Das Bild der Stadt

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Wie orientieren wir uns in einer Stadt? Was haftet im Gedächtnis? Woher rüh­ ren unsere ganz fest umrissenen visu­ ellen Vorstellungen? Was bedeutet die sichtbare Gestalt der Stadt den Bewoh­ nern? Von so grundsätzlichen Fragen her erfaßt Kevin Lynch ein ­bisher un­ begangenes Thema. Er zeigt, wie man das Bild der Stadt wieder einpräsamer machen kann. www.birkhauser.ch ISBN 978-3-7643-6360-4

Das Bild der Stadt

Birkhäuser

Kevin Lynch  Das Bild der Stadt

Bauwelt Fundamente

Kevin Lynch

Stadtgestaltung/ Stadterlebnis


Ablesbarkeit Dieses Buch will den visuellen Wert der amerikanischen Stadt abwägen, indem es das Vorstellungsbild prüft, das sich die Einwohner dieser Stadt von ihr machen. Es konzentriert sich in der Hauptsache auf eine besondere visuelle Qualität: auf die Klarheit oder »Ablesbarkeit« der Stadtszene. Damit ist die Leichtigkeit gemeint, mit der ihre einzelnen Teile erkannt und zu einem zusammenhängenden Muster aneinander­ gefügt werden können. Genauso wie diese bedruckte Seite, wenn sie leserlich ist, visuell als ein zusammenhängendes, aus erkennbaren Symbolen bestehendes Muster erfaßt wird, so sind auch bei einer »ablesbaren« Stadt die einzelnen Bereiche, Wahrzeichen und Weglinien leicht zu identifizieren und zu einem Gesamtmodell zusammenzufügen. Dieses Buch behauptet, daß Ablesbarkeit für das Bild der Stadt ausschlaggebend ist; es will diesen Begriff detaillieren und darzulegen versuchen, auf welche Weise er beim Neuaufbau unserer Städte Verwendung finden kann. Die vor­ liegende Studie ist, wie der Leser rasch feststellen wird, ein erstes und nicht ein letztes Wort – sie versucht Ideen aufzugreifen und vorzuschlagen, wie diese Ideen entwickelt und erprobt werden könnten. Der Ton, der hier angeschlagen wird, ist spekulativ und vielleicht gar ein bißchen leicht­ sinnig: vorsichtig zugleich und vermessen. Im ersten Kapitel werden einige der Grundideen entwickelt; die folgenden ­Kapitel zeigen diese Ideen in ihrer Anwendung auf verschiedene amerikanische Städte und erörtern ihre Konsequenzen für die Städteplanung. Wenn auch Klarheit bzw. Ablesbarkeit keineswegs die einzige wichtige Eigenschaft einer schönen Stadt ist, so ist sie doch von besonderer Bedeutung, wenn man die Umgebung im Zusammenhang mit dem Maßstab der Stadt in bezug auf Dimension, Zeit und Verzweigtheit betrachtet. Um das zu verstehen, müssen wir die Stadt nicht einfach als ein Ding an sich betrachten, sondern so, wie sie von ihren Einwohnern wahrgenommen wird. Gliederung und Kenntlichmachung der Umgebung sind lebens­wichtige Fähigkeiten aller sich fortbewegenden Tiere. Viele Hilfsmittel werden benutzt: solche visueller Art, wie Farbe, Form, Wahrnehmung von Bewegung, Lichtpolarisation, und andere Mittel, wie Geruch, Geräusche, Berührung, 12


Kinästhesie, das Gefühl für Schwerkraft und evtl. für elek­ trische oder magnetische Felder. Diese Orientierungstech­ niken – vom zielsicheren Flug einer Seeschwalbe bis zum ­tastenden Kriechen einer Schnecke über das Mikrogelände ­eines Felsbrockens – sind mitsamt ihrer Bedeutung in einer ausgedehnten Literatur ausführlich beschrieben [10, 20, 31, 59]. Psychologen haben diese Fähigkeit auch beim Menschen ­untersucht, allerdings ziemlich oberflächlich oder unter begrenzten Laboratoriumsbedingungen [1, 5, 8, 12, 37, 63, 65, 76, 81]. Trotz einiger noch ungelöster Rätsel hält man es heute für unwahrscheinlich, daß es irgendeinen mystischen Orientierungs-»Instinkt« gibt. Viel eher handelt es sich um folgerichtige Anwendung und Organisation ganz bestimmter, der ­Außenwelt zugehörenden Sinneshilfsmittel. Diese Organisation ist von grundlegender Bedeutung für die Leistungsfähigkeit und das Fortbestehen frei sich bewegender Lebewesen. Sich ganz und gar zu verirren – das ist wahrscheinlich ein sehr seltenes Erlebnis für die meisten Menschen in einer ­modernen Stadt. Unterstützung wird uns hier geboten durch die Anwesenheit anderer Menschen und spezieller Weg­ weiser: Karten, Straßennamen, Markierungen, Bus-Schilder. Aber wenn es uns einmal passiert, daß wir uns verirren, dann wird uns durch das Gefühl der Unruhe und des Schreckens klar, wie sehr dieses Mißgeschick unser Gleichgewicht und unser Wohlbefinden beeinflußt. Allein schon das Wort »verirrt« (»lost« = verloren) bedeutet in unserer Sprache mehr als nur geographische Unsicherheit; in ihm schwingen Obertöne, die absolutes Entsetzen ausdrücken. Beim Prozeß des Sichzurechtfindens besteht das strategische Hilfsmittel in der Vorstellung von der Umgebung, in dem allgemeinen geistigen Bild, das sich eine Person von der äußeren Welt der Erscheinungen macht. Dieses Bild ist ein Produkt aus unmittelbarer Erfahrung und der Erinnerung an vergangene Erfahrung; es wird benutzt, um Wahrgenommenes zu deuten und der Handlung eine Richtung zu geben. Das Bedürfnis, unsere Umwelt zu erkennen und zu »etikettieren«, ist so wesentlich und wurzelt so tief in der Vergangenheit, daß dieses erwähnte Bild für das Individuum einen ungeheuren praktischen und gefühlsmäßigen Wert hat. Es ist klar, daß ein deutliches Bild einen befähigt, sich leicht und schnell umherzubewegen und z. B. das Haus eines Freun13


Bild 1, Bild 2, Bild 3, Seite 30

Bild 2 ist eine Umrißskizze und Bild 3 eine schematische Darstellung der hauptsächlichen visuellen Elemente, die sich aus der Geländeuntersuchung ergaben. Für fast alle Befragten ist dieses Boston eine Stadt mit sehr deutlichen Distrikten – und sehr gewundenen, verworrenen Straßen. Es ist eine schmutzige Stadt mit roten Backstein­ gebäuden; charakteristisch sind die freie Fläche des Boston Common, das State House mit seiner goldenen Kuppel, der Blick über den Charles River von der Cambridge-Seite aus. Die meisten Leute fügten noch hinzu, daß Boston eine alte historische Stadt voll veralteter Bauwerke sei, daß es jedoch zwischen den alten auch einige neue Bauten gebe. Die engen Straßen sind überfüllt mit Menschen und Autos; es gibt keinen Parkplatz; gewaltig ist der Kontrast zwischen breiten

1  Die Bostoner Halbinsel, von Norden gesehen

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Haupt- und engen Nebenstraßen. Das Stadtzentrum bildet eine von Wasser umgebene Halbinsel. Zusätzlich zum Common, zum Charles River und zum State House findet man noch verschiedene anders auffallende Elemente, insbesondere z. B. Beacon Hill, die Commonwealth Avenue, den Geschäfts- und Theaterbezirk der Washington Street, Copley Square, die Back Bay, Louisburg Square, das North End, das Marktviertel und die Atlantic Avenue mit den Kais. Ein großer Teil der Befragten nannte noch mehr für Boston Charakteristisches: daß es keine freien bzw. Er­ holungsplätze habe, daß es eine »individuelle« kleine bzw. mittelgroße Stadt sei, daß große Bezirke gleichzeitig verschiedenen Zwecken dienten, daß es gekennzeichnet sei durch Erkerfenster, Eisenzäune, rote Sandsteinfronten.

2  Übersichtsplan der Bostoner Halbinsel

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Bild 4

Die beliebteste Ansicht war gewöhnlich die Fernsicht mit ­einem Hauch von Wasser und freiem Raum. Der Blick über den Charles River wurde oft zitiert; erwähnt wurden auch der Blick vom Fluß die Pickney Street hinunter, die Aussicht von einem Hügel in Brighton, die Ansicht Bostons vom ­Hafen aus. Ein weiterer beliebter Anblick war der der erleuchteten Stadt bei Nacht – von nah oder fern; dann scheint die Stadt von einem aufregenden Fluidum umgeben, das ihr sonst fehlt. Boston hat eine Struktur, die fast von allen diesen Leuten ­erfaßt wird. Der Charles River mit seinen Brücken bildet ­einen scharfen, klaren Rand, zu dem die Hauptstraßen der

3  Die äußere Gestalt von Boston entsprechend den Aufzeichnungen geschulter Beobachter

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Back Bay – z. B. Beacon Street und Commonwealth Av­ enue – parallel verlaufen. Diese Straßen beginnen bei der ­Massachusetts Avenue, rechtwinklig zum Charles River, und ziehen sich zum Boston Common und zum Public ­Garden hin. Neben diesen Back-Bay-Straßen befindet sich der ­Copley Square, auf den die Huntington Avenue ­mündet. Auf der unteren Seite des Common verlaufen die Tremont und die Washington Street – parallel zueinander und durch einige kleinere Straßen miteinander verbunden. Die Tremont Street geht bis zum Scollay Square, und von diesem Schnittpunkt aus läuft die Cambridge Street zurück zu einer anderen Kreuzung am Verkehrsring der Charles Street, so daß der Rahmen am Fluß wieder geschlossen ist. Auf diese Weise wird Beacon Hill eingesäumt. Etwas entfernter vom Fluß ­erscheint eine weitere ausgeprägte Wasserbegrenzung: die Atlantic Avenue und die Hafenfront, nur lose mit dem übrigen verbunden. Obgleich viele Personen Boston rein begriffsmäßig als Halbinsel ansahen, waren sie nicht in der Lage, eine visuelle Verbindung zwischen Fluß und Hafen zu erkennen. Boston scheint eine etwas »einseitige« Stadt zu sein, die an Präzision und Gehalt verliert, sobald man sich vom ­Charles River entfernt. Soviel kann fast jeder Einwohner von Boston über seine Stadt erzählen – wenn unsere Stichprobe als repräsentativ gelten kann. Ebenso sicher ist, daß er über einige andere

Bild 5, Seite 33

4  Boston, vom jenseitigen Ufer des Charles River gesehen

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Die Reihenfolge, in der die Planskizzen angefertigt wurden, schien darauf hinzuweisen, daß sich ein Image in verschiedener Weise aufbaut und entwickelt. Das hängt wahrscheinlich davon ab, in welcher Weise eine Person die ungewohnte Umwelt zum erstenmal ordnete. Es gab mehrere Typen: a)  Ziemlich häufig wurde das Image entlang gewohnter ­Bewegungslinien und von diesen ausgehend entwickelt. So ging der Zeichner z. B. zweigartig von einem Ausgangspunkt aus oder begann mit einer Grundlinie wie der Massachusetts Avenue. b)  Andere Zeichner begannen mit dem Umriß der Bostoner Halbinsel, der dann zur Mitte hin ausgefüllt wurde. c)  Wieder andere, besonders in Los Angeles, fingen mit der zugrunde liegenden Struktur (dem Straßenraster) an und fügten das Detail hinzu. d)  In seltenen Fällen war der Ausgangspunkt eine Gruppe einander benachbarter Gebäude, deren Inneres und deren Gelenkstücke später hinzukamen. e)  Einige Zeichner in Boston gingen von einem ihnen bekannten und vertrauten Zentralpunkt aus, an den alles andere angehängt wurde. Das Bild selbst war durchaus kein präzises, im Maßstab verkleinertes und durchgängig abstrahiertes Bild der Wirklichkeit. Im Interesse zweckmäßiger Vereinfachung kam es vor, daß Elemente verringert, weggelassen oder sogar dazuerfunden wurden. Das Bild entstand durch Verschmelzung und Verzerrung, durch Verbinden und Zusammenfügen der Einzelteile. Es war für seinen Zweck ausreichend, vielleicht war es sogar besser, wenn es umgeformt, verzerrt, unlogisch ­erschien. Obwohl die Skizzen verzerrt waren, gab es eine starke topologische Übereinstimmung mit der Wirklichkeit. Es war so, als ob der Plan auf ein unendlich dehnbares Gummituch ­gezeichnet wäre. Richtungen waren verdreht, Entfernungen gedehnt oder komprimiert, große Formen oft im Maßstab so verzeichnet, daß sie kaum erkennbar waren. Aber die ­Reihenfolge war meist richtig, der Plan war selten zerrissen oder in einer ganz falschen Ordnung zusammengefügt. Diese Kontinuität ist notwendig, wenn das »Image« irgendeinen Wert haben soll.

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Die Qualität des Vorstellungsbildes Die Untersuchung verschiedener individueller Vorstellungsbilder enthüllte in Boston bestimmte andere Untersuchungsmerkmale. Zum Beispiel unterschieden sich die Bilder der verschiedenen Personen in bezug auf ihre relative Dichte, d. h. in dem Grade, in dem sie mit Einzelheiten angereichert waren. Die Einzelheiten können relativ dicht auftauchen, wie in jenem Bild der Newbury Street, das auf der ganzen Länge jedes einzelne Haus kennzeichnete. Oder verhältnismäßig spärlich, wenn zum Beispiel Newbury Street einfach als eine Straße mit alten Häusern gemischter Nutzung ge­ sehen wird. Man könnte weiterhin zwischen konkreten, die Sinne lebhaft ansprechenden und mehr allgemein, hochgradig abstrakten Bildern, die wenig sinnlichen Gehalt haben, unterscheiden. So kann das Vorstellungsbild eines Gebäudes lebendig alle Einzelheiten von Farbe, Form und Textur enthalten, es kann aber auch relativ abstrakt sein und ein Gebäude bloß als ­»Restaurant« oder »von der Ecke aus das dritte Gebäude« bezeichnen. Ein lebendiges Bild muß nicht dicht, ein abstraktes nicht zwangsläufig spärlich im Detail sein. Ein Image kann gleichzeitig dicht und abstrakt sein, so wie die Vorstellung des Vermittlers in der Taxizentrale, der die Hausnummern einer Straße zu den Nutzungen in den einzelnen Bezirken in Beziehung bringt, ohne irgendein Gebäude in konkreter Weise beschreiben zu können. Die Vorstellungsbilder können weiterhin hinsichtlich ihres strukturellen Aufbaus, nämlich wie die einzelnen Elemente ungeordnet und verbunden sind, unterschieden werden: Es gab vier Stadien jeweils wachsender struktureller Präzision: a)  Die verschiedenen Elemente waren voneinander losgelöst. Es gab kein verbindendes Gefüge zwischen den einzelnen Teilen. Wir fanden keine reinen Beispiele dieses Typs, wenn auch einige Bilder offensichtlich zerrissen waren, leerräume und unzusammenhängende Elemente aufwiesen. Hier war eine vernünftige Fortbewegung ohne äußere Hilfe nicht möglich, es sei denn (und das kam dem sofortigen Aufbau ­einer neuen Struktur gleich), man erforschte das gesamte ­Gebiet, um einen Ausweg zu finden. 107


b)  Bei anderen war die Struktur auf bestimmten Festpunkten aufgebaut. Die einzelnen Teile wurden richtungsmäßig und sogar mit einer relativen Distanz zueinander geordnet, obwohl sie noch ohne Zusammenhang blieben. Besonders eine der Personen stützte sich stets auf einige wenige Elemente, ohne deren genaue Beziehung zu kennen. Der Weg wurde dann so gefunden, daß man sich in der korrekten Wegrichtung vortastete und dabei nach vorn und hinten ver­ gewisserte. Ein sicheres Gefühl für die Distanz verhinderte, daß man über das Ziel hinausging. c)  In den meisten Fällen war das Gefüge dehnbar; die einzelnen Teile waren miteinander in einer lockeren und flexiblen Manier, gleichsam durch lose oder elastische Bänder mit­ einander verbunden. Die Abfolge der Dinge war bekannt, aber das geistige Bild konnte verzerrt und die Verzerrung überall unterschiedlich sein. Eine Person bemerkte:» Ich ziehe es vor, an einige Brennpunkte zu denken und zu wissen, wie man vom einen zum anderen kommt. Mit dem Rest gebe ich mich nicht ab.« In einer flexiblen Struktur war die Fortbewegung leichter, weil sie entlang bekannter Wege und in bekannten Abfolgen geschah. Die Bewegung zwischen zwei gewohnheitsmäßig nicht verbundenen Teilen oder auf den weniger vertrauten Wegen mochte aber immer noch schwierig genug sein. d)  In dem Maße, in dem sich die Verbindungslinien vervielfachten, schien die Struktur starrer zu werden; die Teile ­waren in allen Richtungen fest verankert; irgendwelche Verzerrungen wurden nicht eingebaut. Der Eigentümer eines solchen Vorstellungsbildes kann sich viel freier bewegen und neue Punkte nach Bedarf einbinden. Wenn sich das Image dann verdichtet, beginnt es die Eigenarten eines »totalen Feldes« anzunehmen, das Aktionen in allen Richtungen und Reichweiten erlaubt. Diese Eigengesetzlichkeiten der Struktur wirken auf den verschiedenen Ebenen in unterschiedlicher Weise. Zwei Stadtgebiete mit starrem innerem Gefüge z. B. mögen in einer Naht oder in einem Kern zusammenstoßen. Aber wenn diese Verbindung zu schwach ist, die beiden Strukturen mit sich zu verankern, dann ist sie selbst unbestimmt und dehnbar. Für viele Bostoner schien dies beim Scollay Square der Fall zu sein. Ein umfassendes Bildgefüge kann auch noch in einer 108


anderen Art aufgebaut werden. Einige Personen ordneten ihre Vorstellungen sofort als eine Reihe von Einheiten und Teilen, die sich vom Allgemeinen zum Besonderen abstufte. Dieses Ordnungsbild hatte die Eigenarten eines statischen Planes. Eine Verbindung wurde hergestellt, indem man zuerst das erforderliche allgemeinverbindliche Merkmal aufsuchte und von dort zurück zum erwünschten Besonderen ging. Bei einem Gang vom City Hospital zur Old North Church z. B. würde man zuerst daran denken, daß das ­Hospital im South End lag und daß South End ein Teil der Bostoner Innenstadt war. Ebenso wurde die Lage des North End innerhalb der Stadt und dann die Lage der Kirche innerhalb des North End bestimmt. Diesen Typ eines Vorstellungsbildes könnte man hierarchisch nennen. f)  Für andere war das Bild eher in einer dynamischen Art aufgebaut. Die Teile waren – selbst wenn die Zeit nur kurz war – in einer zeitlichen Reihenfolge miteinander verbunden und gleichsam von einer Filmkamera aufgenommen. Das Bild war eng mit dem Erlebnis des Durchschreitens oder Durchfahrens verbunden. Man könnte hier von einer kontinuierlichen ­Organisation sprechen, die dynamische Beziehungen anstatt statischer Rangordnungen sieht. Es wird also dasjenige Vorstellungsbild am wertvollsten sein, das einem ausgeprägten und alles umfassenden »Feld« am nächsten kommt; das dicht, bestimmt und lebendig ist; alle Elementtypen und formalen Eigenschaften ohne enge Einschränkung benutzt; das je nach Lage in einer dynamisch kontinuier­lichen oder hierarchischen Art und Weise zusammengefügt werden kann. Wir werden natürlich entdecken, daß ein solches »Image« selten oder sogar unmöglich ist und daß es Personentypen gibt, die auf Grund ihrer Herkunft und Individualität die Grenzen ihrer angeborenen Fähigkeiten nicht überschreiten können. In diesem Fall sollte die Umwelt auf den entsprechenden Typ abgestimmt oder so vielfältig gestaltet sein, daß sie die unterschiedlichen Bedürfnisse der dort wohnenden Individuen befriedigt. Wir versuchen ständig, unsere Umwelt zu ordnen, ihr Struktur und Identität zu verleihen. Verschiedene (Stadt-)Landschaften eignen sich dazu besser, andere weniger. Bei der Umgestaltung der Städte sollte es möglich sein, ihnen eine Form zu geben, die diese Ordnungsbestrebungen erleichtert, anstatt sie zu erschweren. 109


35 Das aus mĂźndlichen Befragungen hervorgehende Vorstellungsbild von Boston

36  Das aus der Ăœberlagerung der Planskizzen entstehende Vorstellungsbild von Boston

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37 Die besonders charakteristischen Elemente von Boston

38  Die äußere Gestalt von Boston entsprechend den Aufzeichnungen geschulter Beobachter

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39  Das aus den müindlichen Befragungen hervorgehende Vorstellungsbild von Jersey City

40  Das aus der Überlagerung von Planskizzen entstehende Vorstellungsbild von Jersey City

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41  Die besonders charakteristischen Elemente von Jersey City

42  Die äußere Gestalt von Jersey City entsprechend den Aufzeichnungen geschulter Beobachter

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43  Das aus den mündlichen Befragungen hervorgehende Vorstellungsbild von Los Angeles

44  Das aus der Überlagerung von Planskizzen entstehende Vorstellungsbild von Los Angeles

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45  Die besonders charakteristischen Elemente von Los Angeles

46 Die äußere Gestalt von Los Angeles entsprechend den Aufzeichnungen geschulter Beobachter

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47  Übereinstimmung zwischen mündlichen Befragungen, Planskizzen und dem Ergebnis der Ortsbegehungen

48  Das aus Passantenbefragungen hervorgehende Vorstellungsbild von Boston

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bezug auf die Wohnorte sollte sie aber korrigiert werden. Nach den derzeitigen Erkenntnissen würde aber eine vollständig ­zufällige Verteilung der Wohnorte das allgemeine Bild nicht so sehr beeinflussen wie ein brauchbarerer Querschnitt durch alle sozialen Klassen. Manche Gebiete prägen sich gut ein, obwohl sie relativ ­unbekannt sind, andere sind vertraut und bilden trotzdem ein schwaches Image. Die Straßenbefragungen umfaßten einen größeren Personenkreis, der auch in seiner Sozialstruktur mehr zufällig zusammengesetzt war. Die Informationen wurden zwar sehr rasch gegeben, aber sie schienen das Resultat der längeren Interviews zu bestätigen. Die kritische Betrachtung der benutzten Personenauswahl kann darum so zusammengefaßt werden: 1.  Die interne Beständigkeit der von mehreren Quellen erhaltenen Daten scheint zu beweisen, daß die angewandten Methoden tatsächlich eine ziemlich zuverlässige Einsicht in das vielschichtige Vorstellungsbild der jeweils befragten Personen ergeben und daß diese ­Methoden für verschiedene Städte angewandt werden können. Die Tatsache, daß die Vorstellungsbilder verschiedener Städte so verschieden waren, entspricht der Hypothese, daß die äußere Form eine wichtige Rolle spielt. 2.  Trotz der kleinen, sozial und zum Teil örtlich einseitigen Auswahl wies vieles darauf hin, daß das aus der Überlagerung der Einzel­ resultate gewonnene Bild doch als eine erste, ungefähre Annäherung an das tatsächliche, in der Öffentlichkeit vorhandene Vorstellungsbild gelten könnte. Größe und Zusammensetzung der Personenauswahl muß jedoch bei erneuten Versuchen verbessert werden. Da die Stichproben zahlenmäßig so gering waren, wurde auf weitere Kategorisierung sowie auf die Untersuchung der je nach Alter, Geschlecht usw. verschiedenen Vorstellungsbilder verzichtet. Die Auswahl wurde als Ganzes analysiert und die Herkunft der Personen nicht berücksichtigt, es sei denn zur Klärung einer allgemeinen Tendenz im Endergebnis. Die Untersuchung der Gruppenunterschiede wäre unzweifelhaft ein interessantes Thema. Bislang hat die Untersuchung nur die Existenz eines logischen Vorstellungsbildes bewiesen, das benutzt wird, um die Stadt in Abwesenheit der Wirklichkeit zu beschreiben oder ins Gedächtnis zurückzurufen. Es kann sich von dem am Ort benutzten Bildgerüst durchaus unterscheiden. Die einzigen Überprüfungsmöglichkeiten dieser eventuell vorhandenen Diskrepanz waren die Ortsbegehungen, die mit einigen Personen gemacht wurden, und die Straßen­ befragungen. Die letzteren schienen trotz der Kürze der doch ausschließlich verbalen Aussage das aus dem Gedächtnis konstruierte Bild zu bestätigen. Die Ergebnisse der gemeinsam mit Laien durchgeführten Ortsbegehungen waren zweideutiger. Obwohl die all­

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