fenster, das zum Innenhof mit den Stallungen hinaus ging, wurde einer Musterung unterzogen. Als sie kurze Zeit später im Bett lagen, sagte Johann: »Du bist aber sehr vorsichtig, was die Tür angeht! Und auch deine Pistole liegt geladen griffbereit neben dir. Wobei die Unterhaltung mit den katholischen Klosteroberen doch ganz glimpflich verlief.« Er sah nicht, dass Karl im Stillen lachte, da die Lichter be42


reits ausgeblasen waren und lediglich etwas Mondlicht durch das kleine Fenster fiel. Karl sagte: »Ich bin in meinem Gespräch durchaus vorsichtig gewesen. Manchmal muss man Dinge gegeneinander abwägen. Stell dir einmal vor, Johann: Was wäre, wenn dieser Rosenheim nun durch die Wahrheit des Wortes Gottes ergriffen würde? Welch ein Segen könnte das für viele Menschen werden! Übrigens, findest du diesen Mann denn arg feindselig?« »Nein, das nicht«, sagte Johann. »Er ist durchaus nett und hat dir ja auch zugehört. Aber du weißt selbst, wie falsch und grausam manche dieser Papisten sind.« »Nun hör aber auf! Wir können doch nicht alle über einen Kamm scheren, Johann. In diesem Fall denke ich, dass wir das Wort des Herrn Jesus mehr zu Herzen nehmen müssen, wenn er sagt: »Und wenn dich jemand eine Meile weit zu gehen nötigt, so gehe mit ihm zwei.« Als es einen Augenblick still blieb, sagte Johann: »Und darum gehen wir folglich morgen in Richtung Koblenz. Nun, ich werde froh sein, wenn ich übermorgen heil und gesund aus dem Kloster komme.« Karl meinte sofort: »Das wird gewiss der Fall sein, Johann. Wenn ich die Sache auch nur ein wenig für gefährlich hielte, hätte ich mich nicht darauf eingelassen. Übrigens kann man auf solch einer Reise auch nicht alles genau regeln. Wir sind in Gottes Hand. Und hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass man manchmal im feindlichen Lager am sichersten sein kann? Ein Dieb schützt sich vielleicht am besten, wenn er beinahe ertappt worden wäre und rasch die Straße hinunterrennt und dabei ruft: »Haltet den Dieb, haltet den Dieb!« Johann musste hierüber einen Augenblick lang nachdenken. Er sah den rennenden Dieb schon schreiend vor sich 43


und brach in ein Gelächter aus: »Ach, Karl, so kurz vor dem Einschlafen machst du noch solche Witze! Lass uns lieber schlafen, bevor du mir noch mehr dummes Zeug erzählst!« »In Ordnung, Johann. Dann gute Nacht.« Mit seinen letzten Gedanken an zu Hause und an Mechthild fiel Johann in einen tiefen und gesunden Schlaf.

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Auf dem Weg nach Koblenz

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m völlig zugefrorenen Fenster erkannten Karl und Johann am folgenden Morgen, dass die Nachttemperaturen weit unter dem Gefrierpunkt gelegen hatten. Und das kalte Waschwasser holte Johann den Schlaf sehr schnell aus den Augen. An den beiden langen Frühstückstischen war mehr als ausreichend Essen und Trinken für jeden vorhanden. Auch die Päckchen mit Reiseproviant, die Frau Süter auf Karls Bitte eingepackt hatte, waren reichlich gefüllt. Der Visitator Rosenheim bekam ebenfalls zwei dieser Pakete mit. Als Johann das sah, dachte er: ›Obwohl er ein hochgestellter Mann ist, sorgt er doch gut für seinen Fuhrmann. Meistens bekommt solch ein Pferdeknecht nicht viel Besseres als sein Pferd. Das ist etwas, was für diesen Mann spricht.‹ Beim Abrechnen merkte Johann, dass Karl etwas Geld dazu gab. Frau Süter steckte es in einen alten Bierkrug, auf dem stand: »Für unsere Dienerschaft. Gemeinsam teilen!« Kein Wunder, dass dieser Ort so stark von allerlei Reisenden besucht wurde. Sogar die Tiere erfuhren hier eine ausgezeichnete Behandlung. Die beiden schwarzen Pferde schnaubten, als sie nach draußen kamen. Ihr warmer und feuchter Atem dampfte in der kalten Morgenluft. Die beiden Brüdertiere strotzten vor Lebenslust und wollten am liebsten gleich ein wenig ihre Energie in einem flinken Galopp umsetzen. Wodan schnappte nach Donars Mähne, aber mehr aus Spielerei 45


als aus Angriffslust. Donar drückte seine starke Brust gegen seinen Nachbarn und es schien, als wolle sich Wodan am liebsten mit den Füßen in der Luft dreimal über den Boden rollen. Der Visitator schaute aus sicherer Entfernung zu, wie die Männer mit Sätteln und Geschirr hantierten. Er hatte eine Ledertasche in der Hand. Als die beiden schwarzen Pferde begannen, Interesse an den anderen Pferden zu zeigen, musste das Stallpersonal Karl und Johann darin unterstützen, für Ordnung zu sorgen. Karl rief: »Herr Visitator Rosenheim, bitte begebt Euch mit Eurem Knecht erst einmal in den Reisewagen. Außerhalb der Stadt können wir dann tauschen.« Nahezu gleichzeitig machten sich verschiedene Reisende auf den Weg zu den Toren der Stadt. Ohne Schwierigkeiten bewegten sich die beiden Reiter und der Reisewagen des Visitators eine halbe Stunde später entlang des Rheins in Richtung Koblenz. Johann sah, dass zwischen den Deichen und an den Stellen, die die starke Strömung des Flusses nicht erreichte, das Eis schon viel dicker war als gestern. Als der Fuhrmann neben ihm auf Wodan Platz nahm und Karl die Stelle des Knechtes neben dem Visitator im Reisewagen eingenommen hatte, fragte Johann: »Kann der Rhein bei starkem Frost ganz zufrieren?« Der Mann, dessen Haare grau zu werden begannen, dachte nach und sagte: »Wenn die Eisschollen dicht an dicht liegen, kann ein Damm entstehen. Meist wird der Druck von Wasser und Eis so groß, dass der Damm dann wieder bricht. Wenn die Eisschollen zusammenfrieren, bleibt doch ein starker Unterstrom. Und es ist gefährlich, über diese Schollen zu gehen.« Johann sagte spontan: »Ich heiße Johann. Und Ihr?« 46


»Sag mal ruhig du. Ich heiße Berthold und bin schon gut ein Jahr im Dienst bei dem Visitator.« Da Johann das Gespräch zwischen dem Kurier und dem Mönch nicht gut verfolgen konnte, unterhielt er sich weiter mit Berthold, der ein überzeugter Anhänger des Papstes in Rom war. Für Johann wurden das zeitweise langweilige Stunden. Zunächst einmal erzählte sein Nachbar etwas über den Visitator und dessen Arbeit. Anschließend beantwortete er so gut wie möglich Johanns Fragen nach den Orten, an denen er schon gewesen war. Das goldene Sonnenlicht, das vom strahlend blauen Himmel schien, ließ die verschneite Landschaft so hell erstrahlen, dass man die Augen zu schmalen Schlitzen zusammendrücken musste. Da Johann noch nie so weit von Zuhause weggereist war und die Landschaft neugierig stimmte, fragte er: »Ist es wahr, dass das Rheintal die schönste Gegend Deutschlands ist?« Berthold antwortete: »Ich habe viele Landstriche bereist und schon viel gesehen, aber hier ist es in der Tat besonders schön.« Das Rheintal lag nun vor ihnen, wobei sich an jeder Flussbiegung wieder eine andere reizende Aussicht eröffnete. Eine Schwierigkeit trat auf, als Berthold meinte: »Ihr seid Protestanten. Mein Herr meinte gestern Abend, dass er gerne mit euch reisen wolle, da dein Kamerad auf besondere Art und Weise euren Glauben zu verteidigen versteht. Woher hat er diese Weisheit?« Johann meinte ehrlich: »Das kommt daher, weil er nicht nur viel in der Bibel liest, sondern auch einige Schriften von Kirchenmännern aus früheren Jahrhunderten studiert hat, die Gottes Wort ausgelegt haben.« »Nun, solche Experten gibt es einige«, sagte Berthold lachend.« Ich kenne Lehrmönche, die Doktor oder Professor 47


sind. Sie können Griechisch, Hebräisch und vor allem Latein lesen und sprechen, aber Ketzer – oder sollte ich eher sagen: Leute mit anderer Auffassung – zu überzeugen, dass können sie nicht.« Johann meinte lächelnd: »Ich weiß nicht, ob Karl deinen Meister so ganz überzeugen kann. Er wird es vielleicht versuchen.« Der Fuhrmann sagte mehr zu sich selbst: »Ich kann mich nicht erinnern, dass Rosenheim auf diese Art und Weise jemals mit einem Protestanten gesprochen hat.« Johann sagte darauf: »Vielleicht hast du gemerkt, dass der Kurier von Worms auch wirklich meint, was er sagt. Er glaubt selbst fest und sicher, was er redet, meine ich.« »Tust du das denn nicht, Johann?« fragte Berthold. »Wobei ich zugebe, dass ich selbst auch noch vereinzelt zweifle, vor allem bei schwierigen Glaubensangelegenheiten.« »Nun, mir geht es genauso, Berthold. Ich muss noch viel lernen.« Im Verlauf ihres Gespräches musste Johann einige Male denken: ›Hätte ich doch bloß mehr in meinem Lehrbuch, dem Heidelberger Katechismus, und vor allem auch in der Bibel studiert!‹ Er fühlte sich gar nicht wohl bei diesen Gedanken. Johann konnte über die drei Bücherkisten und die anderen Dinge hinweg sehen, dass Karl und Rosenheim im fortdauernden Gespräch waren. Er hörte einige Male, wie Karl das Wort »Sakramente« aussprach, Rosenheim hingegen konnte er nicht verstehen, da dieser eine leisere Stimme hatte. Dass sich das Gespräch von gestern Abend fortsetzte, war aber ganz offensichtlich. Kaum hatte sich Karl neben den Klostervisitator gesetzt, bekannte dieser: »Ich habe gestern am späten Abend das Ka48


pitel von den Protestanten noch einmal gelesen und muss ehrlich sagen, dass ich es nun etwas anders begriffen habe.« »Das Kapitel von den Protestanten?« fragte Karl verblüfft. »Was ist das denn?« »Wisst Ihr das nicht, Kurier? Euer Stützpfeiler lautet doch: ›Allein durch den Glauben!‹, oder etwa nicht? Im Brief des Apostel Paulus an die Galater, nämlich Kapitel 3, geht es ja um die Gerechtigkeit allein aus Glauben.« »Ja«, sagte Karl mit voller Freude, »aber solche Stellen gibt es in der Heiligen Schrift noch häufiger.« »In der Tat, aber es traf mich ehrlich gesagt schon, dass eben in Galater 3 Vers 27 so deutlich über ein Sakrament gesprochen wird. Da steht nämlich: ›… denn ihr alle, die ihr in Christus hinein getauft seid, ihr habt Christus angezogen.‹« »Was traf Euch dabei denn so besonders, Herr Visitator?« »Ihr sagtet doch, dass die Sakramente als ein Ganzes mit der Gnade Gottes in Christus zusammen betrachtet werden müssen, und diesen Gedanken finde ich auch in Galater 3 Vers 27.« Karl rieb sich kräftig durch seinen Bart. Er war eher ein Abendmensch. Um sich zu konzentrieren, musste er sich früh am Morgen mehr anstrengen als abends. In solch einer Situation fasste er üblicherweise das Wesentliche des Themas zusammen, um wieder in die richtige Spur zu finden. So sagte er: »Gottes Wort und Geist machen das Evangelium in den Herzen des Volkes Gottes lebendig. Gottes Kinder werden auf eine Art und Weise angenommen, die nicht nur wundersam, sondern auch jeweils so zugeschnitten ist, wie der Einzelne es braucht. Die wesentlichen Dinge müssen alle lernen, nämlich ihr Sündenelend, die Erlösung durch Jesus und die Dankbarkeit als Antwort darauf. Aber wie lange es dauert, welche Umstände dazu führen und so weiter, das kann sich stark voneinander unterscheiden. 49


Als besondere Gnade hat Gott die Sakramente gegeben, um ihren Glauben zu stärken. Wo weder Gnade noch Glaube sind, haben auch die Sakramente keine Kraft. Sie verstärken in solchem Fall höchstens die Verantwortlichkeit des Betrachters!« Karl fuhr fort: »Das ›Betrachten‹ könnt Ihr getrost wörtlich auffassen, denn jene, die bei den Sakramenten zugegen sind, hören nicht nur davon, sondern sehen auch das Evangelium als deutliches Zeichen vor ihren Augen. Der Brief des Königs, das Evangelium von Gottes Sohn, bekommt durch die Sakramente von Gott auch noch ein Siegel verliehen, als wenn Gott sagte: ›Dies ist mein Wort, es ist wahrhaftig. Dies ist mein Versprechen. Ich will hier und jetzt meinen Bund mit euch stärken.‹ Folglich sind das Wort und die Sakramente darauf ausgerichtet und haben das Ziel, auf das Kreuz Christi hinzuweisen. Sein schuldsühnendes Opfer und Leiden am Kreuz sind das einzige Fundament der Seligkeit. Der Heilige Geist unterrichtet durch das Wort und besiegelt durch die Sakramente ein und dieselbe Sache. Es ist wie das eine Bein eines Zirkels, das gegründet ist in Gottes ewigem Wohlgefallen. Dieses Wissen verschafft oft Frieden im Herzen. Die Seligkeit liegt fest in Gottes Herz und Händen.« Karl schwieg nun und erwartete die nächste Frage des Visitators, die dann auch nicht lange auf sich warten ließ. »Kurier, aber wie kann es möglich sein, dass es nach Ansicht der Calvinisten nur zwei Sakramente gibt, während die älteste Kirche auf Erden sieben erkennt und aufrechterhält?« »Das kann daher möglich sein, Herr Visitator, weil die Calvinisten, zu denen ich mich selbst auch zähle, stets zuerst fragen, was die Bibel sagt. Ihr hattet unser Gespräch begonnen mit dem Grundsatz der Protestanten: ›Allein durch den Glauben.‹ Tatsächlich sind es drei Grundsätze, nämlich: sola 50


fide, sola scriptura und sola gratia, und ich muss Euch nicht erklären, dass diese drei Kapitel bedeuten: allein der Glaube, allein die Schrift, allein die Gnade. Nun, in der Schrift steht deutlich, dass Christus, das fleischgewordene Wort, zwei Sakramente angeordnet hat, nämlich die heilige Taufe und das heilige Abendmahl. Diese beiden sind durch den Herrn eingesetzt und diese genügen uns. Es ist schon auffallend, Herr Visitator, dass auch hier wieder ein scharfer Unterschied zur römischen Kirche offenbar wird. Wenn Eure Bischöfe den Menschen, Institutionen, Konzilien und so fort genau so viel oder sogar mehr Autorität zuschreiben als Gottes unzweifelhaftem Wort, ja, dann ist es kein Wunder, dass sie alle möglichen Lehren zulassen und damit auch alle fragwürdigen Folgen dieser Lehren. Nun habt Ihr sieben Sakramente. Vielleicht werden es später einmal neun. Aber auch wenn es bei sieben bleiben sollte, weil sieben eine ›heilige‹ Zahl ist, hat auch dies wieder mit der höheren Bedeutung zu tun, die Ihr diesen Menschenmeinungen beimesst. Ihr seht in den Sakramenten die Gefährten der Gnade. Eure Kirche gibt die Gnadenmittel an ihre Glieder weiter bei ausreichend guten Werken, treuem Kirchenbesuch, regelmäßigen Geldspenden an die Kirche und beim Befolgen alles dessen, was die Geistlichen ihnen auftragen. Nun, die Menschen bekommen dann von Euch alle sieben Sakramente und damit sollen sie eben für die Ewigkeit beruhigt werden. Meiner Meinung nach ist das etwas ganz anderes, als das sola gratia, allein aus Gnade. Wohlgemerkt, auf die Gnade des dreieinigen Gottes lege ich all mein Vertrauen. Nicht auf all die Institutionen und Einrichtungen von Menschen. Martin Luther hat zurecht bemerkt, dass Menschen und Konzilien sich irren können, von Päpsten ganz zu schweigen. Vor diesen habe ich, nehmen sie mir dies bitte nicht übel, in51


zwischen völlig den Respekt verloren. Welch ein Gegensatz sind sie zum Herrn Jesus, den wir in seinem Wort als Diener sehen, als den leidenden Knecht Gottes, der in sehr großer Bescheidenheit lebte. Er hat, soweit ich es weiß, nicht einmal auf einem Pferd geritten, sondern nur auf einem Esel. Und wenn ich dann Menschen sehe, die den Tragesessel des Papstes herumschleppen! Und dann rede ich noch gar nicht über die prunkvolle Kleidung. Nun, da gibt es einen himmelweiten Unterschied! Die römischen Päpste wollen gerne über Könige und Kaiser regieren. Aber Jesus sagt: ›Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig‹ und … ›Ich aber bin mitten unter euch wie der Diener.‹ Es ist das große Verdienst der Reformation, dass sie durch die Gnade Gottes wieder zurückkehrt zur bescheidenen Schlichtheit von Gottes Wort. Meiner Ansicht nach ist die römische Kirche, ebenso wie das Judentum, in die Schlinge menschlicher Erklärungen und Traditionen geraten. Die Schicht des Irrtums ist dabei inzwischen so dick geworden, dass Gottes Wort in seiner schlichten Bedeutung vollkommen aus dem Blick geraten ist. Anders herum ist es richtig, Herr Visitator: Gottes Wort muss als höchste Autorität anerkannt werden und von dort aus kommen dann die Auslegungen in den Predigten, die sich stets an Gottes Wort prüfen lassen müssen. Der Pfarrer muss Gottes Wort alle Autorität zuerkennen, und je näher die Prediger bei dem Wort Gottes bleiben, umso zuverlässiger ist, was sie sagen.« Inzwischen stand Karl auf und schaute nach hinten. Er stellte fest, dass Johann und der Knecht des hohen Prälaten ebenfalls in ein tiefes Gespräch verwickelt waren. Er lächelte und sagte: »Schaut her, Herr Visitator, unsere beiden Reisegefährten sind meiner Ansicht nach auch stark in eine theo52


logische Diskussion vertieft.« Das stimmte allerdings nicht so ganz. Johann hatte sich einige Male gefragt, was wohl in dem Leinensack stecken würde, der aus einem Bündel Stroh herausragte. Um den Sack befand sich eine doppelte Schnur. Außerdem war der Reisewagen vor ihnen insgesamt ziemlich vollgeladen. »Berthold, nehmt ihr auf Reisen immer so viel Gepäck mit?« »Ja, meistens schon. Ein paar Kisten für die Bücher, die sind immer dabei. Der Visitator hat in dem kleinen Kasten dort immer einige Listen mit Namen und Titeln von Büchern. Er selbst ist ein Liebhaber von Büchern, Blumen und Pflanzen. Er nimmt für viele Mönche einige Bücher aus den Klöstern mit, die über eine große Bibliothek verfügen. Das sind dann meistens große oder reiche Klöster.« »Gibt es denn da so viele Unterschiede, Berthold?« »Ja, durchaus. Wenn einige Mönche durch Missernten oder etwas Derartiges in Armut geraten sind, helfen die anderen ihnen dann aus. Zumindest habe ich Rosenheim einmal so etwas erzählen gehört.« »Und ich denke, dass der Visitator einen ordentlichen Batzen Geld auf seine Reise mitnimmt,« meinte Johann. Der Mann musterte Johann rasch und erschrocken. ›Den beiden sollte doch hoffentlich zu vertrauen sein? Es streift so viel sonderbares Volk durch die Lande‹, dachte er bei sich. Aber als er in Johanns lachende Augen schaute, erkannte er gleich: ›Nein, das sind keine Räuber oder Strauchdiebe. So viel Menschenkenntnis habe ich doch wohl?‹ Dennoch ließ er die Frage lieber einmal unbeantwortet. Dann fragte Johann: »Ist der Visitator wirklich ein Liebhaber von Blumen und Pflanzen? Er hat doch selbst weder Hof noch Garten?« 53


»Nein, das nicht, aber er kann Stunden in manchen schönen Klostergärten zubringen. Neben Gemüse und Heilkräutern züchten die Brüder durchaus auch Blumen und Zierpflanzen. Ich kenne Klostergärten, die mit den schönsten Burg- oder Landgütern konkurrieren können. Bruder Anselmus in Augsburg ist ein Freund des Visitators. Er ist ein großer Fachmann, auch wenn es ums Züchten von Blumen geht, die eher rund ums Mittelmeer wachsen. Dort in dem Sack, Johann, befinden sich vier oder fünf Wurzelknollen von Pflanzen, Pfingstrosen oder so etwas. Ich habe keine Ahnung davon. Ich habe sie gemeinsam mit Anselmus aus der Erde seines Gartenhäuschens gegraben. Sie mussten gut in Stroh eingewickelt werden, um sie vor Frost zu schützen. Der Visitator hat sie für andere Pflanzenfreunde mitgenommen. Ja, wir haben schon einiges an Zeugs mitgenommen oder auch getauscht. Ich habe schon oft gefragt, ob wir nicht einen größeren Wagen anschaffen sollten, aber davon will der Visitator vorläufig nichts wissen. Übrigens genauso wenig wie von ein paar bewaffneten Reitern.« »Letzteres wäre in dieser Zeit tatsächlich eine gute Sache«, sagte Johann. »Auf der anderen Seite werden die Soldaten des Kaisers solch einem hohen Diener der römischen Kirche sicher kein Leid antun!« Diese Bemerkung kam ein wenig bissig daher. Der Pferdeknecht vernahm dies durchaus. Er sagte ganz ehrlich: »Mit den Protestanten haben wir eigentlich keinen Ärger, Johann, dies muss ich zu deren Ehrenrettung sagen. Lediglich die Strauchdiebe, desertierte Soldaten und umherstreunende Landsknechte, die sind für jeden gefährlich. Das sind solche Banditen, die schlagen einen Menschen so leicht tot wie eine Fliege. Und wenn der Krieg kommt, wird es 54


noch mehr Verbrecher geben. In Zeiten des Krieges verwildern die Menschen und alle bösen Leidenschaften kommen dann zum Vorschein, sagte mein Großvater immer. Im trüben Wasser lässt sich gut fischen, denken solche Leute.« Johann sagte: »Ja, in der Tat. Nicht jeder ist friedlich mit Büchern, Pflanzen und Blumen beschäftigt. Aber was meint dein Meister dazu, Berthold, dass der Kaiser sein Volk mit Gewalt dazu zwingt, vollständig katholisch zu werden? Nicht nur die Strauchdiebe können den Menschen Übles antun. Die Pikeniere und Dragoner von Tilly haben schon viel unschuldiges Blut vergossen, ganz zu schweigen von Wallensteins Wegelagerern. Meiner Meinung nach sind dies die größten Straßenräuber, die jemals unter der Sonne ihr Unwesen getrieben haben. Sollte es da denn keine Militärgerichtsbarkeit geben, die für Ordnung sorgt?« »Ich denke nicht, Johann. Die hohen Herren fassen Beschlüsse, und einfache Menschen wie wir müssen parieren, sagte mein Großvater immer. Und so ist es noch immer. Ich weiß schon, dass im kaiserlichen Heer nicht nur Bayern sind, sondern auch Italiener, Spanier, viele Kroaten und auch Menschen aus anderen Ländern. Selbst Schweizer haben sich verpflichtet!« »Das können nicht so viele sein«, sagte Johann. »Ich habe von meinem Schulmeister aus Mannheim gehört, dass Zwingli, der Reformator, es ihnen untersagt hat. Oder zumindest geraten hat, dies nicht zu tun. Nun ja, nicht alle werden dem folgen.« »Nun, in jedem Fall, Johann, ist die Landbevölkerung immer der große Verlierer! Auch wenn sie vielleicht noch beizeiten flüchten können, um ihr Leben zu retten – wenn die Kürassiere ihre Dörfer erspähen, sind ihre dürftigen Besitztümer meistens für immer verloren. Und ihre Ernte wird oft 55


zertreten oder gestohlen oder verbrannt. Der darauffolgende Winter bereitet ihnen dann schreckliche Sorgen. Nein, es ist kein Paradies auf Erden, sagte mein Großvater immer.« Johann sagte: »Dein Großvater war wohl ein weiser Mann. Aber sollten einfache Katholiken wie du nicht allesamt gegen die Kriegsgewalt protestieren? Freiheit des Gottesdienstes ist doch für jeden viel besser und auch fairer, oder nicht? Wenn jeder dies nun bei seinem Priester zur Sprache bringt und der Priester dann den Papst und den Kaiser darauf aufmerksam macht, dann kann es vielleicht doch noch Frieden geben.« »Ja, aber der Kaiser ist nun einmal der Ansicht, dass durch ein und denselben Glauben für alle schneller und auf bessere Weise Frieden eintritt. Dieser soll dann der katholische sein, denn der passt am besten … und ist zudem der älteste seit der Bibel. Und das stimmt doch, oder?« Berthold schaute zu Johann hinüber. Der rief spontan: »Nun, da bin ich ganz klar nicht einer Meinung mit dir und ich glaube auch nicht, dass dies so eintreten wird. Glaubst du etwa, dass Karl, mein Freund, Katholik werden würde? Niemals!«, ergänzte er selbstsicher.

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Die Dragoner von Leutnant Battoni

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nzwischen bekam Johann wieder Hunger. Aber die Brotpäckchen lagen in einer Ecke des Reisewagens. Somit konnte er nicht an sie herankommen und musste wohl noch ein wenig warten. Berthold war eine Zeit lang still. Dann meinte er seufzend: »Die Religion hat schon einiges angerichtet, Johann. Ich verstehe das oft nicht. Das kann doch nicht die Absicht der Bibel sein? Wie ist es möglich, dass so viele Menschen verkehrt damit umgehen? Ich habe überhaupt nicht studiert, aber der Visitator hat mir schon erzählt, dass all diese Streitigkeiten schon lange vorhanden sind. Meiner Ansicht nach werden die Menschen auch durch das Studieren kein bisschen weiser. Es kommt sicherlich noch eine Zeit, wo es besser ist, nichts zu wissen. ›Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß‹, sagte mein Großvater immer.« »So einfach lässt sich das nicht lösen«, antwortete Johann nachdenklich. »Unwissenheit und Dummheit können im Leben noch mehr Ärgernis und Streit verursachen. Der Herr Jesus sagt selbst, dass wir die Bibel lesen sollen. Das ist in jedem Fall gut.« »Steht das wirklich so in der Bibel, Johann?« »Ja, dort steht: ›Erforscht die Schriften! Sie sind es, die von mir Zeugnis geben‹ und ›ihr tut gut daran, darauf zu achten als auf ein Licht, das an einem dunklen Ort scheint.‹ 57


Übrigens: David sagte das schon im Alten Testament: ›Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Weg.‹ Aber vielleicht meinen sie dann kein großes starkes Licht, sondern eher so eine kleine Öllampe,« sagte er gedankenversunken als Ergänzung. Der Pferdeknecht und Reisegefährte des Visitators schaute verblüfft zu dem jungen Mann. »Ihr Protestanten wisst im Allgemeinen mehr von der Bibel als wir, Johann, und ihr denkt auch mehr darüber nach. Das merke ich auch heute wieder.« Johann ließ das so stehen, wobei er dachte: ›Leider trifft das nicht immer zu.‹ Dann ritten sie einige Kilometer schweigend nebeneinander her. »Ich weiß nicht wie es dir geht, Johann, aber ich würde schon gerne bald etwas essen. Sollten die beiden Herren vor uns vielleicht die Zeit vergessen haben?« Er trieb sein Pferd bis kurz hinter den Reisewagen und rief: »Wollt Ihr keine Pause machen, Herr Visitator?« Rosenheim nickte und gab Karl zu verstehen, dass er den Wagen anhalten solle. Einen Moment später stand der Wagen und die beiden Männer stiegen aus. Während sie etwas auf- und abgingen, um ihre steifen Beine zu vertreten, fragte Karl: »Habt ihr Hunger, Leute?« Seine Augen blickten den Verlauf des Weges entlang. Es wehte noch ein kalter Ostwind, aber die Sonne schien bereits hell über den Rand des Hügels. Der Visitator sagte: »Berthold, wir haben hier in der Gegend doch schon einmal gegessen, nicht wahr?« Der Knecht lief zur Uferböschung des Rheins und spähte nach vorne. »Folgt mir bitte, etwas weiter ist ein schönes Plätzchen am Ufer.« 58


Zehn Minuten später ritt Berthold auf Wodan vor ihnen her und schwenkte ab in Richtung des Flusses. Der Weg verlief die letzten paar hundert Meter bergab. An der linken Seite lag ein Stück Land mit Sand und Kies an den Rändern. Von der Straße abbiegend führte ein schmaler Weg hinunter. Neben ein paar Weidenbüschen fanden sich hier ein paar größere Steine. Langsam fahrend lenkte Karl das Wägelchen in die Senke. Inzwischen war Berthold von Wodan abgesprungen und übergab ihn an Johann. Der hielt die beiden Pferde fest, während Berthold das Wagenpferd am Zaumzeug griff. Geschickt ließ er das Pferd rückwärts schreiten, bis das Wägelchen neben einem Felsbrocken an der steilen Böschung stand. »Wollt Ihr eben zum Ufer hinabgehen? Dann mache ich die Sachen fertig.« Mit seinen Füßen stampfend und die Hände reibend lief Johann mit Karl und dem Visitator zum Fluss, nachdem sie zuvor die Tiere festgebunden hatten. Das Wasser strömte rasch an den Steinen und Eisrändern entlang. Es spiegelte die Luft bläulich wieder und war glasklar. Johann schaute vorsichtig nach einem Plätzchen zwischen den runden Steinen. Er blickte ins Wasser. Als er sich wieder umdrehen wollte, sah er einige große Fische. Er winkte mit seiner Hand. Aber als Karl sich näherte, schossen sie weg. »Fische, Karl.« Mit seinen Händen zeigte er deren Größe an. »Ungefähr so groß!« Wegen der ungewöhnlichen Handbewegung und des losen Untergrundes verlor Johann plötzlich sein Gleichgewicht, rutschte weg und fiel hin. Instinktiv streckte er die Hände aus, um sich abzufangen. Dennoch fiel er auf die 59


Knie. Eines schlug auf einen Stein auf, dass andere traf das Wasser. Später wusste er nicht mehr, was ihn mehr aufschrecken ließ, der Schmerz oder das eiskalte Wasser. Karl suchte einen sicheren Standplatz und zog ihn hoch. Rosenheim stand einige Meter zurück und sagte erschrocken: »Du wärst beinahe ins Wasser gefallen, junger Mann! Die Jugend ist immer so unvorsichtig! Hast du dir wehgetan?« Johann hinkte schmerzverzerrt, bis er auf sicherem Untergrund stand. An einer Seite lief das Wasser aus seinen Schuhen heraus. Berthold hatte nichts davon mitbekommen. Er war intensiv mit anderen Dingen beschäftigt. Auf der einen Seite des Reisewagens hatte er eine Plane herabgerollt und unten befestigt. So diente sie als Windschutz. Dann mühte er sich mit einigen Holzgestellen, die er aus dem Wagen hervorgezogen hatte. Und in kurzer Zeit hatte er eine Sitzmöglichkeit für vier Personen geschaffen. Er schaute auf und sagte überrascht: »Was hast du denn gemacht, Johann?« Der Junge hinkte zu der improvisierten Bank und nahm rasch Platz. Er sagte: »Ich war dumm. Ich habe nicht richtig aufgepasst und da bin ich auf die Steine gefallen.« »Und auch etwas ins Wasser«, fügte Karl hinzu. »Na, wenigstens bin ich jetzt wirklich wach«, sagte Johann scherzend und den Schmerz überspielend. Auch die nasse Hose war nicht gerade angenehm. »Ich muss erst die Pferde versorgen. Dann schaue ich nach deinem Knie«, meinte Berthold. Der Visitator sagte: »Holst du eben mein Medizinkästchen, Berthold? Dann versorge ich den jungen Mann.« »Ja«, sagte Karl, »und dann helfe ich dir mit bei den Pferden. Auch wenn es hier wenig Wind ist, müssen wir aufpassen, dass die Tiere sich keine Erkältung zuziehen.« 60


Während Karl und Berthold mit Roggenbrot, Hafer und Pferdedecken hantierten, kniete der Visitator vor Johann nieder. Der hatte inzwischen das eine Hosenbein aufgekrempelt, und eine Abschürfung sowie blaue und rote Flecken kamen zum Vorschein. Als der Visitator danach schaute, fiel Johanns Auge auf die rot schimmernde Fläche auf dem Hinterkopf des Mönches. Um die kahle Stelle herum befand sich ein Haarkranz, der schon anfing grau zu werden. »Eure Kutte wird schmutzig«, sagte er dann erschrocken. »Das ist halb so schlimm. Den groben Sand reibe ich wieder ab. Aber du hast da einen schlimmen Fleck. Das sieht aus wie ein Bluterguss. Ich denke, da werden noch mehr Farben hinzukommen.« Er öffnete sein Kästchen. Es war aus schönem Nussbaumholz, und daran befanden sich zwei prächtige Kupferschlösser. Innen war es mit dunkelrotem Samt ausgefüttert. In kleinen Fächern standen allerlei Fläschchen und Töpfchen. Unterschiedliche Verbandsrollen, eine Schere, Nadel und Faden, ein Messerchen, einige Klammern und Pinzetten machten den Inhalt komplett. Zunächst schmierte er etwas Öl auf das Knie, was ziemlich stark brannte. Dann gab er eine Lage mit verschiedenen Salben darauf und legte einen festen Verband darum. Der Mönch tat dies so geschickt, dass das Knie sich noch bewegen, der Verband jedoch nicht wegrutschen konnte. Nachdem Berthold den Tisch mit den Brotpäckchen und Milchkrügen gedeckt hatte, ging er zum Wasser, um einige Becher auszuspülen. Als er zurückkommen wollte, sahen die Männer, wie er stehen blieb, um mit der vor der tiefstehenden Sonne schützenden Hand über den Augen den Weg abzusuchen. Mit einem Male begann Wodan zu wiehern, woraufhin Donar auf die gleiche Weise reagierte. 61


Eine Gruppe Reiter nähert sich!«, rief Berthold und zeigte auf den Pfad. Kurze Zeit später hörten sie schnelle Hufschläge herankommen. Ein halbes Dutzend Dragoner, berittene Soldaten, von der leichten Kavallerie mit einem Unteroffizier an der Spitze, ritt zügig den Abhang hinunter. In einem Halbkreis blieben sie um den Tisch aus den Holzverschlägen stehen. Da die Sitzbank so dicht wie möglich am Hügel stand, um vor dem Wind geschützt zu sein, standen die Reiter genau vor den vier Männern. Karls Hand ruhte auf dem Kolben seiner langen Reiterpistole. Johann sah dies aus seinem Augenwinkel und tastete unwillkürlich mit seiner Hand zu seinem Dolch. Seine Pistolen befanden sich im Halfter von Donars Sattel unterhalb der kleinen Pferdedecken. Aber was sollten sie machen, wenn diese Truppe üble Absichten hätte? Auf der Straße über ihnen kamen noch etliche weitere Reiter in ruhigem Trab herangeritten. Der Unteroffizier fragte barsch: »Wer seid ihr?« Karl schwieg lieber. Er kannte die Reiter nicht. Sie waren jedenfalls keine der protestantischen Soldaten, die er kannte. Der Visitator war inzwischen aufgestanden, ging auf den Unteroffizier zu und sagte würdevoll: »Ich bin Visitator Rosenheim von den Benediktinern. Ich komme aus dem bischöflichen Palast von Einsiedeln in der Schweiz. Dies sind meine Reisegefährten.« Der Soldat schaute zu den Pferden und dem Reisewagen hinüber. »Ich habe Befehl, Euch zu kontrollieren, Hochwürden.« Er stieg ab und ging zum Reisewagen, während er seinen Männern einen Wink gab, die daraufhin mit klingelnden Sporen und Waffen abstiegen. Der Mönch begab sich zum Reisewagen und meinte streng: »Wozu soll das gut sein?« 62


Sogleich stiegen noch einige weitere Reiter den Pfad zum Ufer herunter, mit einem Offizier an der Spitze. Seine prächtige Ausrüstung glänzte in der Sonne. Die Männer, die am Tisch standen, wichen unwillkürlich zurück. Der Mann brachte seinen bildschönen Schimmel in der Mitte der Gruppe zum Stehen. Das Tier hielt sein zierliches Haupt hoch aufrecht und schnaubte zu Wodan, der rege seine Ohren bewegte. Der Offizier zerrte ungeduldig an seinem Zügel und rief: »Hans, was ist das hier?« Der Unteroffizier grüßte und sagte: »Das will ich gerade kontrollieren, Hauptmann.« Dann sah der Offizier Johann, der versuchte, sein Hosenbein über den Verband zu rollen. »Wer seid ihr? Habt ihr einen Verletzten?«, fragte er mit einem südländischen Akzent. ›Wieder solch ein hoher Prahlhans aus Italien oder Spanien, der versucht, sich hier im Krieg die Säcke voll zu stopfen‹, dachte Johann. Sein Respekt für den Anführer löste sich sogleich in Luft auf. Dieser Offizier sah aus wie jener Anführer, den er damals im Zelt des Lagers seiner Beute beraubt hatte. Er dachte grimmig: ›Damals sind sie in jedem Fall nicht reicher durch mich geworden.‹ Der Mönch wiederholte seine Erklärung und ergänzte: »Ich vertraue darauf, dass Ihr uns hier ungestört pausieren lasst. Wir wollten gerade etwas Nahrung zu uns nehmen. Wer seid Ihr eigentlich, wenn ich fragen darf?« »Ich bin Battoni, Offizier im Heer von Melchior von Hatzfeld, dem General der kaiserlichen Truppen. Wenn Ihr nachweisen könnt, dass Ihr seid, für den Ihr Euch ausgebt, werden wir Euch unbehelligt lassen. Schau du eben nach der Ladung des Reisewagens«, befahl er dann seinem Untergebenen. Der Unteroffizier öffnete mit einigen Schlüsseln, die er von Berthold erhielt, die Schlösser der Kisten. Inzwischen 63


wanderten die Augen des Offiziers umher. »Welch prächtige Pferde eure Begleiter haben, Visitator. Bezahlt unsere alleinseligmachende Kirche ihren Dienern heutzutage so viel aus?« »Wir sind Pferdeliebhaber und mussten lange dafür sparen«, entgegnete Karl ruhig. Der Visitator hatte inzwischen ein Bündel Briefe aus der Holzkiste hervorgeholt, die sich unter der Sitzbank des Reisewagens befand. Schweigend überreichte er diese dem Offizier. Während der die Schriftstücke einsah, bemerkte er, dass an einigen davon ein rotes Siegel mit den Wappen einiger Bischöfe befestigt waren. Der Unteroffizier rief: »Nur Bücher, Hauptmann Battoni!« Dieser winkte mit seiner Hand, und der Mann brachte vier der Bücher herbei. Battoni gab zu verstehen, dass die Briefe dem Mönch zurückgegeben werden konnten. Dann sah er mit einem Blick, dass die Bücher lateinische Werke waren, die den Glauben behandelten. »Bring sie zurück.« »Von woher kommt Ihr, Visitator Rosenheim?« »Gestern waren wir im bischöflichen Kloster in Mainz«, sagte der Visitator. Er wollte seinen Reisegefährten wohl gerne Schwierigkeiten ersparen. Unvorhergesehen wandte sich der Offizier Johann zu und fragte scharf: »Wo wollt ihr jetzt hin, junger Mann?« Johann dachte kurz nach und meinte dann: »Zum Kloster der Benediktiner bei Koblenz.« Die dunklen Augen blickten ihn forschend an. Dann wendete er den Schimmel und rief: »Zurück zum Weg. Vorwärts!« Während die Reiter jeweils paarweise den Pfad hinaufritten, schloss der Unteroffizier die Kisten und gab die Schlüssel zurück. 64


Der Offizier grüßte, und während die vier Reisenden die Hand hoben, ritt dieser mit dem Unteroffizier, der den Schluss bildete, den anderen Reitern nach. »Die sind nun weg«, sagte Berthold überflüssigerweise. »Kommt, Männer, jetzt gehen wir erst mal was essen.« Karl schaute seinen jungen Freund an. Johann erbat in seinem Gebet nicht nur den Segen für das Essen, sondern fügte sogleich daran an: »Danke Herr Jesus, dass du uns bewahrt hast.« Die Männer aßen schweigend das Brot. Es war mehr als genug vorhanden. Der Visitator und Frau Süter schienen nicht sparsam mit dem Belag gewesen zu sein. Johanns Reisepaket war als erstes leer. Visitator Rosenheim hielt ihm eine doppelte Scheibe Brot mit Schinken vor die Nase. »Hier junger Freund, ich habe schon genug und du musst noch etwas wachsen.« »Seid Ihr sicher, Herr Visitator?« Der Visitator nickte lachend. Dann sagte Karl aufatmend: »Danke für Eure Hilfe, Herr Visitator. Ihr habt uns in Euren Schutz genommen.« »Ja sicher, das ist doch selbstverständlich! Ihr seid meine Gäste und auf meine Bitte hin seid ihr von eurer geplanten Route abgewichen und mit uns mitgegangen.« Der Mönch sagte das sehr entschlossen. Aber mit einem völlig anderen Ton meinte er dann: »Ich habe mit meinem bischöflichen Palast wohl eine Halbwahrheit erzählen müssen. Ihr seht wieder, wie schwer es ist, immer vollständige und wahrhaftige Antworten zu geben.« »Nun, dieser Offizier hat sich noch anständig benommen«, sagte Karl. »Ich frage mich aber, was der italienische Offizier in dieser Gegend macht. Anscheinend waren auch einige Italiener unter den Reitern. Wie es wohl abgelaufen wäre, wenn Johann und ich allein kontrolliert worden wären?« 65


Unwillkürlich schaute Johann auf Karls Stiefel und dachte: ›Ich hatte gar nicht bemerkt, dass viele Italiener dabei waren. Ich sollte zukünftig in solch einer Situation wohl etwas aufmerksamer sein.‹ Eine halbe Stunde später befanden sich alle wieder auf ihrem Reiseweg. Johann hatte trotz seines schmerzenden Knies geholfen, den Wagen fahrbereit zu machen. Sowohl er als auch Karl staunten über die raffinierte Ausstattung des Wagens. Jeder Winkel war ausgenutzt. Neben einzelnen Behältern aus Leder fanden sich hier auch unterschiedlichste Laternen. Der Wagen ließ sich zu allen Seiten hin mit elastischen Seilen und Lederriemen gegen den Wind abschirmen. Zwischen den Rädern unterhalb des Wagens befanden sich auch noch drei Aufbewahrungsfächer aus hartem Ulmenholz. An diesem Mittag mussten sie die Tiere einige Male anspornen, um rechtzeitig das Kloster zu erreichen. Die beiden schwarzen Brüder genossen dieses Antreiben offenbar. Der Braune, der vor den Reisewagen gespannt war, kam jedoch ins Schwitzen, als er dieses Tempo mitging. Als Rosenheim sich neben Karl setzte und sie ihre Reise entlang des rechten Rheinufers fortsetzten, nahm der Visitator wieder das theologische Gespräch auf und sagte: »Also, Karl, aus Eurer Auslegung folgere ich, dass Ihr Gottes Wort und zwei Sakramente zusammen darauf ausgerichtet seht, unseren Glauben allein auf das Opfer Christi zu bauen.« »Ja, so ist es, Herr Visitator. Dafür wurden sie von Gott eingesetzt. Der Heilige Geist lehrt uns im Evangelium und versichert uns durch die Sakramente, dass unsere Seligkeit allein auf dem Fundament des Opfers Christi steht, das er für uns am Kreuz dargebracht hat. Und wie bereits gesagt: Christus hat nur zwei Sakramente eingesetzt und nicht sie66


ben. Diese beiden sind schon sehr unterschiedlich in ihrer Bedeutung: Die Taufe verweist unmittelbar auf die Wiedergeburt und die Zugehörigkeit zur Gemeinde. Gott trennt uns dadurch von den Heiden und macht uns zu Teilhabern seines Bundes. Das heilige Abendmahl geht weiter, da es eine feste geistliche Nahrung ist, um die Schafe Christi zu nähren. Es stärkt ihre Gemeinschaft mit dem guten Hirten Jesus, aber auch die Gemeinschaft untereinander. Die Taufe hingegen zeigt: So wie Wasser unseren schmutzigen Körper reinwäscht, so waschen Christi Blut und Geist unser beflecktes Herz von Sünden rein. Und wenn Gottes freie Gnade solch ein Herz von allen Sünden abwäscht, macht er es durch seinen Heiligen Geist willig, jeden Tag aufs Neue heilig zu leben. Wer so umgestaltet wurde, möchte aus Dankbarkeit Gottes Gebote halten. Paulus schreibt: ›Die Früchte des Geistes sind: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Selbstbeherrschung. Gegen solche Dinge gibt es kein Gesetz. Die aber Christus angehören, die haben das Fleisch gekreuzigt samt den Leidenschaften und Lüsten.‹ Solch ein Herz wird geheiligt, um auch jeden Rest der Sünde zu töten. Als ein Glied am Leib Christi ist der Gläubige geneigt, ehrlich und gottesfürchtig zu leben.« Der Visitator stimmte zu: »Ja, das stimmt mit dem überein, was ich heute Morgen schon angesprochen hatte, dem Text aus Galater 3: ›Denn ihr alle, die ihr in Christus hineingetauft seid, ihr habt Christus angezogen.‹ Aber wo steht Eurer Ansicht nach noch mehr über die Sache, die Ihr so nachdrücklich betont? Ich meine nicht nur den Missionsbefehl Christi, Jünger zu machen, sie zu unterweisen und zu taufen, sondern noch andere Belege aus der Schrift.« Karl sagte ohne zu zögern: »In Markus 16 ergänzt Jesus den Missionsbefehl mit den Worten: ›Wer glaubt und ge67


tauft wird, der wird gerettet werden.‹ Da findet sich wieder das enge Band zwischen Glaube und Taufe. Aber auch Paulus spricht in seinem Brief an Titus davon. Er schreibt von ›Gottes reicher Barmherzigkeit durch das Bad der Wiedergeburt und durch die Erneuerung des Heiligen Geistes, den er durch unseren Heiland Jesus Christus reichlich über uns ausgegossen hat.‹ Habt Ihr vielleicht eine Bibel griffbereit, Herr Visitator?« »Unter der Sitzbank liegen große und kleine, Karl.« »Halt!«, rief Karl und zog die Zügel an. Sie stapften aus dem Wagen und Rosenkeim zog eine Bibel unter der Plane hervor. Berthold und Johann sahen von ihren Sätteln aus, wie die beiden Männer schon bald danach wieder im Wagen die Köpfe zusammensteckten und gemeinsam in dem Buch lasen. Johann sagte: »Schau, Berthold, sie sind wie Philippus und der Kämmerer. Ob sie wohl auch in der ›Buchrolle des Jesaja‹ lesen?« Berthold schaute ihn verwundert an. »Philippus und der Kämmerer? Das ist doch eine Geschichte aus der Bibel, nicht wahr?« »Ja«, meinte Johann bestimmt, «der schwarze Äthiopier, eine Art Minister der Königin Kandake. Der war auf dem Weg nach Jerusalem gewesen, um Frieden mit Gott zu finden. Und als der Evangelist Philippus ihm das Evangelium von Jesus verkündigt hatte, wollte er getauft werden.« Inzwischen hatte Karl den Visitator gefragt, ob er Titus 3 vorlesen wolle und ihn darum gebeten, dass er seine Aufmerksamkeit besonders auf jene Verse richten sollte, die über die Taufe sprechen. Er wollte nicht die gute Stimmung gefährden, aber die Wahrheit von Gottes Wort ging vor. »Herr 68


Visitator, das äußerliche Wasserband ist nicht die Abwaschung der Erbsünde. Auch nicht bei gerade geborenen Kindern. Gottes Wort lehrt hier und an vielen anderen Stellen deutlich, dass die geistliche Reinigung von den Sünden allein und vollkommen durch das Blut und den Geist Christi geschieht. Die Wassertaufe veranschaulicht nur die Bedeutung des Rettungswerkes Gottes.« »Ja, aber Karl, wir haben doch gerade gelesen, dass der Heilige Geist – der Autor der Heiligen Schrift – die Taufe das ›Bad der Wiedergeburt‹ nennt, und doch bestreitet Ihr, dass wir dies buchstäblich nehmen sollen?« »Nein, Herr Visitator, die Wiedergeburt ist kein Bad mit natürlichem Wasser. Aber die Taufe verdeutlicht bildhaft dieses Rettungswerk! Weder das Wasser, das bei der Taufe verwendet wird, kann die Sünde abwaschen, noch die feierlichen Worte, die dabei gesprochen werden. Denn es bleibt zutreffend, was Gott durch Jeremia sagt: ›Kann ein Mohr seine Haut ändern oder ein Leopard seine Flecken?‹ Aber was Menschen nicht tun können, das tut Gott und er will uns mit der Taufe zusichern: So sicher, wie das Wasser den Körper äußerlich abwäscht, so sicher wäscht das Blut seines Sohnes das Herz von allen Sünden rein. Die Taufe ist ein Pfand, das Gott uns anvertraut hat! Die Sache, auf die auch im Titusbrief hingewiesen wird, ist der Kampf des Glaubens in allen Lebensumständen. Von mir aus könnt Ihr das wörtlich nehmen, aber dazu sollten wir die Bibelstelle noch einmal von Vers 5 an lesen. Da schreibt Paulus: ›Wir sind nicht durch unsere guten Werke gerettet, sondern Gott hat uns aufgrund seiner Barmherzigkeit durch das Bad der Wiedergeburt errettet und durch den Heiligen Geist erneuert. Den hat er durch Jesus Christus, unseren Retter, reichlich über uns ausgegossen. Wir sind alleine durch seine Gnade gerechtfertigt und allein hierdurch 69


Erben des ewigen Lebens. Das ist ein überaus kostbares Wort und aller Annahme wert.‹ Und jetzt ab Vers 8 fängt Paulus an, von den guten Werken zu sprechen, die Gläubige nach der Wiedergeburt hervorbringen.« Mit Erstaunen verfolgte der Visitator Karls Finger, der auf diese Worte zeigte, und lauschte Karls Auslegung. »Könnt ihr das bitte noch einmal wiederholen, Karl?« »Ja, gerne«, sagte Karl. »Die Taufe hat gewissermaßen den Platz der Beschneidung eingenommen. Im Alten Testament wurde man durch Beschneidung Mitglied des Volkes Gottes. Die Beschneidung war das Zeichen des Bundes, der mit Abraham geschlossen worden war. Der Herr Jesus hat sich beidem unterziehen lassen, Beschneidung und Taufe, und in ihm ist das eine in das andere übergegangen. Petrus verwies in seiner Pfingstpredigt darauf, dass die Verheißung des Evangeliums auch den Kindern gilt, in Verbindung mit Gottes Berufung durch das Wort des Evangeliums: ›Denn euch gilt die Verheißung und euren Kindern und allen, die ferne sind, so viele der Herr, unser Gott, herzurufen wird.‹ Und dann heißt es weiter am Ende von Apostelgeschichte 2: ›Diejenigen, die nun bereitwillig sein Wort annahmen, ließen sich taufen und es wurden an jenem Tag etwas dreitausend Seelen hinzugetan.‹ Ja, unsere Kinder dürfen auch dazugehören. Aber auch sie müssen durch das Wort des Evangeliums wiedergeboren werden. Und wenn Gott dies in seiner großen Gnade tut, ist auch für sie die Seligkeit so sicher wie die reinigende Kraft des Wassers. Als mein kleiner Kurt getauft wurde, ist mir das sehr deutlich geworden.« Während Karl dies sagte, dachte er daran, dass der Visitator ja weder Frau noch Kinder hatte. Betroffenheit über den Mann neben ihm durchströmte sein Herz. Er legte die Hand auf die Schulter seines Nachbarn und sagte verständnisvoll: 70


»Herr Visitator, wir haben doch solch einen lieben Heiland. Sein Blut ist ausreichend für die Reinigung aller Sünden und seine Liebe ist weiter als das Meer. Ruft doch seinen Namen an! Er ist der durch Gott gegebene Heiland und wir könnten dem nichts hinzufügen, und Gott wird Euch einmal all die verheißenen Segnungen schenken! Und wie mein junger Freund Johann sagte: Ihr dürft fortdauernd darum bitten.« Der Visitator spürte die aufrechte Güte und Betroffenheit seines Reisegenossen. Er sagte: »Ihr sprecht gerne über den Herrn Jesus Christus, das merke ich.« Dabei schaute er ihn von der Seite an. Der Kurier nickte nur mit seinem Kopf und atmete tief durch. Karl dachte: ›Wie ist es möglich, dass zwei derart verschiedene Menschen offensichtlich über solche Dinge in Frieden sprechen können, während um uns herum ein Krieg genau wegen dieser Dinge losbricht?‹

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Empfang im Benediktinerkloster

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er Rest des Nachmittags verlief ruhig. Hier und da wurden sie von einer Reitertruppe überholt. Manchmal waren es Soldaten. Auch Wagen mit Gütern kamen ihnen entgegen. Die Hügel wurden nun etwas flacher, und die Landschaft war nach wie vor lieblich. Um vier Uhr schlich die Dämmerung wieder zwischen den Hügeln herauf und die Abendsterne leuchteten auf. Es war ein glasklarer Himmel, und als die Sonne verschwand, sank die Temperatur rasch ab. Der Klostervisitator ließ kurz anhalten, und Berthold holte einen dicken Reisemantel aus dem Wagen hervor, den Rosenheim sogleich umschlug. Auch Karl und Johann wurden Reisedecken angeboten. Sie meinten aber, dass es für sie noch ohne zusätzliche Kleidung ginge. Johann nutzte aber die Gelegenheit, seine Wollhandschuhe aus der Satteltasche zu fischen und sie anzuziehen. Das Gefühl von Wärme und Schutz, das die Handschuhe verliehen, ließ ihn an seine Mutter denken. Das kam auch dadurch, dass seine Satteltaschen sich wegen all der Dinge, die sie ihm mitgegeben hatte, wölbten. Zudem hatte sie einen großen Beutel mit weiterer Kleidung am Sattel festgebunden. Der Beutel war ihm nicht ihm Wege – ganz im Gegenteil: Manchmal lehnte er sich nach hinten, um die Haltung zu wechseln, und dann stütze er sich darauf. 72


Er nahm sich vor, am kommenden Morgen doch einmal solch ein dickes Wollunterhemd anzuziehen und zudem auch eine warme Unterhose. Nur gut, dass Mutter darauf bestanden hatte, dass er die Sachen mitnehmen solle. »Männer, noch anderthalb Stunden, schätze ich«, sagte Rosenheim, während Berthold inzwischen die beiden Laternen an den Ecken des Reisewagens zur Sicherheit anzündete. Dabei sagte er: »Gib du einmal dem Braunen die letzten Stücke Roggenbrot, Johann. Der muss schließlich die meiste Arbeit tun.« Johann stieg von Donar ab, aber als er vergaß, das Tier anzubinden, lief es hinter ihm her zur Heukiste, in deren Ecke noch ein halbes Roggenbrot lag. Johann nahm das Brot in die eine Hand und schloss mit der anderen die Klappe, doch Donar riss es ihm sofort aus der Hand weg. »Komm Schwarzer, du bekommst später noch genug. Das ist für das Zugpferd.« Er konnte nicht vermeiden, dass Donar einen tüchtigen Happen abbiss. Berthold sagte: »Immer festbinden, Johann. Solch ein junges Pferd ist so neugierig, und vor allem dein Schwarzer scheint mir sehr unternehmungslustig zu sein.« Johann nahm die Belehrung bereitwillig an und fütterte den Braunen mit dem Rest des groben Brotes. Dann ging die Reise weiter. Am dunklen, schwarzblauen Firmament erschienen immer mehr Sterne. Johann schaute, wie so oft, hinauf und dachte darüber nach, dass Gott alles sah. Er wusste, dass Gottes Augen auch auf sein Elternhaus, auf seinen Vater und seine Mutter, auf Anna und den kleinen Wilhelm, und vor allem auch auf Mechthild blickten. Er wünschte, er könnte einen Augenblick lang seinen kleinen Bruder in den Armen halten und ihn hochwerfen und wieder auffangen. Beinahe hörte 73


er seinen Bruder vor Freude schreien: »Noch mal, Hannes, noch mehr, noch mehr!« ›Er wird mich doch hoffentlich noch wiedererkennen, wenn ich zurückkomme? Und dann Kaspar, unser treuer Knecht. Und die Nachbarn und Tante Maria mit dem stillen Hans …‹ Und er dachte an seine Freunde, auch wenn er diese in letzter Zeit nicht mehr so häufig gesehen hatte. Und vor allem, nicht zu vergessen, den tapferen Torwächter mit dessen Frau und Kinder. Und je dunkler alles um ihn her wurde, umso mehr machte sich düstere Angst in seinem Herzen breit – die Sorge vor dem, was die Zukunft wohl bringen würde. Wenn später einmal der Feind in ihre Stadt eindringen sollte, wäre es ein großes Wunder, wenn alle am Leben blieben. Wenn die Soldaten plünderten, schlugen sie alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Er hatte schon genug über solche Vorfälle gehört. Mitleid mit Ketzern kam sehr selten vor. Rauben und Morden dagegen passierte viel häufiger. Davon konnten die Böhmen ein Lied singen. Nun aber waren die Protestanten in Deutschland an der Reihe. In einer Stadt wie Frankenthal würde es für Mechthild, ihren Bruder Philip und ihre Eltern vielleicht nicht so schlimm werden. Schließlich wusste jeder, dass sie katholisch waren, und Mechthilds Vater war reich und hatte enormen Einfluss auf die Stadtverwaltung. Auf der anderen Seite war in einer Belagerungssituation und nach Einnahme einer Stadt alles möglich. Er sah, dass Berthold ruhig vor sich in die dichter werdende Finsternis blickte. Johann faltete seine Hände mit den Zügeln darin. »Vater im Himmel, bitte vergib mir alle meine Sünden um Jesus willen!«, betete er. »Herr, bitte bewahre alle, die mir lieb und wertvoll sind. Bewahre uns vor allem vor einem 74


unvorbereiteten Tod ohne Versöhnung. Und lass Karls und mein Werk gedeihen! Und beschütze uns heute Abend und heute Nacht in diesem Kloster! Um Jesu Willen, Amen.« Kurze Zeit später hielt der Reisewagen an. Der Visitator Rosenheim rief: »Berthold, wenn wir hier abbiegen und dem Hügelweg folgen, können wir die Strecke noch etwas abkürzen.« In der Tat kamen sie dann nach einigen Kilometern wieder beim Rhein heraus. Der Weg zum Tal führte zwischen den Hügeln entlang. Dort war es schon dunkel. Aber die beiden Laternen am Wagen verbreiteten ein freundliches, mild gelbliches Licht Die Luft war sehr klar. Johann wurde still, als er voller Ehrfurcht nach oben blickte. Er spürte deutlich den unendlichen Unterschied zwischen seiner Erbärmlichkeit und der Allmacht des hocherhabenen Gottes. So war es nun einmal in Wahrheit tatsächlich bestellt. All die Tausende von Sternen und auch die Planeten ruft Gott bei ihrem Namen. Sie laufen auf sicheren Bahnen, die für den Menschen nicht zu begreifen sind. Alle diese Dinge werden durch die Macht seiner unergründlichen Herrlichkeit getragen und fortbewegt. Und dass alles mit einer Präzision, die jedes menschliche Uhrwerk bei weitem übertrifft! Johann hatte schon oft gedacht, dass dieselbe kosmische Kraft des Schöpfers zugleich auch im Allerkleinsten wirkt. Sollten die Geheimnisse des Kleinsten und des Größten, was Aufbau und Bewegung angeht, vielleicht die gleichen sein? Und wenn man dann erst an die wunderliche Welt der Lebewesen dachte, von den kleinsten und einfachsten bis hin zu den kompliziertesten Formen! Er dachte an die Pflanzen, Blumen, Tiere und Menschen. Hatte er es nicht schon einmal erlebt, dass er eifersüchtig auf eine Amsel war, die so aus75


gelassen aus voller Brust zur Ehre des Schöpfers sang? Dann spürte er, dass er nicht im Stande war, derart – ohne Sünde und rein – allein Gott die Ehre zu geben. Dies machte ihn eine ganze Weile still und in sich gekehrt, da er seine Sünden und Mängel deutlich empfand. Als die kleine Gesellschaft wieder am Hauptweg beim Fluss herauskam, war der Vollmond etwas höher gestiegen. Das weiße Licht strahlte über die Landschaft. Die Außenränder der Hügel hoben sich dunkel gegen den hellen Himmel ab. Johann schaute erneut zu den vielen Sternen hinauf. Er probierte, sie in ein gedankliches Quadrat einzuteilen und zu zählen, aber er scheiterte, wie so oft schon, bei diesem Versuch. Stets sah er neue Lichtpunkte im Hintergrund des unendlichen Weltalls. Wie groß Gott doch war, der alles geschaffen hatte und noch immer für alles und jeden Sorge trug! Bedauerlicherweise waren es die Sünden, welche die größte Entfernung zwischen Mensch und Gott verursachten. Das menschliche Herz, das verseucht und verschmutzt ist und – noch schlimmer – manches Mal sogar mit Vergnügen die Sündenschuld noch größer macht, konnte an dem heiligen Gott keinen Gefallen finden. Es war damit wie mit einem Schwein, das so gerne im Dreck und dabei auch in seinem eigenen Mist wühlt, dachte er. Doch an der klaren, reinen Luft sah er wie an einem Mustervobild, wie es eigentlich sein sollte. Er dachte weiter nach. Die Sonne nahm er als Bild für Gottes Sohn. Der Sohn war nun nicht zu sehen, aber sein Licht schien auf den Mond. Seine runde Scheibe wirkte nun etwas kleiner, wobei sein Licht noch immer silbern glänzte. Aus sich selbst gab der Mond kein Licht, sondern er reflektierte das Licht der Sonne. Im Dunkel der Nacht konnte er etwas Licht von der Quelle allen Lichts weitergeben. 76


›Könnte ich doch sein wie der alte Friedrich und Karl, und in der Nachfolge Christi leben und etwas ausstrahlen von Gottes Gnade, die in Christus Jesus ist‹, dachte er trübsinnig. ›Oder würden Friedrich und Karl von sich denken, dass sie kaum das Licht eines kleinen Sternes wiedergeben würden?‹ Klar war, dass ein toter Sünder allein sich selbst im Sinn hat und überhaupt kein Licht ausstrahlt, nicht für sich selbst und nicht für andere. ›Und was ist mit den Mönchen im Kloster?‹, fragte er sich. Durchaus würden welche unter ihnen sein, die Lichtträger waren, aber dann würde das Licht nicht weiter reichen als bis zur Klostermauer. Sie würden wohl viele Kerzen abbrennen, aber wie konnten sie selbst Kerzen sein, die in der Nacht leuchten? Johanns Gedanken blieben noch eine Zeitlang bei dem Bild, das in seinen Gedanken aufkam. Dann beugte er sich hinüber zu Berthold. »Wie weit ist es noch zum Kloster, Berthold?« »Noch ungefähr eine halbe Stunde. Bekommst du schon wieder Hunger?« »Nein, das geht schon. Aber sag, können die Brüder immer für ihre Gäste sorgen?« »Ja, natürlich. In der Vorratskammer befindet sich normalerweise genug zu essen und zu trinken. Die meisten Mönche sind den ganzen Sommer damit beschäftigt, für einen guten Wintervorrat zu sorgen. Und sie bekommen ziemlich häufig etwas von den Bauern und den Menschen aus der Umgebung. Nein, Johann, deswegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Das klappt immer ausgezeichnet. Ich denke nicht, dass wir heute noch an der Mahlzeit im großen Saal teilnehmen können, aber die Brüder in der Küche sorgen sicherlich noch für uns. Mindestens zwei Leute sind ein Jahr lang zugeteilt, auf eine gute Art und Weise für Gäste zu sorgen. Der heilige Benedikt hat in seiner Hauptregel den Auf77


trag erteilt, besonders gastfreundlich zu sein. In all unseren Klöstern findet sich dementsprechend auch ein gutes Gästehaus. Dort steht immer eine gewisse Anzahl hergerichteter Betten bereit.« »Ja«, sagte Johann, »für euch schon, da Rosenheim ein hoher Prälat ist.« »Da irrst du dich, junger Mann«, sagte Berthold ein wenig empört. »Gerade gegenüber Fremden sind die Benediktiner genauso gut wie gegenüber ihren Mitbrüdern und anderen Glaubensgenossen. Ich arbeite gerade deswegen gerne für den Visitator. Aber auch Kranke, Alte und Kinder werden liebevoll durch die Mönche versorgt. Nun ja, sehr bald schon kannst du es mit eigenen Augen sehen und darüber mitreden, Johann. Der Abt des Klosters, zu dem wir unterwegs sind, hat sicherlich nicht weniger Sorge um den Nächsten als seine Kollegen in anderen Klöstern. Der Mann hat schrecklich viel zu tun. Er ist für das ganze Kloster verantwortlich. Dabei dreht sich alles darum, wie er die Regeln der Benediktiner in die Praxis umsetzt und durch seine Mönche ausführen lässt.« »Wie können sie die Regeln nach tausend Jahren noch so gut befolgen?«, fragte Johann erstaunt. Er dachte: ›So ein Mönch hat wohl alle Zeit, um zu versuchen, nach Gottes Wort zu leben. Aber abgesehen davon, ob sein Licht denn über Klostermauern hinaus strahlen kann, stellt sich doch die Frage, ob jemand mit guter Gesundheit Gott am besten hinter Klostermauern dienen kann. Aber Benedikt dürfte beim Aufstellen seiner Regeln doch von der Bibel ausgegangen sein. Zudem müssten die Menschen vor tausend Jahren doch wohl sehr viel näher an der Schrift gewesen sein als heute.‹ »Berthold«, fragte er daher, »hat sich die Art und Weise, wie die Benediktiner leben, sehr verändert, seitdem Benedikt seine Vorschriften aufgestellt hat?« 78


»Ja, Johann, das kannst du aber besser den Herrn Visitator Rosenheim fragen, oder eben heute Abend einen der Pater im Kloster.« In der Zwischenzeit hatte die kleine Reisetruppe eine kleine Siedlung passiert. Bevor das Ziel erreicht wurde, sagte Berthold lachend: »Herr Visitator, Johann hat sich gefragt, ob noch genug Essen im Kloster vorhanden ist. Er zweifelte eben daran, ob er und sein Freund wohl satt zu essen bekommen würden. Aber was ich fragen wollte: Geht Ihr direkt mit den beiden durch das Haupttor hindurch? Dann bringe ich den Wagen nach hinten.« »Das hatte ich so vorgesehen, Berthold. Ich meine, dass es so am besten ist.« »So habe ich das nicht gesagt, Berthold!«, protestierte Johann empört. »Aber geht denn der Herr Visitator nicht immer als Gast durch das Haupttor?« Berthold dachte kurz nach. »Das stimmt. Er darf das natürlich, aber meistens geht er einfach mit mir hinten herum. Er tut das, weil er der Ansicht ist, dass er jemand ist, der dient. Folglich möchte er den Brüdern so wenig wie möglich zur Last fallen. Sie sollten ihren anderen Verpflichtungen so ungestört wie möglich nachkommen können, meint er.« Nachdem sie in einen schmalen Weg eingebogen waren, standen sie kurze Zeit später vor dem Kloster. Im Licht einzelner großer Laternen war die Tür der schweren schwarzen Pforte gut zu sehen. Sie bestand aus massiven Eichenbrettern und war mit genieteten Eisenbeschlägen versehen. Im hellen Mondlicht ragte das Kloster stattlich und dunkel empor. »Bindet die Pferde neben dem Tor fest. Ich hole sie dann bald«, sagte Berthold. Er steuerte den Wagen zum Tor an der Hinterseite des Gebäudes. 79


Der Visitator stand mit Karl und Johann vor dem Haupttor und betätigte eine Klingel. Sie hörten, wie sich schlurfende Fußtritte näherten. Auf Augenhöhe öffnete sich eine Luke im Tor. Ein älterer Mann blickte neugierig nach draußen. »Guten Abend, Bruder Rosenheim. Gott segne Euch und Eure Gäste.« Schwere Riegel wurden weggeschoben und die Tür öffnete sich vor ihnen. Als sie in der halbdunklen Halle standen, wurden sie nochmals herzlich willkommen geheißen. Der alte Pförtner zog an einem Seil, woraufhin in der Ferne eine Klingel läutete. »Folgt mir nach. Berthold ist sicherlich bei den Stallungen. Ich bringe Euch inzwischen zum Gästehaus.« Noch bevor sie den breiten Gang betraten, lief hastig ein junger Mönch herbei. Er begrüßte die Gäste mit einer ehrfurchtsvollen Verbeugung. »Lass den Abt wissen, dass Visitator Rosenheim da ist und dass er zwei Gäste mitgebracht hat«, sagte der alte Mönch, woraufhin der junge Mönch sich rasch in Bewegung setzte. Während sie über die Tonfliesen durch den mit Öllampen beleuchteten Gang schritten, blickte Johann hoch. Er sah kunstvolles Mauerwerk, welches mit einem Halbbogen an der Oberkante des Ganges abschloss. Sie gelangten zu einem großen langen Raum, dessen Eingangstür offenstand. Dies schien der Speisesaal zu sein. Die Mönche, die damit beschäftig waren, die langen Speisetische abzuräumen, schwiegen sogleich, als sie bemerkten, dass Gäste gekommen waren. In einem Seitengang, der auch durch eine Lampe beleuchtet wurde, öffnete der freundliche Portier zwei gegenüberliegende Türen. »Wartet kurz, Freunde«, sagte er, »denn ich möchte zunächst etwas Licht für Euch machen.« Und etwas später: »Schaut, hier nebenan könnt Ihr Euch waschen 80


und eventuell umkleiden. Darf ich etwas zu Essen für Euch herrichten lassen?« »Ja, gerne«, sagte Prälat Rosenheim. »Vor allem dieser junge Mann hat starken Hunger, wenn ich das vorhin richtig verstanden habe.« Etwas später saßen Karl und Johann mit ihren kleinen Satteltaschen in einem blitzsauberen Raum. Auf beiden Seiten stand jeweils ein Bett mit einer dicken Strohmatratze. In der Mitte befand sich ein großer Eichenschrank, der nicht nur Platz für ihre Kleidung und andere Sachen bot, sondern auch noch zwei Kerzenständer enthielt, einen Stapel Leinenwäsche und ein paar weitere Decken. Drei Stühle und ein Tisch machten die Einrichtung komplett. In einer Nische stand ein kleines Marienbild, und an der Wand hing ein einfaches Holzkreuz. Oben in dem ziemlich hohen Raum befanden sich zwei kleine Fenster. Johann stand auf und ging dorthin. An der Außenseite sah er dicke Gitterstäbe. »Nun, Karl, wenn die Mönche die Tür abschließen, kommen wir hier nicht mehr heraus«, stellte er nüchtern fest. Bevor Karl antworten konnte, hörten sie, wie Visitator Rosenheim mit jemand auf Latein sprach. Es wurde bescheiden an der Tür angeklopft, woraufhin der Visitator mit einem Mönch eintrat. »Darf ich Euch meine Mitreisenden vorstellen, Vater? Das ist Karl, Kurier der Stadt Worms und ein kompetenter Vertreter der Protestanten, darf man wohl sagen. Und das ist sein junger Freund Johann Breitenfeld.« Johann sah einen relativ kräftigen Mann mit hoher Stirn, der ihm freundlich, aber ernsthaft zunickte. Auf höfliche Art wurden die beiden durch den Abt willkommen geheißen. 81


Der Abt bat, die Gäste möchten in einer halben Stunde die Mahlzeit zu sich nehmen und hieß sie anschließend in seiner privaten Kammer willkommen. »Wenn noch etwas benötigt wird, fragt bitte ruhig die Brüder«, fügte er freundlich hinzu. »Zwei Brüder sind beauftragt, sich um die Versorgung unserer Gäste zu kümmern. Das sind Bruder Laurentius und der junge Bruder Ambrosius. Sie sind während Eurer geschätzten Anwesenheit hier stets zu Euren Diensten.« Er lachte kurz. »Da die Mönche nicht mehr sagen, als nötig ist, mögt Ihr vielleicht denken, dass sie unfreundlich sind, aber glaubt mir, sie möchten Euch gerne zu Diensten sein.« Karl bedankte sich beim Abt für die freundliche Fürsorge und sagte, dass er später gerne mit den genannten Brüdern Bekanntschaft schließen wolle. Noch bevor Karl und Johann ihre Reisekleidung in den Schrank gehängt hatten, stellten sich die beiden Brüder vor. Laurentius wiederholte in ungefähr den gleichen Worten, was der Abt bereits geäußert hatte, und fragte außerdem, ob sie zur Mahlzeit Hühnerleber oder gebackenen Fisch bevorzugen würden. »Wegen des Frosts kann ich Euch Fisch von bester Qualität servieren«, empfahl er. Karl schaute Johann an. Als Johann mit einer Antwort zögerte, sagte Laurentius: »Ich kann auch gerne eine Hühnersuppe herrichten und den Fisch danach.« Der junge Mönch nickte aufmunternd und schaute Johann gespannt an. Ambrosius schien kaum siebzehn Jahre alt zu sein. Er hatte auch noch kein Wort gesagt. »Prima, Bruder«, sagte Johann. »Macht es bitte so, wie Ihr es eben vorgeschlagen habt. Nach solch einer langen Reise wird es sicherlich besonders gut schmecken.« Nachdem Berthold kurz vorbeigeschaut und vermeldet hatte, dass die Pferde bestens versorgt im Stall stünden, waren Karl und Johann eine Zeit lang für sich. 82


»Nun, Johann, übertrifft es deine Erwartungen? Am Ende willst du noch ganz hierbleiben, Junge! Dann hast du vielleicht Geschmack am Klosterleben bekommen und ich kann allein weiterziehen.« »Ja«, sagte Johann mit einem Grinsen, »das siehst du schon kommen, oder? Aber ich muss zugeben, dass die Katholiken bis jetzt sehr freundlich waren. Aber wie wird es später sein, wenn wir sie auf ihre Irrtümer hinweisen? Oder hast du das diesmal nicht vor?« Karl schaute ihn kurz nachdenklich an. »Was denkst du, Johann, wäre es besser, zu schweigen oder den Menschen hier nach dem Munde zu reden?« »Das wäre schon am einfachsten«, sagte Johann, »aber nicht ehrlich.« »Genau, guter Johann. Wir werden sehen, wie Gott es führt. Man kann nicht im Voraus alles festlegen. Aber wir sind aufgerufen, ehrlich mit unserer Überzeugung hervorzutreten.« »Aber doch nur, wenn die erfragt wird«, fand Johann. »Recht hast du. Sag, kannst du eben diese Kerze anzünden? Dann lege ich meine Reisebibel inzwischen auf den Tisch.« Etwas später legte Johann auch ein zweites Buch auf den Tisch. Karl schaute interessiert hin und sah, dass es ein Werk über Benedikt von Nursia war. »Schau mal, Johann. Hierin stehen die Lebensregeln der Benediktiner. Das ist sehr interessant! Und es ist auch noch auf Deutsch übersetzt.« »Wer ist der Autor, Karl? Benedikt selbst? »Nein, hier – sieh einmal. Gregor der Große hat es geschrieben. Das ist nicht irgendwer. Das war ein Papst, der seinen Beinamen allein schon aufgrund seines Eifers für die Mission und die Kirchenmusik, die Gregorianik, verdient hat.« 83


Auf einmal hörten sie in der Ferne die Mönche singen. »Hör mal«, sagte Karl, während er seine Finger hob, »die Schönheit des gregorianischen Gesangs gibt es immer noch. »Der reine, getragene Gesang klang durch den Klostergang und schwoll an zu einem langen Choral. Es wirkte auf die beiden Reisenden sehr beruhigend.« Johann las etwas in Karls Bibel. Karl war vertieft in ›Die Regeln der Mönche von Sankt Benedikt‹.

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Dies tut zu meinem Gedächtnis

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ach einer Viertelstunde hörten Karl und Johann die Türglocke läuten. »Noch mehr Gäste«, sagte Johann. »Oder vielleicht Mönche, die nach Hause kommen?« Neugierig öffnete er die Kammertür, um besser hören zu können. Kurze Zeit später kam Laurentius mit dem Abt den Seitengang entlang. Zwei Männer, die etwas befremdlich aussahen, gingen hinter ihnen her. Als sie an der Tür vorbeigingen, sahen Karl und Johann erst einen dicken Mann, der ein Bein humpelnd nachzog, und dann einen hageren Mann mit einem spitzen Gesicht. Der Hagere blickte unaufhörlich rings um sich herum. Kaum hatten sie die Tür passiert, bemerkten Karl und Johann einen unangenehmen Geruch. Sie hörten, wie der Abt dem Laurentius etwas auf Latein sagte. Daraufhin hörten sie Laurentius in strengem Ton sagen: »Der Abt möchte, dass ihr euch erst einmal gründlich wascht. Ihr könnt von mir saubere Hosen und Oberteile bekommen. Ihr seid hier willkommen, aber wir haben noch mehr Gäste im kleinen Speisesaal, die eine Mahlzeit einnehmen möchten. Hinter dieser Tür ist der Waschraum. Ich sorge dafür, dass ihr innerhalb der nächsten zehn Minuten einen Kübel mit warmem Wasser bekommt.« Der Magere maulte. »Herr Abt, wir haben schon so gefroren und wir sind so müde. Warum müsst Ihr uns das nun 85


antun? Außerdem ist mein Begleiter ein Krüppel. Warum werden wir arme Landstreicher nicht besser behandelt? In anderen Klöstern muss das doch auch nicht sein.« Der Abt meinte in einem Ton, wie man ihn sonst nur gegenüber ungezogenen Kindern gebraucht: »Wir möchten in unserem Kloster gerne alles schön sauber haben. Und das ist nur zu eurem Besten. Ein Bad zu seiner Zeit ist gut für die Gesundheit. Wenn ihr sauber seid, dürft ihr nach dem Essen zur Krankenstation gehen. Dort kann ein Bruder noch nach dem kranken Bein schauen.« Der Hagere nörgelte noch weiter. »Mein Kamerad ist schon fünf Jahre Krüppel. Da gibt es nichts mehr zu helfen.« Johann machte die Tür zu und schaute Karl kurz an. »Sag bloß, wir haben uns auch noch nicht gewaschen. Sollte etwa jeder das hier tun müssen?« »Du hast dich doch schon ein wenig im Rhein gewaschen, oder? Ach, wie geht es eigentlich deinem Knie?« »Ich spüre es beinahe nicht mehr. Aber die beiden werden wohl ein Bad nehmen müssen, weil sie einen so üblen Geruch verbreiten, oder?« Karl nickte abwesend. Dann sagte er nachsinnend: »Nun, so wird’s sein, Johann. Der Hagere kam mir übrigens bekannt vor. Ich könnte beinahe schwören, dass es der Bandenführer war, den sie voriges Jahr in Worms gehängt haben. Es könnte vielleicht sein Bruder sein. Ich habe noch geholfen, den Spitzbuben festzunehmen. Es stellte sich heraus, dass er überall auftauchte, um einfache Bauern und Handwerker, die unzufrieden waren, noch mehr aufzustacheln. Aber am Ende füllte er nur seine eigenen Taschen. Ich erschrak, als er binnen vierzehn Tagen zum Tod verurteilt wurde. Ich habe beim Stadtkommandanten noch um Aufschub gebeten. Auch habe ich einige Male mit ihm geredet. Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich nach dem ersten Mal meinen Wider86


willen überwinden musste gegenüber diesem eiskalten Gewaltmenschen! Jeder Mensch ist von Natur aus ein Sünder, aber es gibt doch einige Unterschiede. Einen Tag vor dem Urteilsspruch in Worms kam ein Bericht aus Mainz, dass dieser Galgenvogel aus dem dortigen Gefängnis entkommen sei. Durch seine Anstiftung waren dort zwei Menschen ermordet worden. Und einen Jungen, der ihm vor die Füße lief, hat er eigenhändig erstochen. Vorher hatte er noch die Möglichkeit gehabt, einen Gefängniswärter mit einem Beutel Geldstücke zu bestechen, den er an einem verborgenen Platz versteckt hatte. Feige und gemein war er als Führer einer Räuberbande an all diesen Sachen beteiligt, um letztlich nur seine eigenen Taschen zu füllen. Wenn das Vorhaben dann zu scheitern drohte, konnte er noch immer entwischen. An unseren Stadtmauern wurde er allerdings erwischt. Du erinnerst dich doch noch an den Torwächter, oder? Der konnte ihn wiedererkennen, weil er ihn noch von seinem vorherigen Wohnort her kannte, wo der Kerl in letzter Sekunde vor der Hinrichtung auf dem Schafott gerettet worden war. Einige Verbrecher fordern aufgrund ihres Betragens die Todesstrafe regelrecht heraus. Und wehe der Obrigkeit, die ihre Sache hier nicht ernstnimmt. Sie zeigt damit, dass sie keine Achtung vor den eigenen Bürgern hat. Übrigens scheint es mir auch nach Gottes Wort zu sein, wenn solche Mörder die Todesstrafe bekommen, weil auf diese Art und Weise das Übel so gut wie möglich ausgerottet wird. Natürlich muss die Schuld dann eindeutig feststehen. Nun, wie viele Verbrechen der Kerl begangen hat, bevor sein elendes Leben am Galgen endete, wird wohl niemand wissen.« Nachdem er so seiner Entrüstung Luft gemacht hatte, versank Karl wieder in seinen Gedanken und fuhr mit der Lektüre des Klosterbuches fort. 87


Kurze Zeit später meldete Laurentius, dass es ein wenig später werden würde mit der Mahlzeit, da noch zwei weitere Gäste dazugekommen seien. Karl fragte: »Können wir uns hier auch noch waschen, Bruder?« Laurentius lachte und sagte: »Natürlich, wenn Ihr das gerne möchtet. Hier neben Eurer Kammer befindet sich noch ein kleiner Seitengang mit Gästezimmern. Die Tür dahinter führt zum Waschraum, der zwei Waschzellen nebeneinander hat. Seife und Handtücher liegen bereit. Möchtet Ihr erst noch ein Bad nehmen?« »Nein, aber gerne morgen früh. Für heute Abend reicht es aus, bloß Gesicht und Hände etwas aufzufrischen.« Innerhalb einer halben Stunde saß die recht bunt gemischte Gesellschaft an einem langen, schweren Klostertisch im Speisesaal. Aus der kleinen Küche, die an die große Küche grenzte, stellte Laurentius das Essen auf die Durchreiche. Ambrosius brachte dann die Mahlzeit zu Tisch. Johann war bereits auf die hohe Qualität des Tisches aufmerksam geworden und begutachtete auch die schweren Kerzenständer und die Eisenverarbeitung beim offenen Kaminfeuer, als der Abt und einzelne ältere Brüder hereintraten. Neben Johann saß der dicke Landstreicher. Johann bemerkte rasch, dass der Mann ein wenig einfältig war. Er sprach über Schnee, Sturm und Unwetter, während Johann es heute draußen klar und ruhig erlebt hatte. Immerhin war er froh, dass er nicht neben der hageren »Spitzmaus« saß. Der echte Spitzbube wird dann wohl aufgehängt worden sein, aber wenn dieser Mann wirklich sein Bruder ist? Johann beugte sich vor und schaute heimlich an dem Dicken vorbei nach dessen Kumpan. Es fiel Johann auf, dass der Mann 88


rings umher alles mit seinen Augen absuchte, ohne jemanden direkt anzusehen. Ein älterer Mönch, der Karl gegenüber saß, stand auf, um dem jungen Ambrosius zu helfen. Die einfachen Teller, Schüsseln und Becher waren blitzsauber. Und das Wasser lief Johann im Mund zusammen, als er den feinen Geruch der Hühnersuppe roch. Neben einzelnen Brotschüsseln standen Kannen mit Milch, Bier und Wein. Etwas später trat Laurentius an die Tafel heran. Er trug ein weißes Tuch als Schürze und schöpfte die Suppe in die tiefen Teller. Johann sah gleich, dass der Abt und die beiden älteren Mönche nur ein wenig von der Suppe verlangten. Der Abt, der Johanns Blick aufgefangen hatte, meinte: »Wir haben schon vor einer Stunde etwas gehabt. Darum sind wir jetzt etwas zurückhaltend.« Dann bat er den Visitator Rosenheim darum, die Mahlzeit mit Gebet zu beginnen. Alle falteten die Hände, sogar der einfältige Landstreicher. Als der Visitator von Latein zu Deutsch wechselte, um den Segen zu erbitten, blickte Johann kurz durch seine halb­ offenen Augenlider. Zu seiner Überraschung sah er, dass die Spitzmaus schnell wie der Blitz mit Daumen und Zeigefinger ein Stück Hähnchenfleisch vom Teller seines einfältigen Gefährten stibitzte. Johann war so überrascht von der Schnelligkeit, mit der dies geschah, dass er kaum hörte, was der Klostervisitator betete. Nach dem ›Amen‹ hörte man das Klappern der Zinnlöffel in den Tellern. Die Männer aßen mit Genuss. Johanns Nachbar hatte zu früh begonnen. Erst verbrannte er sich an der heißen Suppe seine Lippen, und dadurch fiel ihm vor Schreck ein halber Löffel Suppe auf seine frische Kleidung. Johann hatte Mitleid mit dem Mann. Er zog ein Taschentuch hervor, um ihm zu helfen. Da war aber schon der junge Ambrosius zur Stelle und säuberte das Hemd des 89


Landstreichers mit seinem weißen Küchentuch. Johann sah das Gesicht seines Sitznachbarn nun aus der Nähe. Seine dunklen Augen unter den langen Wimpern blickten Johann dabei schelmisch an. Wie durch Eingebung fragte Johann: »Vater Abt, darf Bruder Ambrosius mir nach dem Essen das Kloster zeigen?« »Ja, gerne. Er kennt die Vorschriften, von daher kann er das gerne tun, wenn du das möchtest.« Rosenheim fragte: »Wie geht es deinem Knie, Johann? Ist es nicht mehr steif und tut es nicht mehr weh?« »Nein, Herr Visitator, Ihr habt es ausgezeichnet behandelt. Ich spüre beinahe nichts mehr.« Auf die Frage des Abtes, was passiert sei, erzählte Rosenheim, wie sich alles zugetragen hatte und berichtete auch kurz von der Begegnung mit den Reitern. »Ja, wir leben in einer unruhigen Zeit«, sagte der Abt. Die alten Mönche, die mit Berthold und dem Abt den anderen gegenüber saßen, nickten. Einer von ihnen sagte: »Wir erfahren hier nur durch die Gäste von den Gefahren und Schwierigkeiten in der unruhigen Welt da draußen vor den Klostermauern. Als der Mönch sah, dass die Gäste weiter aßen, schwieg er. Johann hätte am liebsten noch zwei Teller der köstlichen Suppe gegessen, dachte aber gleich an den gebackenen Fisch, der noch kommen sollte. Bruder Laurentius war schon intensiv mit der Zubereitung beschäftigt, denn sie hörten, wie in der Küche das heiße Öl auf dem Backblech zischte. Neben dem Fisch wurde auch ein Korb mit Brot serviert. Dazu gab es Schalen mit eingelegtem süß-sauren Gemüse, das vortrefflich zu dem knusprig gebratenen Fisch schmeckte. Die Gäste aßen so viel, dass sie schließlich mehr als satt waren. Die Mönche aßen von allem nur wenig und tranken lediglich mit Wasser verdünnten Wein. Währenddessen sorg90


ten die Küchenbrüder dafür, dass die Gäste nicht zu kurz kamen. Nach dem Dankgebet schlug der Abt Rosenheim und Karl vor, in die Kammer des Abtes zu gehen. Er hatte vom Visitator erfahren, dass Karl die biblische Botschaft auf sehr einleuchtende Art und Weise so wiedergeben konnte, wie sie auch von den Calvinisten gepredigt wird. Wenn sie hingegen lieber im kleinen Speisesaal bleiben wollten, wäre das auch in Ordnung. »Ich sitze hier ausgezeichnet«, sagte Karl. »Wenn es für Euch und dem Herrn Visitator passt, können wir ruhig hierbleiben.« Der Abt meinte mit einem freundlichen Lächeln: »Neben meiner Kammer befindet sich unsere Bibliothek. Dann wäre es vielleicht einfacher, das eine oder andere Buch zu Rate zu ziehen. Aber selbstverständlich kann man auch hierher jederzeit eines der Bücher holen, falls es denn nötig sein sollte.« Die beiden Küchenbrüder räumten den Tisch ab und machten sich an den Abwasch. Sie sorgten sich auch um das übriggebliebene Essen, so dass nichts verderben musste. Inzwischen hatte der Abt das Gespräch mit der Bemerkung eröffnet: »Ich habe von Bruder Rosenheim gehört, dass Ihr lediglich zwei Sakramente anerkennt, nämlich die heilige Taufe und das heilige Abendmahl. Könnt Ihr uns das vielleicht nochmals verdeutlichen? Unsere Kirche sieht ja sieben Sakramente vor.« »Werter Abt, zuerst möchte ich mich bei Euch, auch im Namen meines jungen Freundes, sehr herzlich für den freundlichen Empfang und die köstliche Mahlzeit bedanken«, begann Karl. »Und außerdem bin ich nur ein einfacher Mann, der sicherlich nicht sehr viel gelernt hat. Allerdings ist die Kenntnis biblischer Wahrheit von meiner Jugend an gewachsen. Sie ist mehr praktischer Natur, würde ich sagen. 91


Auf der anderen Seite muss ich zugeben, dass ich von meinem achtzehnten Lebensjahr an Gottes Wort mit Liebe studiere. Auch über Kirchengeschichte lese ich gerne.« Während er dies sagte, kam ein Mönch herein, der aber in gewissem Abstand stehen blieb. Der Abt blickte auf und fragte, was er zu melden habe. »Ich wollte um Erlaubnis bitten, die Fensterflügel fest zu verschließen und auch die Stallungen abzuschließen, da es anfängt zu stürmen. Möglicherweise wird ein Schneesturm hereinbrechen, da der Himmel sich in kürzester Zeit zugezogen hat.« Selbst Karl schaute verwundert, als er das hörte. Als sie ankamen, war es ja noch klar. Rosenheim sagte: »Ich haben im Westen schon dunkle Wolken aufziehen sehen, aber dass das Wetter so rasch umschlägt, überrascht mich nun doch.« »Schneesturm, Schneesturm«, murmelte der einfältige Landstreicher. Mit Erstaunen stellte Johann fest, dass der Mann, was Wetterverhältnisse anging, wohl doch nicht so dumm war. Selbstverständlich gab der Abt die Zustimmung, alles gut abzuschließen. Johann beugte sich vor und sagte an dem Dicken vorbei zu Karl: »Wir müssen nochmal nach den Pferden schauen.« Karl nickte und sagte nachdenklich: »Wenn wirklich ein Schneesturm kommt, können wir morgen vielleicht nicht weiterreisen.« Johann erschrak bei diesem Gedanken. Vielleicht müssten sie dann noch eine Nacht länger bleiben! Als der Mönch weggegangen war, sagte der Abt freundlich: »Ihr könnt so lange bei uns bleiben, wie es nötig ist.« In der Stille, die nun folgte, hörten sie tatsächlich, wie der Sturm stärker wurde. 92


Karl sagte: »Ich habe in Eurem Buch über Benedikt gelesen. Die Regeln für Mönche besagen, dass sie ihre Gäste so gut empfangen sollen, weil Jesus in der Bibel sagt: ›Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich beherbergt.‹« »Ja«, sagte der Abt bescheiden, »wir empfangen Christus in Euch und darum empfangen wir vor allem Arme und Fremde mit Liebe und Aufmerksamkeit.« »Ich kann mir darunter schon etwas vorstellen«, sagte Karl. »Gottes Wort sagt im Hebräerbrief: ›Vernachlässigt nicht die Gastfreundschaft, denn durch sie haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.‹ Aber tun all ihre Brüder dies nun wirklich aus Liebe?« »Wie meint Ihr das?«, fragte der Abt. »Nun, ich verstehe und schätze diese Praxis durchaus. Schon deshalb, weil ich diese Gastfreundschaft nun selbst erfahren darf. Allerdings übt Ihr das meiner Ansicht nach aus Verpflichtung aus. Ich glaube, dass ich es noch schöner fände, wenn ich spontan jemanden, den ich treffe, so gut wie meinen Nächsten behandele, so wie es die Umstände im jeweiligen Augenblick erfordern.« »In der Tat«, stimmte der Abt zu. »Aber die Pflicht ist etwas genauso Vollkommenes. Ihr nanntet selbst noch das andere Gebot, nämlich, nicht nur Gott zu lieben, sondern auch den Nächsten wie sich selbst. An dieser Hauptregel hängen das ganze Gesetz und die Propheten. Habt Ihr damit Schwierigkeiten?« »Aber nein«, sagte Karl, »ganz und gar nicht. Ich denke nur, dass diese Dinge erst wirklich funktionieren, wenn man durch Gott zu Gott bekehrt ist. Dann werden Herz und Hände gute Werke aus Dankbarkeit und nicht nur als Pflicht tun.« Johann sah, dass einer der Mönche überrascht aufblickte. Rosenheim mischte sich in das Gespräch ein: »Ja, ich habe heute gemerkt, dass unser Gast hier stets Nachdruck auf 93


die Freiwilligkeit legt. Unser verehrter Gast ist nicht sehr beeindruckt von unserer Art und Weise des Klosterlebens. Er sagt: Christen müssen zwar in der Welt, aber nicht von der Welt sein. Und dies ließe sich nach seiner Meinung außerhalb der Klostermauern besser verwirklichen.« Karl bejahte: »Ihr habt gut zugehört, Herr Visitator, und mich richtig verstanden.« »Zuhören ist ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit, Kurier. Ihr wisst selbst, dass gutes Zuhörenkönnen eine wichtige Fähigkeit ist. Aber um auf unser Thema zurückzukommen: Würdet Ihr uns kurz berichten, warum es Eurer Meinung nach nur zwei Sakramente gibt? Und erklärt bitte nochmals Eure Meinung über das heilige Sakrament des Abendmahls. Zumindest, wenn meine Brüder und unsere Gäste nichts dagegen haben.« »Bibel gut, Essen gut, Schneesturm nicht gut«, sagte der Dicke so deutlich wie er konnte. »Und du, Weißmann?«, fragte der Abt den hageren Landstreicher. »Ich finde es in Ordnung. Aber wie viel Geld muss ich Euch morgen zahlen, Vater? Wir sind arm und ich bin sehr knapp bei Kasse. Ich muss auch allzeit für meinen Kameraden sorgen, weil der hier oben etwas …« Er tippte heimlich mit dem Finger auf seine Stirn. Während er sprach, schaute er auf einen Punkt auf der Wand irgendwo neben dem Kopf des Abtes. Der Visitator schaute den Mann aufmerksam an. »Das ist schon in Ordnung. Mach dir deswegen keine Sorgen.« Er wandte sich zu Karl: »Kurier, fahrt fort. Wenn Ihr eine Bibel benötigt, sagt es bitte. Ich habe auch eine deutsche Übersetzung.« Johann sah seinen Freund durch den kurzen Bart streichen. Dann ergriff er das Wort. 94


»Es ging also um die Frage, warum es nach der Bibel bloß zwei Sakramente gibt. Außerdem batet Ihr um eine nähere Erklärung über unsere Ansicht zum Abendmahl. Um es einfach zu machen: Ich werde versuchen aufzuzeigen, dass es bereits in der Vergangenheit zwei sichtbare Zeichen gab und diese auch in Zukunft bleiben werden. Sie werden zu Recht Zeichen und Siegel genannt. Solche Zeichen gab es bereits vor dem Sündenfall, also bevor Gott seinen Bund mit der Menschheit schloss. Ich denke hierbei an den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen. Danach gab es unter dem alten Bund mit dem Volk Israel die Beschneidung und das Passah. Welche Treue zeigte Gott seinem Volk in der Wolke und in der Feuersäule! Tag und Nacht waren darin sichtbare Zeichen seiner Führung und Bewahrung zu sehen. Obgleich diese Wüstenreise sehr schwierig erschien, musste der gläubige Israelit in Wirklichkeit einfach nur Gott folgen. Und dann würde er auch erkennen, dass die Wolken- und Feuersäule eng verbunden war mit der Bundeslade, die mit Blut besprengt worden war. Dieses Blut erinnerte an das Blut des Lammes, das beim Passah für die Sünde des Volkes Israel geschlachtet wurde. Denn das erste Passahfest wurde vor der Errettung aus der ägyptischen Sklaverei gefeiert, zum Gedenken an das Blut, dass vergossen wurde, um die Erstgeborenen vom Tod zu retten. Es ist folglich auch ein deutliches Zeichen von Gottes Treue und Gnade, genauso wie die Wolken- und die Feuersäule. Im Neuen Testament waren es wieder zwei, nämlich die Taufe und das Abendmahl. Und mit ehrfürchtiger Vorsicht glaube ich sagen zu können, dass wir in der Fortsetzung dieser zwei Zeichen die unzählbare Schar der Erlösten aus Offenbarung 7 sehen können. Diese sind es, die zum Abend95


mahl des Herrn geladen sind. Sie sind durch Gottes Gnade für ewig versiegelt, was an ihren weißen Kleidern zu sehen sein wird, und jeder trägt einen eigenen weißen Stein der Rechtfertigung, erworben durch das Lamm, das für uns geschlachtet worden ist. Der Baum des Lebens aus dem Paradies wird dort dann als Zeichen dafür stehen, dass das Leben, sowie Gott es gemeint hat, nun seinen bleibenden Sieg davonträgt. Gott ist dann alles in allen.« Einen Augenblick lang blieb es still. Es gab ja nun auch einiges gedanklich zu verarbeiten. Karl dachte einen Moment lang nach und fuhr dann fort: »Deutlich ist, dass die Sakramente in einer sehr engen Beziehung zu Gottes Sohn stehen. In Christus ist sogar die Beschneidung in die Taufe übergegangen. Und das Passah in das Abendmahl des Herrn.« Der junge Ambrosius hatte seine Arbeit beendet und blieb in der Tür stehen. Laurentius war bereits gegangen. Johann erinnerte sich, dass Laurentium ihm eine Klosterführung geben wollte. Er stand auf und nickte in Richtung des jungen Mönches. Der Abt sah das und meinte: »Du kannst aber auch gerne bleiben, junger Mann. Dann zeigt Ambrosius dir morgen früh das Kloster.« »Oh, wenn das möglich ist, bleibe ich lieber.« Der junge Mönch wünschte jedem eine gute Nacht und ging dann weg. Der älteste Mönch, welcher der Prior des Klosters zu sein schien, ergriff das Wort. »Karl, streitet Ihr dann auch ab, dass sich der Wein nach den Segensworten des Priesters in das Blut Christi verwandelt? Und weigert Ihr Euch anzuerkennen, dass das heilige Taufwasser tatsächlich die Erbsünde abwäscht?« 96


»In der Tat. Ihr habt zwei Dinge in einem Atemzug erwähnt. Ich kann es durchaus verstehen, dass diese beiden Punkte zwei deutliche Unterschiede zwischen den Protestanten und den Katholiken darstellen. Ich glaube, dass Gott niemals seine freie Gnade automatisch an eine äußerliche Sakramentszeremonie knüpft. Das war weder im Paradies so, noch in der Beschneidung, noch im Passah und folglich auch nicht in der Taufe und im Abendmahl. Das lehrt die Praxis im Leben deutlich. Und noch wichtiger: Das lehrt die Bibel auch.« Er schaute in der Runde umher und sah in die gespannten, fragenden Gesichter der Mönche. Dann holte er tief Luft und fuhr fort. »Ich bin mir schon bewusst, dass sich Fehler bei der Auslegung von Gottes Wort einschleichen können. Dies kann geschehen durch ungenaue Übersetzung. Wenn zum Beispiel die Vulgata, die Bibelübersetzung von Hieronymus, dass griechische Wort ›mysterion‹, das einfach ›Geheimnis‹ bedeutet, mit ›Sakrament‹ übersetzt, entsteht solch ein Fehler. Darum hat Eure Kirche auch die Ehe zum Sakrament erhoben, da in Eurer Bibel in Epheser 5 die Ehe als ›Sakrament‹ bezeichnet wird, wo doch im Grundtext ›mysterion‹, also ›Geheimnis‹, steht.« Der Abt fragte spitz: »Habt Ihr Bedenken gegen das Wort ›Sakrament‹?« Karl schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, wir dürfen dieses Wort gerne gebrauchen, wenn nur die Bedeutung und die Anwendung klar bleiben. In den beiden Sakramenten spricht Gott uns fest zu, dass er seine biblischen Zusagen bekräftigt. Die Sakramente lassen sich daher nicht von Gottes Wort lösen. Nun aber etwas anderes: Die Frucht der Sakramente kann aber auch nur durch den Glauben genossen werden. 97


Dann erst ist man sich der Seligkeit gewiss, wenn der Heilige Geist diesen Glauben im Herzen festmacht. Wenn ich dies erfahren darf, Brüder, dann steht weder Fegefeuer noch irgendeine Unsicherheit mehr zwischen mir und dem himmlischen Vaterland. Darum darf ich diese beiden Sakramente auch treu gebrauchen. Christus hat es befohlen, insbesondere das heilige Abendmahl. Er lädt uns freundlich aus Liebe dazu ein. Ihr kennt die Worte, die er in jener Nacht, als er verraten wurde, sprach: ›Dies tut zu meinem Gedächtnis‹. Seine Liebe können wir nur durch unsere freiwillige Liebe erwidern. Darin besteht ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Sakramenten.« »Unterschied?«, fragte der Visitator. »Könnt Ihr uns das erklären?« »Sicherlich«, fuhr Karl ruhig fort. »Die Taufe trennt zwischen der Welt und einem Volk, dass durch Gott sichtbar beiseite gesetzt wird. Im Alten Testament sehen wir dasselbe an der Beschneidung; im Neuen Testament und bis heute sehen wir es durch die Taufe. Das Wasser zu Zeiten der Sintflut war das Todesurteil für die Welt. Dasselbe Wasser trug Noah und die Seinen in der rettenden Arche. Und die Durchquerung des Roten Meeres bedeutete für die Ägypter den Tod, aber für Israel die Rettung. Das soll allerdings noch nicht heißen, dass alle auch wirklich gläubig waren. So blieb Ham ein Ungläubiger und bedauerlicherweise blieb der Großteil von Israel in der Wüste ebenfalls ungläubig. Sie waren schon durch Gott beiseite gesetzt, aber sie wollten nicht, dass er in allem ihr König sein sollte. Ich sagte: Liebe erfordert freiwillige Liebe zurück. Darum ist das Abendmahl als Sakrament für Gottes Volk gestiftet 98


worden. Es dient dazu, durch stetige Wiederholung an das Leiden und Sterben des Lammes Gottes erinnert zu werden, das die Sünde der Welt weggenommen hat. Das Beiseitesetzen des Volkes durch Beschneidung und Taufe geschieht selbstverständlich nur einmal. Es ist bekannt, dass auch der strengste Protestant die katholische Taufe anerkennt, zumindest, wenn sie durch einen Priester im Namen des dreieinigen Gottes erfolgte.« Der Abt legte seine Hände wie zum Gebet aneinander und schaute Karl ruhig an. »In der Tat gibt es eine deutliche Übereinstimmung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament«, sagte er bedächtig. »Ebenso wie die Beschneidung ist die Taufe nur einmal nötig, und ebenso wie das Passah muss die heilige Messe oder das Abendmahl ständig wiederholt werden. Nur gibt es, meiner Ansicht nach, diesen Unterschied: das Passah wird lediglich zum Gedächtnis gefeiert, während das Opfer Christi so hoch und heilig gewesen ist, dass es stets wiederholt werden muss, in der uns täglichen aufgetragenen Messe. Nur auf diese Art und Weise bekommen die Gläubigen Teil am Opfer Christi, welches am Kreuz dargebracht wurde.« Karl hörte aufmerksam zu. Genau das hatte er schon erwartet. Das war genau der springende Punkt, an dem sie in ihrem Glauben weit auseinander lagen. Auch Johann konnte das nachempfinden. Er wusste sehr wohl, dass sein Heidelberger Katechismus klar sagte, dass die tägliche Wiederholung des Messopfers ›eine vermaledeite Abgötterei‹ sei. Würde Karl dies auch den Mönchen sagen? Diese Verurteilung ging ziemlich weit, auch wenn sie nicht so weit ging wie die römische Lehre, die eiskalt Menschen verfluchte, die sich nicht ihrer Lehre unterwarfen. Johann dachte: ›Wie würden diese freundlichen Mönche hierüber wohl denken? Und über die Verfolgung der Protes99


tanten? Sollten ihre Freundlichkeit und Gastfreundlichkeit etwa nur Schein sein? Vielleicht halten sie es für ein gutes Werk, Ketzer mit Gewalt zu bekehren und wenn dies nicht gelingt, sie auf der Stelle umzubringen. Sollte Ambrosius dazu imstande sein, oder würde er es tun, wenn der Abt oder Bischof es ihm ausdrücklich auftragen würden?‹ Karl war sich seiner Sache jedoch ziemlich sicher; das sah Johann ihm an. Voller Mitgefühl, aber auch mit gewissem Stolz, blickte Johann zu Karl hinüber. Auch die Mönche warteten auf die Antwort Karls. Sie sahen, dass er seiner Gewohnheit folgend über seinen Bart strich, wussten aber nicht, dass er im Stillen betete: ›Oh lieber Vater, gib mir durch deinen Geist doch etwas von der Weisheit und der Liebe Christi, um diesen Männern richtig zu antworten!‹ Der Klostervorsteher wurde ungeduldig. »Wie kann jemand beim Abendmahl sichergehen, dass er Anteil am Opfer Christi hat?«, fragte er. Karl antwortete: »Brüder, um die Worte des Abtes zu gebrauchen: Christi Opfer von Golgatha ist in der Tat hoch und heilig. Es ist von einem so unendlichen Wert, weil darin die Liebe des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes zu uns gipfelt. Es ist wie ein Scharnier, das die Zeit mit der Ewigkeit verbindet und zugleich ein Teil dieser Ewigkeit ist. Dieses Opfer war aber auch ganz und gar Gottes Plan, um sein schuldiges Volk wieder als seine Kinder rein und im Blut Christi gewaschen annehmen zu können. Nun können Gnade und Recht wieder Hand in Hand gehen. Hierdurch können Adam und Eva, Abel, Noah und Gottes ganzes Volk Gnade empfangen und in den Himmel eingehen und auch dort bleiben, weil Christus versprochen hat, am Kreuz für sie zu bezahlen. Er selbst hat sterbend gesagt: ›Es ist vollbracht!‹ Das heißt, er hat alles bezahlt. Die Kluft ist über100


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