Ein kleines Haus

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LE CORBUSIER

E I N

K L E I N E S

BIRKHÄUSER

H A U S



EIN KLEINES HAUS


Die Gegend

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er Bauplatz...

Er liegt am Genfer See, wo die Weinberge in Terrassen aufsteigen; würde man alle ihre Stützmauern aneinanderfügen, so betrüge deren Länge dreißigtausend Kilometer, Une Petite Maison.indd 4

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01.04.2008 12:27:09 Uhr


das heißt drei Viertel des gesamten Erdumfanges! Die Weinbauern leisten ganze Arbeit. Ihr Werk wird hundert, ja vielleicht tausend Jahre überdauern! Nach einem arbeitsreichen Leben sollen mein Vater und meine Mutter in dem kleinen Haus ein Heim für ihre alten Tage finden. Meine Mutter ist Musikerin; leidenschaftliche Liebe zur Natur bestimmte das Wesen meines Vaters. Oft befinde ich mich in den Jahren 1922 und 1923 im Schnellzug Paris–Mailand oder im Orient-Express Paris– Ankara, den Plan eines Hauses in meiner Tasche. Wie? Den Plan bevor der Bauplatz bestimmt ist? Den Plan, für den der Bauplatz erst noch gefunden werden muss? Jawohl. Die Ausgangspunkte des Plans. Erstens: Die Sonne steht im Süden. Südlich, vor den Hügeln, liegt der See. Der See und die sich darin spiegelnden Schneeberge erstrecken sich von Westen nach Osten. Daraus ergibt sich: Das Haus ist gegen Süden orientiert. Der Fassade entlang erstreckt sich der vier Meter tiefe Wohnraum mit einer Frontlänge von sechzehn Metern. Die Länge seines Fensters beträgt elf Meter (ein einziges Fenster!). Zweitens: die „Wohnmaschine“. Genau den einzelnen Funktionen angepasste Dimensionen führen zu äußerster Raumausnützung. Die Anordnung folgt dem Ablauf der einzelnen Tätigkeiten. Bei Annahme eines Minimums an Grundfläche für jede Funktion wurde eine Totalgrundfläche von fünfzig Quadratmetern errechnet. Der fertige Plan des einstöckigen Hauses weist, mit allen Nebenräumen, eine Grundfläche von sechzig Quadratmetern auf. 5


Ein Rundgang

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onsequenz: ein Rundgang. 1. Die Straße; 2. das Gartentor; 3. die Haustüre; 4. die Garderobe (mit Öl-Heizkessel); 5. die Küche; 6. die Waschküche (mit Kellertreppe); 7. der Ausgang zum Hof; 8. der Wohnraum; 9. das Schlafzimmer; 10. das Bad; 11. die Wäschehänge und Wäscheaufbewahrung; 12. das kleine Wohnzimmer für Gäste (mit zwei übereinanderliegenden Betten); 13. ein gedeckter Sitzplatz; 14. die Vorderseite des Hauses und das elf Meter lange Fenster; 15. die Treppe zum Dach. 6


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it dem Plan in der Tasche machten wir uns auf die Suche nach einem Bauplatz. Schon hatten wir verschiedene in die engere Wahl gezogen, als wir eines Tages von der Höhe des Hügels aus den richtigen entdeckten. Er liegt am Ufer des Sees und schien nur auf das kleine Haus zu warten. Die Familie des Weinbauern, der ihn zum Verkauf anbot, war gastfreundlich und liebenswürdig. Wir „begossen“ den Kauf gemeinsam.

Wir haben den Bauplatz entdeckt

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Die geografische Lage

un wurde die geografische Lage des Platzes unserer Wahl bestimmt: In zwanzig Minuten Entfernung liegt der Bahnhof, wo die Züge halten, die Mailand, Zürich, Amsterdam, Paris, London, Marseille miteinander verbinden... 8


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er Plan passt auf das Gelände wie ein Handschuh. Vier Meter vor dem Fenster erstreckt sich der See, vier Meter hinter der Haustüre geht die Straße vorbei. Die zu unterhaltende Grundfläche beträgt dreihundert Quadratmeter und gewährt eine unvergleichliche und unverbaubare Aussicht auf einen der schönsten Horizonte dieser Welt.

Der Plan passt ... 9


Die Landschaft (Zeichnung von L-C, 1921)

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ein Vater lebte noch ein Jahr in diesem Hause. Die Landschaft begeisterte ihn. Während seines arbeitsreichen Lebens, oben in den Neuenburger Bergen, hatte er uns die Augen für die Schönheit der Natur geöffnet. Doch ist die Landschaft dort karg und rauh. Auf der einen Seite riegelt die Bergkette, die letzte Stufe der von der Rhone zum Jura ansteigenden Treppe, den Horizont ab, auf der anderen liegt das tief eingeschnittene Tal des Doubs. Die Gegend war einst abgeschlossen und völlig unbewohnt; erst seit sieben Jahrhunderten ist sie zur Wohnstätte geworden. Aber die Rauheit des Klimas veranlasst jene, die die Möglichkeit dazu haben, eines Tages hinunterzuziehen an den Genfer See, wo die Rebe wächst. 15


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m Jahr 1923 war unser „Schäferweg“ noch ein verlassener Pfad, eine alte römische Straße, die die Bischofsitze von Sitten, Lausanne und Genf miteinander verband. Um 1930 war das Idyll zu Ende; das Straßenbauamt wählte

Die Straße

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Der Eingang

diesen alten Weg, um die internationale Simplonstraße auszubauen. Seither erfüllt der Lärm der Fahrzeuge die einst so arkadische Stille. Zum Glück blickt das kleine Haus nach der anderen Seite und ist geschützt. 17


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as Budget für den Bau war sehr klein. Der Unternehmer nahm eine solche Architektur nicht allzu ernst. Ich selbst war in Paris und musste mich notgedrungen auf

Das Eingangstor

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Die Haustür ist hinter der Hortensie

ihn verlassen! Man verwendete für die Mauern Hohlsteine aus Zement und Sand (gute Wärme- und Kälteleiter und daher ungünstig) ohne genügende Fugenverbindung. 19


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us diesem Grunde musste eines Tages die Nordseite mit einem Schutzmantel aus galvanisiertem Eisenblech verkleidet werden, wie es häufig gegen Witterungsschäden bei Bauernhäusern geschieht. Dieser nützliche Panzer ist außerdem sehr hübsch.

Der Schutzmantel aus galvanisiertem Eisenblech

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Gerade zu jener Zeit kam die Verkehrsaviatik auf mit ihren Kabinen aus gewelltem Aluminium (Breguet). Das kleine Haus war (ohne es zu wollen) hoch modern geworden.

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INHALT EIN KLEINES HAUS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 DAS KLEINE HAUS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 AUCH DIE HÄUSER BEKOMMEN DEN KEUCHHUSTEN. . . . . . 55 ZEICHNUNGEN AUS DEM JAHR 1945. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 DAS VERBRECHEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79



Nachwort


DIE LEBEN EINES BERÜHMTEN KLEINEN HAUSES  Guillemette Morel Journel Vor etwa einem Dreivierteljahrhundert erschien das Werk, das hier als Faksimile vorliegt. In der Tat hegte Le Corbusier bereits 1954 den Wunsch, eines seiner kleinsten Bücher, Une petite maison, einem seiner kleinsten Bauwerke zu widmen. Wenn er dreißig Jahre nach dessen Bau im Jahr 1924 zu diesem in seinen Ausmaßen von nur sechzig Quadratmetern so bescheidenen Haus zurückkehrte, so deshalb, weil ihm das „Kleine Haus“, auch „Villa Le Lac“ genannt, besonders am Herzen lag. Für seine geliebten Eltern in Vevey am Ufer des Genfersees entworfen, betrachtete er es als antiken „Tempel am Wasser“ (Brief an seine Frau Yvonne, 11. September 1924). Jenseits dieser ideellen Bedeutung liegt die Besonderheit des „Kleinen Hauses“ in der Tatsache, dass es Le Corbusier zu zahlreichen Beschreibungen veranlassen sollte. So analysiert der Architekt im Laufe der Jahre die gestalterische Entwicklung, die Baustelle, die Funktion sowie die räumliche Disposition des Hauses – und schließlich dessen „Leben“. Le Corbusier nimmt folglich eine wechselseitige Position ein, ein Mise en abyme, eine Selbstbezüglichkeit von Autor (des Textes) und Gestalter (der Architektur), wodurch Erstgenannter zum befugten Exegeten des Zweitgenannten wird. Exeget, aber auch Theoretiker, bieten ihm doch die Darstellungen seiner eigenen Gebäude die Gelegenheit, die unterschiedlichen Elemente seiner Doktrin zu formulieren und zu illustrieren. Dies belegen die aufeinanderfolgenden Bände seines Œuvre complète, die seit 1930 beim Züricher Verleger Hans 86


Girsberger erschienen, der auch die Originalausgabe von Une petite maison veröffentlichte, „Ich sage es noch einmal: Es wäre angebracht, immer wieder in seinem eigenen Werk zu lesen. Das Bewusstsein der Begebenheiten ist das Sprungbrett zum Fortschritt“, verkündete Le Corbusier bei einem Vortrag 1929. Das Buch aus dem Jahr 1954 lässt sich folglich besser verstehen, wenn es in die Zeit eingeordnet wird, in der das „Kleine Haus“ im Mittelpunkt der Arbeiten des großen Architekten stand.

Vierzig Jahre der Auseinandersetzung mit dem Werk Die erste Publikation über die Villa Le Lac erschien, noch bevor die Baustelle begonnen hatte, am 28. Dezember 1923 in der Tageszeitung Paris-Journal. Le Corbusier ergreift darin die Gelegenheit, der Kritik seines einstigen Meisters Auguste Perret zu begegnen, die dieser am Fensterband geäußert hatte. Ein Bauplan und eine Perspektive der Rückansicht des Hauses, in dessen Ferne sich die Silhouette der Alpen abzeichnet, begleiten illustrativ diesen ausgiebig zitierten Artikel, in welchem der Architekt erklärt: „Ein wahres Fenster gibt es nur auf einer Seite, doch dieses erstreckt sich entlang der gesamten Fassade und reicht völlig aus, um das ganze Haus zu belichten: Zusätzlich zu seinem Belichtungsvermögen, das ihm seine Dimensionen verleihen, schließt es exakt auf jeweils beiden Seiten an die Raumecken, die die Wände im rechten Winkel zu seiner Fläche bilden. So laufen diese weißen Wände direkt in die Landschaft, ohne das Einstellen vorspringender Mittelpfosten. [ …] In unserer Manieriertheit finden wir das Haus wenig elegant, lassen aber nicht zu, dass ihm jeglicher Komfort abgesprochen wird.“ Die Programmatik geht also über den 87


BUCHGESTALTUNG VON LE CORBUSIER Übersetzung aus dem Französischen: Elsa Girsberger Library of Congress Control Number: 2020931556 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Neuausgabe der Originalausgabe von 1954 Dieses Buch ist auch als E-Book erhältlich (ISBN 978-3-0356-2068-9) und auch in französischer Sprache (Originalausgabe): Print (ISBN 978-3-0356-2065-8) und E-Book (ISBN 978-3-0356-2070-2) sowie in englischer Sprache: Print (ISBN 978-3-0356-2066-5) und E-Book (ISBN 978-3-0356-2068-9) erschienen. © 2020 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston © 2020 Fondation Le Corbusier, Paris Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF∞ Printed in Germany 987654321 ISBN 978-3-0356-2067-2 www.birkhauser.com



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