Burgenland Modern

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Burgenland Modern

100 Jahre

100 Bauten

Johann Gallis Albert Kirchengast

Herausgegeben vom Land Burgenland

Birkhäuser Basel

Dieses Buch ist kein Architekturführer. Eine Karte und genaue Adressangaben sucht man hier vergebens, in die Hosentasche passt es kaum. Es ist auch nur bedingt eine retrospektive Bestandsaufnahme oder gar eine Bestenliste. Vielmehr ist es ein Schau- und Lesebuch für all jene, die sich für die Baukultur

im Burgenland interessieren. Mehr noch, es soll Neugier und Lust an Architektur wecken. Es soll als Entdeckungsreise – bestenfalls –zur differenzierten und respektvollen Auseinandersetzung mit architektonischen Werken anregen. So besehen, richtet sich Burgenland Modern an die Zukunft der gebauten Welt. Es bietet sich an, das 100-jährige Bestehen des Landes als Anlass und Startpunkt eines Projekts heranzuziehen, für das sich das Land Burgenland mit zwei Architekturforschern zusammengetan hat. Eine Fragestellung steht im Zentrum: In welchem kulturellen Kontext hat sich die Architektur des Landes entwickelt und welche bedeutenden Bauten hat es hervorgebracht? Der Betrachtungswinkel einer »langen Moderne« passt ideal zur Geschichte des Burgenlands, die mit seiner Gründung im Jahr 1921 beginnt und hier bis ins Jahr 2021 reicht. Die Autoren verstehen unter dem Begriff »modern« also nicht eine umgrenzte Epoche der Baukunst, sondern jene »moderne« Freiheit, die verschiedene Formen annehmen kann und die Landesbaukultur in verschiedener Weise prägt.

Den Kern von Burgenland Modern bilden 100 »Porträts« von 100 Bauten der genannten 100 Jahre. Jedes Bauwerk wird mit einem Hauptbild und einem Kurztext vorgestellt –manchmal ergänzt um weitere Bilder oder eine Doppelseite mit historischen Dokumenten. Das einprägsame Bild soll die gebauten Qualitäten unmittelbar vermitteln, der Begleittext sorgt für die Einordnung. Zwar erhebt die Auswahl keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sie ist aber doch auf Basis von über 1 500 begutachteten Projekten erfolgt, die nicht mehr existieren oder im Originalzustand erhalten sein mussten. Werke der Landschaftsarchitektur, Verkehrsinfrastrukturen etc. mussten großteils der schieren Fülle an Hochbauten weichen, der Städtebau findet besondere Beachtung in den Begleittexten. Bewusst dünnt sich die Auswahl in wachsender zeitlicher Nähe zur Gegenwart aus: Es gilt die alte Regel, dass eine haltbare Einschätzung den Abstand zu ihrem Gegenstand bedingt.

Hauptkriterium war die architektonische Qualität. Ein schwieriges Thema. Stellen muss man sich ihm allemal, schon allein, um sich bewusst zu werden, dass die vorgestellten Bauten Ausdruck eines komplexen baukulturellen Feldes sind. Sie wird daher von vielem bestimmt, nicht allein vom persönlichen

Vermögen, von Kreativität und Sensibilität, kurzum: vom »Können«. Gutes entsteht, wo die Rahmenbedingungen stimmen, wenn Bedürfnis und Erfüllung einander begegnen, wo Anforderungen und Ziele passen, wo man einander vertraut, wo die Ausführung mitspielt und die Nutzung. Entscheidend für die Auswahl war, ob sich in den Projekten der »Ort« widerspiegelt, da es ja um eine spezifisch burgenländische Baukultur ginge: Es ergibt wenig Sinn, Gebäude in den Katalog des Buchs aufzunehmen, die auch woanders stehen könnten – und seien sie noch so gut.

Weitere Objekte eines Architekten wurden nicht aufgenommen, wenn dies die Gewichtung über das Jahrhundert oder den ausgewogenen Querschnitt aus der Balance brächte. Zudem haben sich einige Akteure in der Dorferneuerung oder im Architektur Raum Burgenland und der Architekturvermittlung Verdienste erworben – das legitimiert indes nicht, ihren Bauten Porträts zu widmen, wenn dadurch andere, wichtigere aus Platzgründen im Buch verloren gingen.

Die 100 Bauten folgen chronologisch aufeinander, in der Realität ist das bauliche Gefüge natürlich komplexer. Aber auch im Buch tauchen einzelne Akteure und ihr Werk immer wieder auf, oft Jahrzehnte später, an anderer Stelle, mit anderer Formensprache, womöglich architektonischer Haltung – es zeigen sich überraschende Kontinuitäten und Brüche. Die Darstellungsmöglichkeiten einer Publikation fassen die Realität freilich nur beschränkt, werden jedoch durch verschiedene grafische Kniffe in Gang gesetzt: So soll etwa die Zuordnung der Projekte zu verschiedenen Typologien Querbezüge schaffen, in der »räumlichen« Struktur des Buchs zusätzliche Zusammenhänge verdeutlichen. Auch wenn man die einzelnen Bauten immer wieder nach Lust und Laune aufsuchen, Burgenland Modern an jeder Stelle aufschlagen kann, hängen sie auf verschiedenen Ebenen grafisch und inhaltlich zusammen und stellen sich als Mosaiksteine im dichten Gewebe der Landesbaukultur dar. Unterstützt und weiter verwoben werden die Einzeldarstellungen durch 7 »Aspekte«, dem erstmaligen Versuch, das Bauen im Burgenland geschichtlich einzuordnen. Baukulturelle Phänomene sollen vor ihrem zeit- und kulturgeschichtlichen Horizont sichtbar werden. Überschriften strukturieren diese Essays, unter dem »Textband« läuft eine »Diaschau«

durch. Dieses bildliche Kaleidoskop soll in jedem der sieben Kapitel dabei helfen, in die vergangenen Lebensräume der Menschen und Bauten einzutauchen. Während es bei den »Aspekten« um den Kontext der Objekte geht, handeln die »Porträts« vom Objekt im Kontext – immer geht es um den konkreten und ideellen Raum des Bauens, darum, dass diese beiden Pole nie voneinander zu trennen wären. Dieser Zugang von Burgenland Modern unterstreicht, dass Bauwerke und ihre Akteure –Architektinnen, Bauherren, Auftraggeberinnen, Fachplaner, Politikerinnen, … – alle Teil der Baukultur sind und deren Geschichte, Möglichkeiten sowie Einschränkungen bestimmen, dass es um einen historischen wie gegenwärtigen, um einen gemeinsamen »Raum« ginge, in dem wir auf verschiedene Weise gestalterisch agieren. Darin drückt sich weiters die Überzeugung der Autoren aus, wonach Bauten konkret, räumlich und sinnlich überzeugen müssen, ihre Wirkung und Bedeutung aber mit dem baukulturellen Verstehen unmittelbar zusammenhängt – eigentlich eine Binsenweisheit. Dass das Land Burgenland ein solches Projekt unterstützt, versteht sich von selbst: Das erste Mal wird die burgenländische Baukultur im 20. Jahrhundert umfassend dargestellt. Nicht in einer wissenschaftlichen Aufarbeitung, jedenfalls nicht dem Erscheinungsbild nach – wiewohl die Autoren nach wissenschaftlichen Kriterien vorgegangen sind. Burgenland Modern richtet sich nämlich an die breite Bevölkerung und nicht zuvorderst an ein Fachpublikum. Deshalb ist es auch von keiner geringen Bedeutung, dass die beiden Verfasser dem Land persönlich verbunden sind – dass sie es von »innen« kennen und dies seit vielen Jahren. Das bedeutet jedoch nicht, dass dieses Buch seinen Leserkreis nicht weit über das Land hinaus finden soll. Die Auswahl hervorragender Bauten ist dafür Grund genug: Sie machen ihren Anspruch weit über die Region hinaus geltend. Und schließlich ist die Kulturpolitik selbst Gegenstand von Burgenland Modern. Auch in diesem Sinn dient es nicht allein der Dokumentation vergangener Bauten, ist also kein »Geschichtsbuch«, sondern ein Signal in die Zukunft, ein Ansporn für das Bauen im nächsten Jahrhundert.

Das Land Burgenland Die Autoren

Typologien der Bauten 8

Register der 100 Bauten 9

Aspekte 1921–1933

Gründerzeit im Burgenland

Die Wiener Moderne auf dem Land 14–33

Bauten 1921–1933 34–63

Aspekte 1933–1945

Totalitäres Bauen

Fragmente von Ständestaat und Faschismus 64–83

Bauten 1933–1945 84–103

Aspekte 1945–1955

Lange Traditionen

Kontinuitäten der Moderne 104–121

Bauten 1945–1955 122–153

Aspekte 1955–1965

Neue Formen, neue Namen

Fortschrittsversprechen und Internationalisierung 154–171

Bauten 1955–1965 172–213

Aspekte 1965–1980

Burgenland-Brutalismus

Ein Phänomen der Spätmoderne im Kontext 214–235

Bauten 1965–1980 236–295

Aspekte 1980–1990

Die Suche nach dem Land

Vom Dorf zur Postmoderne und zurück 296–331

Bauten 1980–1990 332–347

Aspekte 1990–2021

Architektur im Raum Burgenland

Eigene Tendenzen und Impulse von außen 348–383

Bauten 1990–2021 384–427

Architektenbiografien 429

Ausgewählte Literatur 435

Personenregister 438

Ortsregister 440

Abbildungsnachweis 441

Über die Autoren Dank 444

Impressum 445

Bildungsbauten

Einfamilienhäuser und Villen

Freizeit- und Tourismusbauten

Gesundheitsbauten

Industrie- und Gewerbebauten

Kulturbauten und Denkmale

Öffentliche Bauten und Verwaltungsbauten

Sakralbauten und Bauten der Kirche

Wohnbauten und Siedlungen

1921–1933

Weiherlaufsiedlung, Neusiedl am See, 1922–1931

34

Landhaus, Eisenstadt, 1926–1929

38

Volksschule Sieggraben, 1926–1929

42

Krankenhaus Oberpullendorf, 1926–1929 44

Beamtenwohnhausanlage Ignaz-Till-Straße, Eisenstadt, 1926–1931 46

Rathaus Hornstein, 1927–1928

48

Zweiganstalt Eisenstadt der Österreichischen Nationalbank, 1928–1929

50

Badeanstalt Bad Sauerbrunn, 1929

52

Kammer für Arbeiter und Angestellte, Eisenstadt, 1930–1931

54

Haus Janus, Eisenstadt, 1930–1931

58

Pfarrkirche Andau, 1931

60

Landeskrankenkasse, Eisenstadt, 1931–1932

62

1933–1945

Lehrerbildungsanstalt Mattersburg, 1933–1934

84

Pfarrkirche Oberpullendorf, 1935

86

Wohnhaus Seedoch, Mattersburg, 1935–1936

88

Wohnhaus Heinzel, EisenstadtKleinhöflein, 1935–1937

90

Anschlussdenkmal Oberschützen, 1938–1939 94

Rathaus Neusiedl am See, 1938–1939

96

Südtiroler und Andreas-Hofer-Siedlung, Oberwart, 1938–1943

100

Zeilensiedlung Illmitz, um 1940

102

1945–1955

Burgenländische Handelskammer, Eisenstadt, 1949–1951

122

Lungenheilstätte Hirschenstein, 1949–1955

124

Rathaus Pinkafeld, 1950–1954

128

Bischofshof, Eisenstadt, 1950–1960

130

Feuerwehrhaus Pöttelsdorf, 1951–1952

132

Viehversteigerungshalle, Oberwart, 1952

136

Hauptschule Eberau, 1952–1954

138

Knabenseminar, Mattersburg, 1953–1956

140

Wohnhaus Nemeth, Eisenstadt, 1954–1957

142

Stadtzentrum Mattersburg, 1954–1973

144

Wohnhaus Girardoni, Siegendorf, ab 1954 148

Zentralschule Oberwart, 1955–1961 150

1955–1965

Sommerhaus Erlinger, Ruster Bucht, 1957 172

Sommerhaus Rainer, Wohnhaus Gruber, St. Margarethen, ab 1957; 1965–1969 174

Sonderheilanstalt Bad Tatzmannsdorf, 1959–1962

178

Seerestaurant Neufeld, 1960 182

Fabrikgebäude HIMICO , Steinbrunn, 1960 184

Gasthaus Wein, Breitenbrunn am Neusiedlersee, 1960–1962 186

Bildhauerhaus St. Margarethen, 1962–1968 190

Wohnhaus Braunschmidt, Kleinfrauenhaid, 1963

192

Gedächtnisstätte Mogersdorf, 1963–1964

194

Autohaus Nemeth, Eisenstadt, 1963–1964

196

Wohnhaus Dellacher, Oberwart, 1963–1969

200

Aufbahrungshalle Neudörfl, 1964–1967

202

Pädagogische Akademie Burgenland, Eisenstadt, 1964–1968

206

Kinderdorf Pöttsching, 1964–1968

208

Erholungszentrum Zicksee, St. Andrä am Zicksee, 1964–1968

210

Freibad Jennersdorf, 1965–1968

212

1965–1980

Joseph-Haydn-Konservatorium, Eisenstadt, 1965–1971

236

Landesmuseum Burgenland, Eisenstadt, 1965–1976

238

Pfarrzentrum Oberwart, 1966–1969

242

Pfarrkirche Bad Sauerbrunn, 1967–1970

244

Badehütte, Ruster Bucht, 1968–1969 246

Betriebsgebäude Hummel, St. Margarethen, 1968–1970 248

ORF -Landesstudio Burgenland / Expositur, Eisenstadt, 1968–1970

250

Hauptschule Purbach, 1968–1970

252

BEWAG Zentralverwaltungsgebäude, Eisenstadt, 1970–1971

254

Sauerbrunner Sparkasse, Mattersburg, 1970–1972

256

Wohnhaus Ohrenberger, Eisenstadt, 1970–1973

258

Wohnhausanlage Wohnen Morgen, Oberwart, 1970–1978

260

Wohnhaus Szauer, Großhöflein, 1971

264

Pfarrkirche Stegersbach, 1971–1974

266

Landeskrankenhaus Oberwart, 1971–1993

268

Die Grube, Breitenbrunn, ab 1971

270

Gebäudeensemble Walter Pichler, St. Martin an der Raab, 1972–2012

272

Kulturzentrum Mattersburg, 1973–1976

276

Aufbahrungshalle Rotenturm, 1973–1976

280

Kulturzentrum Güssing, 1973–1977

282

Kurmittelhaus und Kurhotel Bad Tatzmannsdorf, 1973–1979

284

Ferienhaus Juritsch, Hornstein, 1974

286

Erholungszentrum Neusiedl, 1974–1977

290

Frei-, Terrassen- und Sonnenbad Pöttsching, 1976–1977

292

Altes Schloss Gattendorf, 1976–2017

294

1980–1990

Feuerwehrhaus Mörbisch, 1982

332

Haus Prändl, Oggau, 1985–1986 334

Doppelwohnhaus, Gols, 1985–1990

338

Wohnhaus in Harmisch, 1986–1988

340

Raiffeisenlandesbank Burgenland, Eisenstadt, 1988–1991

342

Festivalzelt Wiesen, 1989–1990

344

Atelierhaus Prantl, Pöttsching, 1990

346

1990–2021

Wohnhaus Hergovich, St. Margarethen, 1990–1992

384

Betriebsgebäude Guttmann, Güssing, 1990–1992; 1995; 2000–2002

388

Musikpavillon Bad Sauerbrunn, 1991–1992

390

Wohnhaus Dörnhöfer, Eisenstadt, 1993–1996

392

Wohnhaus Sperl, Zurndorf, 1995–1996; 2000–2001

394

Inselwelt Jois, 1995–2001

396

Galerie Hametner, Stoob, 1998 398

Rathaus Eisenstadt, 1998–2001

400

Pfarrzentrum Podersdorf, 1998–2002

404

Ausstellungspavillon Wander Bertoni, Winden am See, 1999–2001 406

Wohnhaus Gasser, Markt Allhau, 1999–2003 408

Dialektinstitut Oberschützen, 2000–2003

410

Bar-Restaurant Mole West, Neusiedl am See, 2001–2004

412

Franz-Liszt-Konzerthaus, Raiding, 2004–2006

414

Festspielgelände Römersteinbruch, St. Margarethen, 2005–2008

416

Sommerhaus Gantner, Buchschachen, 2010–2012

418

Wohnhaus Schneider, Weingraben, 2015–2018

420

Wohnhaus Schuster, St. Margarethen, 2016–2019

422

Genossenschaftlicher Wohnbau Pinkafeld, 2017–2020

424

Restaurierung Hauptplatz Stadtschlaining, 2019–2021

426

Neue Formen, neue Namen Fortschrittsversprechen und Internationalisierung 1955–1965

Am westlichen Tellerrand

Am 15. Mai 1955 wird im Wiener Schloss Belvedere der Staatsvertrag zwischen Österreich und den Besatzungsmächten unterzeichnet. Er bedeutet das Ende der sowjetischen Besatzung im Burgenland: »Burgenland ist frei!« Nur ein Jahr nach der Unabhängigkeit Österreichs schlagen Sowjettruppen einen Volksaufstand in Ungarn brutal nieder. Rund 180 000 fliehen über das Burgenland in den Westen, im Land herrscht große Anteilnahme, das Ereignis geht in die Landesgeschichte ein. Was folgt, ist ein »antifaschistischer Schutzwall« auf ungarischer Seite: Stacheldraht, Wachtürme, Minenfelder. Was ehemals ein Land war, danach durch eine nationale Grenze geteilt, gehört nun verschiedenen politischen Systemen an, trennt der Kalte Krieg. Das Burgenland wird zum Land an der »toten Grenze«. Neuerlich ist es die kulturgeografische Lage, die die Entwicklung der Region behindert, diesmal liegt man ungünstigerweise im äußersten Osten des Westens. Erst 33 Jahre später wird der Grenzzaun durchtrennt: Im Frühjahr 1989 beschließt Budapest die Abtragung der Grenzanlagen, im Mai beginnen Soldaten mit der Arbeit, Österreichs Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollegen Gyula Horn reisen zum geschichtsträchtigen Fototermin am 27. Juni nach Sopron. Beim »Paneuropäischen Picknick« am 19. August kommt es zur größten Massenflucht aus der DDR, doch erst am 11. September öffnet Ungarn seine Grenzen. Am 9. November 1989 fällt die Berliner Mauer.

Eiserner Vorhang. Bis 1989 schneidet ein streng bewachter Grenzzaun samt Minenfeld quer durch Feld und Garten.

Anfang der 1950er-Jahre ist die wirtschaftliche Situation weiterhin prekär: Zehntausende pendeln nach Wien oder Graz, um einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Der Sohn eines Landarbeiters wird Bauarbeiter und baut sich ein Haus – so der Titel eines Films von Axel Corti aus dem Jahr 1975. Er blickt auf rasante Veränderungen und zwischenmenschliche Verluste in der kleinbäuerlichen Lebenswelt zurück und schenkt der Geschichte ein Gesicht. In der Mitte dieser Jahrzehnte, ab 1960, wandelt sich die dörfliche Welt unwiederbringlich durch die taube Kraft des Fortschritts. Und so verändern sich auch Lebenswelt, Landschaft, der Gefühlshaushalt der Menschen. Das Leben des Franz aus dem nordburgenländischen Raiding gestaltet Cortis humanistisches Filmporträt als Geschehen von überindividueller Gültigkeit: Existenzsicherung, Familiengründung, Hausbau, Entfremdung, Verlust; ein düsteres Bild des Aufeinandertreffens von Land und Großstadt als Symbol des Umbruchs. Im Burgenland ist das Realität –die Abhängigkeit von Wien, die Abnabelung von der bäuerlichen Lebenssphäre der Eltern und Großeltern. Ein Rohbau wird zum Ort des unerfüllten Lebenstraums: »Das Haus, das der Bauernsohn und Bauarbeiter Franz für sich und seine schwangere Frau Erna errichten will, wird niemals fertig. Denn über dem Versuch, aus dem dumpfen Milieu seiner dörflichen Herkunft auszubrechen und für mehr Lohn in der Stadt zu schuften, geht er kaputt«, schreibt der Deutsche Spiegel beim TV-Debüt des Films nach dem Drehbuch des steirischen Arbeitersohns Michael Scharang.

Verhängnis Wien. Klaus Rott scheitert in Axel Cortis berührendem Fernsehfilm am Wohlstandsversprechen.

Gasthaus Wein

Architekt: Julius Kappel, Mattersburg

Bauherr: Familie Wein

Ort: Breitenbrunn am Neusiedlersee

Zeit: 1960–1962

Zustand: überformt

Die »verschobene Schiefheit«, das »Gschnasige« der burgenländischen Architektur der frühen 1960er-Jahre stehen bei Alfred Schmeller, dem damaligen Landeskonservator und späteren Direktor des 20er Hauses, nicht gerade hoch im Kurs. Seinen Artikel verfasst er für den Kurier anlässlich einer vergessenen Architekturausstellung, die am 1. Dezember 1961 in der Eisenstädter Stadthalle eröffnet wird. Seine verbalen Anwürfe richten sich auch auf ein Gasthaus, das für ihn so gar nicht an die »flachen Gestade des Neusiedlersees« passt. Seine Worte treffen den Falschen. Julius Kappel

ist bereits ab 1956 Konsulent der Bauberatungsstelle der burgenländischen Handelskammer. Im Zuge dieser Tätigkeit berät er natürlich auch Gastronomen – mit gesättigtem Wissen aus eigener Praxis.

Kappel weiß seine Bauten behutsam in historische Gefüge einzupassen, denkt nach über das traditionelle Bauen und dessen Wert und kann als Vorreiter einer regionalistischen Architekturauffassung im Burgenland gelten. Hier handelt es sich hingegen um eine Gaststätte und ein Espresso im Stil seiner Zeit. Der geschwungene Schriftzug am Gebäude weist den Bau zudem als »Backhendlstation« aus, zeugt von einer Epoche, in der der burgenländische Fremdenverkehr in Fahrt kommt. Der ausschweifende Gebäudekomplex sitzt am Ortseingang von Breitenbrunn. Große Terrassenflächen reagieren auf den phänomenalen Ausblick über den See – verständlich wird die Gestalt des Gebäudes erst beim Vorüberfahren. Die Gaststätte der Familie Wein liegt an der Durchzugsstraße, der Lageplan hält eine angrenzende Tankstelle mit schwungvoller Zufahrt fest. Alles dreht sich um Bewegung. Und natürlich meint das auch: Tourismus. Das in Kappels Architekturansichten gesetzte Auto ist hierfür ein unzweideutiges Zeichen. Es ist beinahe so, als wäre es das Vorbild dieses Gebäudes. Den dynamischen Eindruck der zeichenhaften Großform mit flach geneigten, zueinander versetzten Pultdächern, die sich in der Mitte an einen mit kleinteiligen Steinplatten gemauerten Kamin anzulehnen scheinen, wird durch den bewegten Grundriss bestätigt: Er will begangen und erlebt werden. So sehr das Bauwerk seiner Erscheinung nach ein Zeichen ist, so sehr zeigt sich Kappel in dessen Innerem als meisterhaft-ökonomischer Arrangeur einer Gastronomielandschaft, die er auch räumlich geschickt und abwechslungsreich orchestriert – beim großflächig verglasten, einladenden Espresso-Trakt, den vielfältigen Eingangssituationen mit Rücksprüngen, Lauben und Treppen, der über zwei Räume laufenden Bar oder der Zonierung unterschiedlicher Gasträume mit charakteristischen schmiedeeisernen Gittern. Auch die Materialien dieses ganz eigentümlichen Baus für die Gastronomiefamilie Wein sind zeittypisch: Natursteinmäuerchen, Fenster mit Metallrahmen, leichte Holzverschalungen innen wie außen. Das Bauwerk spricht: späte 1950er-, frühe 1960er-Jahre, alles aus einem Guss, eigen und Ausdruck eines Lebensgefühls.

Bildhauerhaus St. Margarethen

Architekt: Johann Georg Gsteu, Wien

Bauherren: Symposion Europäischer Bildhauer; Land Burgenland

Ort: St. Margarethen

Zeit: 1962–1968

Zustand: erhalten

KAls der Steinbildhauer Karl Prantl das Symposion Europäischer Bildhauer ins Leben ruft, bezieht er sich auf seine eigene Erfahrung im berühmten Römersteinbruch. 1958, nach dem Ungarnaufstand, entsteht hier sein symbolischer Grenzstein, mit Friedrich Czagan und Heinrich Deutsch die Idee zu einem Symposium. Bereits 1959 wird das erste internationale Treffen unter acht Nationen abgehalten. Noch aber fehlt eine respektable gemeinsame Unterkunft. Die Ruine der Kantine für die Steinbrucharbeiter gibt Standort und Grundriss vor, den Auftrag für das Konzept erhält Johann Georg Gsteu, mit dem Prantl aus der Wiener Akademiezeit bekannt ist.

Zunächst skizziert der Architekt einen Kunststoffbau: Sieben nebeneinanderliegende Tonnen aus Polyester, von Erde beschwert und gedämmt, formen den futuristisch anmutenden Baukörper. Das findet keine Zustimmung. Da

bietet sich ein Freund mit Betonfertigteilwerk an, Dachelemente des industriellen Stallbaus für die besondere Bauaufgabe abzuändern: Gsteu lässt die aussteifenden Streben an den Enden abschneiden, das Serienprodukt in der Mitte ablängen, um die Bauteile ins freie Gelände transportieren und auf die vom lokalen Baumeister anmutig reparierten Steinmauern setzen zu können. Ihr Modul ist der entscheidende Taktgeber für den Grundriss und bestimmt auch den Ausdruck des schweren, liegenden Baukörpers. Er duckt sich unter den Schattenwurf der mächtigen, weit auskragenden Formstücke mit u-förmigem Querschnitt. So schwer wie die händische Arbeit am Stein, so widerständig mutet das Gebäude an. Trutzig wie eine Festung liegt es auf einer mit Dickicht und niedrigen Bäumen umwachsenen Anhöhe – wie ein Wächter am Eingang zum Margarethener Steinbruch. Ein Werk, so kräftig und klar wie sein Zweck, zusammengesetzt aus lokalem Sandsteinmauerwerk, Betonfertigteilen, innen Ziegeln und blau lackiertem Metall, der Kühle düsterer Räume: eine schützende Unterkunft in einer der antiken Sagenwelt entstiegenen Landschaft. Die Hitze, die Härte, die Wandlung des Steins zum Kunstwerk draußen, all das scheint im Gebäude eingefangen. Im Inneren klösterlicher Gleichmut, Bildhauer nach dem Schaffen, beim Zusammensein, beim Ruhen. Der Zellentrakt nimmt beinahe ein Drittel der rund 300 Quadratmeter ein – vier Rückzugsorte an jeder Seite gruppieren sich an den Mittelgang. Ihnen entspricht, am anderen Ende, ein über die Breite gelagerter Gemeinschaftsraum, dazwischen liegen die Funktionsräume. Alle sind sie spartanisch ausgestattet und erinnern in ihrer gelassenen Dunkelheit und Kühle an romanische Sakralbauten. Die Füllungen zwischen den steinernen Wandscheiben, kleinteilig gesprosste Fenster und Türen aus Eisen, setzen den kompositorischen Akzent – so auch die Glasstein-Kuben auf dem Flachdach. Einen ähnlich prägnanten, aus dem Wechsel von Lichtflut (Öffnung) und Dunkelheit (Wandschirm) gebildeten, abstrakten Raum lässt Gsteu 1960 durch vier martialische Schnitte in den Betonmantel des Seelsorgezentrums Oberbaumgarten entstehen. Vier Jahre zuvor erprobt er in der Hetzendorfer Rosenkranzkirche – ebenfalls in Wien, diesmal gemeinsam mit seinem zeitweiligen Büropartner Friedrich Achleitner – die radikale Zurückführung eines Kirchenraums auf die nackte Hüllfläche; zwei Jahre danach, für die

Pfarrkirche Steyr-Ennsleite – nun mit Friedrich Kurrent, Wilhelm Holzbauer und Johannes Spalt –, führt er Lichtwirkung, Tragwerk und kühle Raumstimmung in einem der wichtigen Kirchenräume der Nachkriegsmoderne zusammen. Im Innenraum der Bildhauerunterkunft sticht eine gegenläufig auskragende Tragskulptur ins Auge, die Gsteu in einer axonometrischen Zeichnung entwickelt: Der Blick fällt dort über ein Gitter in den alten Kellerraum, wo sich das künstlerische Tragwerk gründet. Der Tiroler Architekt ist selbst in die Hallstätter Bildhauerfachschule gegangen, 1956 und 1957 Schüler Konrad Wachsmanns bei der Salzburger Sommerakademie gewesen. Sowohl die Logik des Fügens als auch jene der Serie sind ihm vertraut.

Dieses profane Hauptwerk des »Außenseiters« Johann Georg Gsteu ist zugleich eine Speerspitze der österreichischen Architektur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Ein karger Ort, ein klarer Auftrag, ein reifer Architekt finden zusammen. Im Gespräch meint Gsteu einmal: »Ich bin einfach der Meinung, dass neutrale Konzepte besser und lebensbegleitender sind […], denn die Bauten und die Bewohner brauchen Luft zum Atmen.« Es gelingt, was die Moderne so sehr erstrebt: die Versöhnung von Industrie und Handwerk in der elementaren Form eines Raumgebildes.

Ein Phänomen der Spätmoderne im Kontext

1965–1980

Politischer Rahmen

Die Landtagswahl vom März 1964 bringt ein Novum im Burgenland – und im Österreich der Zweiten Republik. Erstmals kehren sich die Mehrheitsverhältnisse um, Hans Bögl löst mit seiner Sozialistischen Partei die ÖVP ab, die ab 1946 den Landeshauptmann gestellt hat. »Für ein schöneres Burgenland«, so der programmatische Titel eines Entwicklungskonzepts, das Fred Sinowatz und Helmuth Vogl im Kontext des Strukturwandels und der geänderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vorbereiten. Damit liegt ein langfristiges politisches Programm vor, dem grundsätzliche Strukturuntersuchungen vorausgehen – im Wahlkampf werden sie schlagfertig kommuniziert, sind mithin ausschlaggebend für dessen Ergebnis. »Wir rufen alle, die bereit sind für unsere Heimat zu arbeiten, mit uns gemeinsam an der Zukunft des Landes zu bauen«, ermuntert Bögl die Bevölkerung. »Bauen«, das ist auch ganz konkret gemeint, denn rasch werden 1965 erste Schritte zur Verabschiedung des umfangreichen Schulbaukonzepts eingeleitet. Die Devise lautet: »Auch das Landkind braucht die selbe Ausbildung wie das Stadtkind.«

Im Jahr 1966 folgt Theodor Kery auf Bögl als Landeshauptmann und wird 21 Jahre lang das Bundesland prägen. Fred Sinowatz legt das Amt des Landtagspräsidenten zurück, wird Landesrat für Kultur; Helmuth Vogl, zuvor Direktor der BEWAG, nicht zu verwechseln mit Franz Vogl von der Hochbauabteilung, wechselt in die Landesregierung als Landesrat für Finanzen

»Rote Wende«. Bei den Landtagswahlen 1964 erhält Hans Bögl die Mehrheit der Wählerstimmen, der Mann dahinter: Fred Sinowatz, links im Bild.

Rustikaler Wahlkampf, 1968. Das Angerdorf Breitenbrunn am Neusiedlersee und das »Neue Burgenland« Theodor Kerys, seit 1966 bereits Landeshauptmann.

und Bauagenden. Eine Verjüngungskur der politischen Mannschaft findet statt, die neue Wählerschichten anspricht. Die Landespolitik vermittelt –und dies noch vor der Ära Kreisky im Bund – den Eindruck von Dynamik und Modernisierung. Finanziert werden die immensen Ausgaben der Offensive durch eine moderne Fiskalpolitik, geprägt durch sogenannte »Entwicklungsbudgets« von Helmuth Vogl. Die Landesausgaben steigen innerhalb von zehn Jahren von 351 Millionen Schilling (2024: 179,2 Millionen Euro) im Jahr 1964 auf fast 2 Milliarden Schilling (2024: 631 Millionen Euro), aber auch die Einnahmen steigen.

Das neue Burgenlandbewusstsein ist unmittelbar an die Symbolfigur Kery gebunden: Sie steht für Fortschritt, Ziel ist einmal mehr die Angleichung der Lebensverhältnisse an den Rest Österreichs. Die Partei verbreitet in ihrer Öffentlichkeitsarbeit Slogans wie »Mit Kery für das Neue Burgenland«, in seinen Reden platziert der Landeshauptmann immer wieder die Erzählung vom Landstrich »auf der Überholspur«. Auch die Parteistruktur ist bestens organisiert, nach außen dienen volksfestartige »Burgenlandtreffen« und Gemeindebesuche als Kitt zur Bevölkerung – in Begleitung professioneller Pressefotografen. Die neu aufgestellte sozialistische Wochenzeitung BF (Burgenländische Freiheit) ist das massentaugliche Medium einer gewinnenden Kommunikation, die Raum für Themen der Jugend, für Sport, Kultur und auch für Architektur bietet. Nicht ohne Grund werden die 1970er-Jahre als das »sozialistische Jahrzehnt« bezeichnet.

Politik auf Tuchfühlung. Theodor Kery beim Gemeindebesuch inmitten von Kopftüchern und freudigen Gesichtern.

Landesmuseum Burgenland

Architekten: Hans Puchhammer, Gunther Wawrik, Wien

Bauherr: Land Burgenland

Ort: Eisenstadt

Zeit: 1965–1976

Zustand: erhalten

KDie räumliche Adaptierung des alten Landesmuseums für den zeitgemäßen Museumsbetrieb erstreckt sich über fünf Häuser des ehemaligen Eisenstädter Ghettos. Durch Abriss und Neubau, Umbau und Restaurierung eines ganzen Häuserblocks – ehedem in Besitz des vermögenden Sammlers und Weingroßhändlers Sándor Wolf – entsteht ein international beachtetes Referenzprojekt zum Thema Weiterbauen. Eine Großform wird selbstbewusst in die kleinstädtische, historische Hauslandschaft eingepflanzt, die zu einem neuen, collageartigen Organismus zusammenwachsen soll.

Im Jahr 1978, in der Münchner Ausstellung Neues Bauen in alter Umgebung, ist das Landesmuseum neben Projekten von Adolf Loos und Hans Hollein eines von drei Beispielen aus Österreich. Heute steht das Bauwerk als Teil der österreichischen Museumsgeschichte für sich selbst und belegt die sich über Jahrzehnte wandelnden Haltungen zum Bestand. Hans Puchhammer und Gunther Wawrik, von 1958 bis 1978 in Arbeitsgemeinschaft tätig, etablieren sich im Jahr 1960 durch die Ausstellungen Kunst aus Indien im Wiener Künstlerhaus sowie Situlenkunst zwischen Po und Donau 1962 im Naturhistorischen Museum. Dabei dürfte der damalige Kulturlandesrat Fred Sinowatz auf sie aufmerksam geworden sein. Kleinere Aufträge im Burgenland für das Museum Stegersbach und das Turmmuseum Breitenbrunn sind die Folge. 1963 werden die Architekten zur Teilnahme am Wettbewerb für die Gedächtnisstätte Mogersdorf geladen. Das Landesmuseum Eisenstadt ist ein Direkt-

auftrag und kann – neben ihren Wohnbauten –als Hauptwerk gelten. Zwei historische Häuser müssen in Eisenstadt dabei dem neuen Verwaltungsbau weichen, dem erhöhten Kopftrakt mit Büros, Werkstätten, Archiven und Depots. An ihn schließt eine zweigeschossige Mehrzweckhalle an, die durch Füllung des bestehenden Innenhofs mit einer transparenten Überdachung aus zweischaligen AcrylglasTonnen und mobilen Stoffbahnen an die erhaltenen und sanierten Häuser anschließt. Die Fuge in der Außenhaut, durch die das historische Putzkleid und der techno-affine Beton-Glas-Stahl-Neubau aufeinandertreffen, ist spektakulär – und spaltet wohl bis heute die Geister. Doch folgen Puchhammer und Wawrik gewissermaßen nur der barockisierenden, kleinteiligen Bestandsarchitektur. In Geometrie und Gestalt, Takt und Üppigkeit von Form und Farbe agieren sie auf dezidierte Weise mimetisch, das Alte aufnehmend, wandelnd und in langjähriger, selbstbewusster Auseinandersetzung fortschreibend. Dafür ist das genaue Lesen des Vorhandenen nötig, wie es die hier zurückhaltende, doch grobe – und gerade deshalb zeittypische – Behandlung der historischen Fassaden im Innenhof belegt. Die Setzung einer »barocken« Freitreppe wirkt wie ein Befreiungsschlag, zeigt den Willen zur starken Geste, den – auf ganz andere formale Weise – schon die faszinierenden axonometrischen Zeichnungen der Architekten belegen. Sie bilden eine einprägsame Architekturstruktur ab, Innenräume mit der Qualität eines Designstücks, spielerisch und ernst zugleich.

Begegnet man hier einer subtilen Intervention oder einer auf Kontraste setzenden Großstruktur? Vielleicht liegt gerade in dieser Ambivalenz die Qualität des Projekts – Dauerhaftigkeit durch äußerste Zeitgenossenschaft. Der Architekturhistoriker Otto Kapfinger bringt die gestalterische Leistung auf den Punkt: »Die Neubauten antworten in einer gelassenen Modernität auf die Rhythmen, Proportionen und Raumsequenzen des Bestandes. Aus dem Dialog der morphologisch-technischen Differenzen und der strukturellen Verwandtschaften resultierte eine neue Ganzheit. Eine exemplarische Arbeit dieser langjährigen Architektengemeinschaft, die in der Auseinandersetzung mit den Maximen Roland Rainers wie mit jenen der Arbeitsgruppe 4 eine eigene Linie fand.« Alle drei genannten Protagonisten agieren auch im Burgenland, nicht alle können ihre Vorhaben auch realisieren.

SPfarrzentrum Oberwart

Architekten: Günther Domenig, Eilfried Huth, Graz

Bauherr: Römisch-katholische Stadtpfarre Oberwart

Ort: Oberwart

Zeit: 1966–1969

Zustand: erhalten

Der Kirchenbau von Oberwart zählt zu den Weichenstellungen der österreichischen Architekturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Daran vermag auch seine polarisierende Fremdheit im an sich bereits heterogenen Ortsgefüge der Bezirkshauptstadt nicht zu rütteln. Die Situation auf historischen Foto-Dokumenten zeigt eher, welch ein Motor die Kirche durch ihre Bauvorhaben in jenen Jahren ist, wie sehr sie sich bemüht, avancierte Architektur in den Dienst sakraler Raumbildung zu stellen. Gleich »in mehrfacher Hinsicht« einen »Schlüsselbau in der österreichischen Architektur nach 1945« sieht darin Friedrich Achleitner, der frühe Historiograf einer gesamtösterreichischen Architekturentwicklung. Er lässt sich in seinem Werk Österreichische Architektur im 20. Jahrhundert sogar zur Formulierung eines »Donnerschlags von Oberwart« hinreißen.

Die Initiative ergreift der Oberwarter Stadtpfarrer Ladislaus Triber. Die »radikalsten Wiener und Grazer Tendenzen« werden hier von September 1965 bis Februar 1966 zum Wettstreit miteinander eingeladen: Bis dahin beherrscht die Konrad-Wachsmann-Schule die Szene. Ihr Gegenstand ist das konstruktive Stabwerk, eine auf Verbindungen, Knoten und Module ausgerichtete Bauweise, die Wachsmann an der Salzburger Sommerakademie lehrt. Seine Schüler findet er vorrangig in der Wiener Architektenschaft. Mit den Ideen des nach Amerika emigrierten deutschen Architekten, Theoretikers und Vertreters der Vorfertigung kehren in Österreich für viele erst wieder Internationalität und Fortschritt ein. Aber nicht nur das Teilnehmerfeld und die vertretenen Positionen sind in Oberwart prominent besetzt, sondern auch die Jury. Zu nennen sind der Wiener Architekt und Hochschullehrer Karl Schwanzer, damals bereits ein international beachteter Kopf, sein Pendant aus Graz, Ferdinand Schuster, dessen Werk langsam wiederentdeckt wird, sowie Alfred Schmeller, burgenländischer Landeskonservator und

späterer Direktor des 20er Hauses, der den Spagat zwischen Volkskultur und Avantgarde spielend zu überwinden scheint. Als beobachtende Augenpaare sind keine Geringeren als Bundeskanzler Josef Klaus und Bischof Stephan László staunend zugegen, als die so verschiedenen städtebaulichen Eingänge durch Modelle plastisch präsentiert werden. In der sanften Hanglage des aus zwei Dörfern zur südburgenländischen Bezirkshauptstadt zusammengewachsenen Oberwart soll ein Seelsorgezentrum, eine Kirche mit Unterkirche und Gemeinschaftszentrum, errichtet werden. Gegen die »partizipative Tendenz« Ottokar Uhls, die konstruktive Vorherrschaft der Arbeitsgruppe 4 mit Johannes Spalt, Wilhelm Holzbauer und Friedrich Kurrent, setzt sich die Grazer Planungsgruppe Günter Domenig und Eilfried Huth durch. Zwei expressive Baukörper aus schalreinem Beton stapeln sich um eine monumentale Freitreppe und machen auf der obersten Ebene der alten Kirche den Hof. Auf einem senffarbenen Teppich und Fiberglasmöbeln soll die »religiöse Gemeinde« den monumentalen Zentralraum zum Gottesdienst beleben, heißt es über den »Sinn der Baugestalt« im bauzeitlichen Folder. Die Betonung der »Kirchengemeinschaft« weist auf Huths Interesse an Prozessen der Nutzerbeteiligung voraus, das »Höhlengleichnis« – in einer Höhle sollte man sich nämlich einfinden – auf die plastische Formensprache Domenigs, einen gestalterischen Gestus, den beide etwas früher schon bei der Pädagogischen Akademie in Graz-Eggenberg erprobt haben. Verbleibt dort alles im 90-Grad-Winkel der Moderne, werden in Oberwart die Ecken auf 45 Grad abgewinkelt, das Oktogon beherrscht die Bauidee, ist der latente Grundbaustein. Die Betonplastiken Walter Förderers und Lichträume Franz Füegs verbinden sich zu einem überzeugenden Ausdruck. Ihre Architekturen haben die beiden Grazer Architekten im Vorfeld besucht, studiert und sich anverwandelt. Unterstützt wird dieses in Österreich ganz neue, zur Plastik geronnene Bauwerk in seinem Innenraum durch dynamisierende Y-Stützen und Licht-körper: Durch zeittypische Kunststoffschalen sickert ein zeitlos-diffuses, beinahe magisches Licht. Es geht hier nicht mehr um die schlackenlose Konstruktion, um moderne Strenge und Klarheit, im Gegenteil: Es geht allein um Wirkung. Es geht um den sich wandelnden Eindruck, den eine spirituelle Gemeinschaft in einem Sonderraum des Stadtalltags erfährt.

Ausschlaggebend für den Gewinn des Wettbewerbs dürfte – neben dem innovativen Raumkonzept – die städtebauliche Anlage gewesen sein. Die stattliche Barockkirche bleibt den Passanten in Sichtbeziehung erhalten, die komplexe Freitreppenanlage übt sich in der Vermittlung zwischen Straßenraum und barocker Kirche, Alltag und Festtag, Einkauf und Hochamt. Die Neubauten aus Beton wirken aus dieser Perspektive durchaus wie ein solides Rahmenwerk. Mit gutem Recht lässt sich, bei aller Kluft zwischen Barock und Brutalismus, von einer eigenwilligen Interpretation der älteren organisch-expressiven Bauform sprechen. Trotz oder wegen des Rangs, dem das Seelsorgezentrum als Wendepunkt österreichischer Kirchenbaukunst zukommt, stellt es eine architektonische wie personelle Sonderleistung innerhalb des bald blühenden Burgenland-Brutalismus dar. Dessen Beginn ist bereits mit dem Eisenstädter Joseph-HaydnKonservatorium eingeleitet.

Herausgeber

Amt der Burgenländischen Landesregierung

Abteilung 7 – Hauptreferat Sammlungen des Landes Museumsgasse 1–5, A-7000 Eisenstadt

Autoren

Johann Gallis

Albert Kirchengast

Acquisitions Editor

David Marold, Birkhäuser Verlag, A-Wien

Content & Production Editor

Bettina R. Algieri, Birkhäuser Verlag, A-Wien

Grafikdesign

Willi Schmid, A-Wien

Korrektorat

Esther Pirchner, A-Innsbruck

Litho

Pixelstorm Litho & Digital Imaging, A-Wien

Druck

Holzhausen, die Buchmarke der Gerin Druck GmbH, A-Wolkersdorf

Papier

Salzer Touch White 120 g/m²

Schrift

F Grotesk (www.radimpesko.com)

Library of Congress Control Number 2023947305

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

ISBN 978-3-0356-2736-7 e-ISBN (PDF) 978-3-0356-2737-4

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