32 E N T D E C KE N Vom Traum zum Beruf
DIE HERRIN DER
HUTE
In ihrer Berliner Atelierwohnung geht NELE SCHREINER einer kleinen, feinen Arbeit nach: Sie fertigt Kopfbedeckungen nach MaĂ&#x; an. Zu Besuch bei einer der wenigen Modistinnen, die es hierzulande gibt.
Festlicher Fascinator mit Blumendekor oder sportliche Strohkappe: Beim Kopfputz sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt.
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FOTO S: B E T T I NA VO N K AM EK E ; T E X T: ST EPHAN I E N EU M A N N
Oben: Fast fertig: Nele Schreiner verstärkt den Rand einer Kappe mit einer Gimpe (Ripsband). Unten: Kopfkollektion: Für jede Hutform gibt es eine eigene Vorlage aus Holz, nach der modelliert wird.
s gibt Tage, da führt eine Schlange von dem hellen gelben Eckhaus in der Schönfließerstraße bis hin zur nächsten Kreuzung. Geduldig stehen die Menschen an für etwas, das man in Berlin tatsächlich nicht an jeder Ecke bekommt: frisches selbst gebackenes Brot, hausgemachte Croissants, Schrippen und Kuchen. Dass in demselben Gebäude, durch das seit 1906 der süße Duft der Bäckerei Siebert zieht, noch eine weitere Seltenheit hergestellt wird, verrät nicht einmal das Namensschild. Man muss schon wissen, wo man klingelt, wenn man zur Hutmacherin möchte. Nele Schreiner, die hier am obersten und bürgerlichsten Zipfel des Szeneviertels Prenzlauer Berg zusammen mit ihrem eineinhalbjährigen Sohn Eddie und ihrem Lebensgefährten Pierre wohnt, hat einen Raum des hellen Altbau-Apartments zum Atelier umfunktioniert. Hier lagern in Schachteln gestapelt ihre Schätze. Und hier werden sie auch angefertigt: Kopfbedeckungen jeder Façon. Sportliche Samtkappen, sommerliche Strohhüte, förmliche Filzchapeaus, verspielte Haarschleifen, verführerisch wippende Fascinators … Die 30-jährige Wahlberlinerin ist Hutmacherin. Offizielle Berufsbezeichnung: Modistin. „Das Tolle an meinem Job ist, dass man direkt am Objekt modelliert und sofort ein Ergebnis sieht“, sagt Nele Schreiner. „Anders als bei einer Schneiderin, die erst einmal verschiedene Schnittteile zusammenfügen muss.“ Eine weitere Besonderheit des Hutmachens: die Vielzahl an Möglichkeiten und Materialien. „Beim Putz sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt“, sagt Nele. „Man kann alles zum Dekorieren verwenden: Blumen, Federn, Perlen, Spitze …“ Mindestens genauso vielseitig ist auch Nele Schreiners Portfolio an Aufträgen. Sie arbeitet mit drei Boutiquen zusammen, ist halbtags für die Berliner Opernwerkstätten im Einsatz und führt mit Designerkollegin Sandra Maier das gemeinsame Accessoirelabel NCA, dessen Hüte, Haarbänder und Ketten über den eigenen Onlineshop vertrieben werden. Als Roland Emmerich in Babelsberg 2010 den Kostümfilm „Anonymous“ drehte, war die Modistin am Set. Und Jazzmusiker Roger Cicero trägt auf dem Foto eines Tourplakats
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einen Hut, an dem Nele Schreiner ihren ersten Seideneinfass, eine spezielle Randverarbeitung, nähte. Damals war sie noch in Berlin in der Ausbildung bei Fiona Bennett, Deutschlands bekanntester Modistin. Weil sie lieber mit ihren Händen arbeiten wollte, brach sie mit 21 Jahren ihr Theaterwissenschafts- und Kunstgeschichtsstudium in Mainz/Wiesbaden ab, überlegte, recherchierte und kam schließlich auf den Beruf der Modistin. Klein, fein, kreativ, der perfekte Job. Mit nur einem Haken. Denn die Branche der Hutmacher ist mindestens genauso klein und fein wie das Produkt, was sie herstellen. „Als ich mich bei der Wiesbadener Handwerkskammer nach einem Ausbildungsplatz erkundigen wollte, haben sie mich ausgelacht und wieder nach Hause geschickt“, erinnert sich Nele Schreiner. Doch sie ließ nicht locker. Es folgte: tagelanges Herumgooglen, Branchenbuch-Wälzen und Telefonieren kreuz und quer durch Deutschland und die Schweiz. Gesucht? Ein Modisten-Atelier, das ausbildet. „Am Ende hatte ich acht Läden auf meiner Liste“, sagt sie. Es wurde Berlin, die deutsche Modehauptstadt. Nur eineinhalb Monate, nachdem sie die Universität abgebrochen hatte, saß Nele Schreiner in Fiona Bennetts Ladengeschäft in der Großen Hamburger Straße und arbeitete an ihrem ersten Kopfschmuck. Dass Hüte nicht nur für besondere Anlässe oder als Wetterschutz gedacht sind, sondern etwas für jeden Tag, müssen wir erst wieder lernen. Unter Modefans sind aktuell vor allem Klassiker wie Fedora, Borsalino oder Trilby gefragt. Ein schöner Trend, aber: „Man muss Huttragen üben“, sagt Nele Schreiner. „Es darf nicht aufgesetzt aussehen, sondern muss selbstverständlich sein.“ Bis in die Fünfzigerjahre hinein war es das auch. Da gehörte der Hut zu einem anständigen Erscheinungsbild dazu. Doch mit dem Aufstieg des Automobils begann der Niedergang der Kopfbedeckungen. Welche Dame von Welt konnte mit ihrem Putz schon erhobenen Hauptes in die Tiefen eines „Borgward Isabella“ steigen? Hüte wurden unmodern. Und die ursprünglich drei Berufe des Hutgarnierers, Hutmachers und Putzmachers zu einem zusammengefasst, der seitdem alles macht: Form, Verarbeitung und Verzierung. Doch genau darin liegt auch der Reiz. Routine? Gibt es nicht. Schließlich ist jedes Modell anders.
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Und jedes Stück ein Einzelstück, das genau an die Kopfform und -proportionen des Kunden angepasst wird. „Ich sehe den Unterschied zu einem industriell gefertigen Hut sofort“, sagt die Expertin. Gerade arbeitet sie an einem Fascinator, einem festlichen Minikopfschmuck, wie man ihn oft auf englischen Hochzeiten trägt. Sie steckt ein bordeauxrotes, glattes Stück Filz mit Nadeln auf einer hölzernen Kopfform fest. Drückt ein nasses Tuch darauf und bringt den Filz mithilfe eines Bügeleisens in die gewünschte Form. Jetzt folgt der Filzstreifen der Rundung des Kopfes. Bis er dekoriert und fertiggestellt werden kann, muss der künftige Fascinator allerdings noch trocknen. In der Zwischenzeit widmet sich Nele Schreiner einem anderen Modell: einer Kappe, deren Kante sie innen mit einem Ripsband versäubert, das mit unsichtbaren Stichen angenäht wird. „Dieses Futterband wird vorher auf die Kopfgröße des Kunden eingestellt“, erklärt sie. „Es definiert die Hutgröße und garantiert den perfekten Sitz.“ Wer einmal gesehen hat, mit wie viel Fingerspitzengefühl so ein Stück entsteht, wird nur noch achselzuckend an den Fließbandmodellen in der Fußgängerzone vorbeimarschieren. „Ein guter Hut ist ein Begleiter fürs Leben“, sagt Nele Schreiner. „Man muss ihn höchstens einmal auffrischen oder das Hutband austauchen.“ Und jedes Modell, von der Glocke bis zum Canotier, hat seine eigene hölzerne Vorlage zum Modellieren. Nur so kann man den Filz- oder Strohrohling in die gewünschte Form ziehen. Wie lange man an einem Hut sitzt? Hängt vom Modell ab. Eine schlichte Kappe ohne Putz kann in zwei Stunden gemacht sein, aber: „Ich habe während meiner Ausbildung auch mal zwei Wochen lang nur damit zugebracht, Federn zu fixieren“, erinnert sie sich. „Ich war schon recht blauäugig, als ich mich vor zweieinhalb Jahren selbstständig gemacht habe“, sagt die Modistin rückblickend. „Ich habe gar nicht groß überlegt, ob ich davon überhaupt leben kann. Ich habe es einfach gemacht.“ Gut so. Denn sie sorgt mit ihrer Arbeit dafür, dass eine Handwerkstradition, die bis in die griechische Antike zurückgeht, weiterlebt. Und in die Zukunft geführt wird. Auch, wenn sie selbst so gut wie nie Hut trägt. Aber das ist eine andere Geschichte.
1. Feinstarbeit: Mit Nadeln wird der künftige Fascinator an der Kopfform festgesteckt. 2. Schraubstock: Mit dem Huterweiterer kann ein fertiges Modell um bis zu 1,5 Größen gedehnt werden. 3. Bunte Mischung: Stroh- und Filzhüte warten auf ihren neuen Besitzer. 4. Ordnung: Nähgarn und Ripsband in einer von Nele Schreiners vielen Schubladen, die ihre Arbeitsutensilien beherbergen. 5. Herrin der Hüte: die Modistin in ihrem Berliner Atelier. 6. Maßarbeit: Mit diesem Hutmesser wird die Größe ermittelt. 7. „All my beautiful Friends“: Für ihre Kollektionsfotos standen Freundinnen Modell. 8. Hübschmacher: Mit Wasserdampf und Bürste wird ein Hut aufgefrischt. 9. Fundstücke: Tolle Hutschachteln entdeckt sie oft auf dem Flohmarkt.
Her mit dem Hut! Nele Schreiners aktuelle Kollektion können Sie unter nca-berlin.com bewundern und bestellen. Rote Kappe (8) ca. 125 Euro
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