Uta Brandes
Gender Design Board of International Research in Design, BIRD
StreifzĂźge zwischen Theorie und Empirie
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort BIRD
009
Umherschweifen: Ein Vorwort
011
Einleitung Lücken und Lückenfüller
016
Lernende und Lehrende
018
Rundgang 020 Das Projekt: Learning about Gender by Design
027
Jaqueline Diedam
Wicked Problems Das Dilemma der Zweigeschlechtlichkeit in der empirischen Forschung Das Projekt: What we design, designs us back
044
051
Michelle Christensen and Florian Conradi
Orte – Räume – Gender Privatheit 067 Das Projekt: Frauen im Hotel
074
Öffentlichkeit 087 Wellenbewegungen zwischen Innen und Außen
004 GENDER DESIGN
097
Das Projekt: Fandalismus – eine Intervention im öffentlichen Raum
103
Das Projekt: Invading Another’s Personal Space
108
Chi Yan Louise Yau
Nowhere/Everyhere Netze
118
Nähe und Ferne zwischen Körpern im Raum
120
Körper-Facetten Krisendesign und Krisenkörper
128
Habeas Corpus
138
Das Projekt: Fremd- und Selbstwahrnehmung von Körperl ichkeit – Ein Geschlechterv ergleich anhand von Portraitf otografien 140 Julia Schümann
Der Körper: bezüglich, aufgerüstet, k onstruiert, dekonstruiert, rekonstruiert …
156
Das Projekt: I-am-Me 163 Juliana Lumban Tobing
Das Projekt: Yala Maha
172
Anna Maria Merkel
Das Projekt: Reverse Branding – The BRANDes Project
180
Luca Éva Tóth
INHALTSVERZEICHNIS 005
Der geschundene Körper in der Mode
196
Der entgrenzte Körper
205
Vorwort zum „Animal D esign“
208
Das Projekt: Animal Design als verquerer Gender Blur 209 Günes Aksoy und Keren Rothenberg
Das Projekt: Inter-Body-Action 218 Zoe Philine Pingel
Das Projekt: Das unverschämte Ornament 220 Annika Mechelhoff
Das Projekt: #040585 224 Zoe Philine Pingel und Kathrin Polo
Das Projekt: Fetisch. Gender. Macht 240 Sebastian Oft
Das Projekt: Von der Theorie zur Gestaltung: Everybody Has Got A Kink! 252 Sebastian Oft
Die Gender-Macht der Objekte Das Eigenleben der Dinge
258
Macht und Gewalt im Design
260
Wirkungsmacht der Objekte
266
Dekoration versus Technik
272
006 GENDER DESIGN
Conclusio: Technik als Dekoration 281 Das Projekt: Toolbag. Heimwerken für alle
282
Katharina Maxine Seeger
Das Projekt: Give + Take
292
Katharina Sook Wilting, Anusheh Onsori und Lysanne van Gemert
Objektmacht, weiblich
296
Das Projekt: Womoney 298 Alicia Shao, Paul Guddat und Matthias Grund
Die Macht der Handtasche
309
Geheimnisvolle Tarnung
315
Zwischen scharf und unscharf – ein vages Schlusswort 317 Autor_innen 321 Bibliographie 325
INHALTSVERZEICHNIS 007
VORWORT BIRD Die Rede von Gender als sozialem Geschlecht begründet sich aus der längst evidenten, wenngleich für manche offenbar immer noch verstörenden Einsicht, dass das, was wir an uns und anderen als geschlechtlich geprägte Eigenschaften und Handlungsweisen erfahren, nicht (zumindest nie allein und selten primär) auf jeweilige Ähnlichkeiten oder Unterschiede der Biologie zurückzurechnen ist, sondern Ausdruck kulturell geformter und qua Sozialisation ererbter Vorstellungen und Zuschreibungen ist. Oft subtil, aber stets machtvoll, durchdringen diese in alltäglicher Performanz perpetuierten und bisweilen auch (absichtlich oder unabsichtlich und mit wechselndem Erfolg) unterlaufenen Geschlechterbilder- und rollen alle Facetten unseres Handelns und Verhaltens, unseres Interagierens und Kommunizierens. Mithin liegt es auf der Hand und gilt es doch jeweils aufs Neue durch präzise Empirie erst aufzudecken, dass auch unseren gestalteten Umwelten und Artefakten vielfach vergeschlechtlichte Qualitäten, Möglichkeiten und Direktiven inhärieren und somit schließlich auch, dass Gender, obgleich noch immer selten in dieser Funktion reflektiert, einen wirkungsvollen Aspekt aller Prozesse und Resultate von Design darstellt. Nun muss eigentlich überraschen – und unterstreicht zugleich die Dringlichkeit der vorliegenden Publikation im Rahmen der BIRD-Reihe –, dass dieses so spannende wie brisante Beziehungsgeflecht nicht schon viel intensiver und weitläufiger von Design und Designforschung thematisiert und bearbeitet wurde. So liegen doch gerade dem Design als gleichermaßen praktischer und empathischer wie forschender und theoretischer Kompetenz, die sich undiszipliniert-generalistisch und mitunter subversiv mit der Reflexion und Gestaltung lebensweltlicher Zusammenhänge in ihrer ganzen jeweiligen Komplexität befasst, hier unschätzbare Spielräume für neue Erkenntnisse, kluge Entwürfe und subtile Interventionen offen. Ein Grund, warum das vorliegende Buch diesbezüglich nach wie vor gleichsam Pionierarbeit leistet, mag in jener ebenso aufregenden wie nunmal auch exponierten und herausfordernden Position von Design und Designforschung liegen, die sich nicht auf die distanzierte und nicht selten selbstgefällige Warte bloßer Kritik zurückziehen können, sondern stets inmitten der konkreten Verhältnisse und all ihrer Widersprüchlichkeiten agieren. Entsprechend konsequent stellt die Autorin – die seit über 20 Jahren und überhaupt als eine der ersten Personen weltweit im dezidierten Spannungsfeld von Gender und Design aktiv ist, dazu vielseitig forscht, lehrt und publiziert – hier auch kein Einheitlichkeit vortäuschendes Theoriegebäude, sondern methodisch gezielte „Streifzüge“ vor, die jenes weite Feld ideen- und beobachtungsreich durchmessen und sondieren, und versammelt dazu zusätzlich zahlreiche kluge wie mutig experimentelle, im Kontext ihrer Lehre entstandene Projektdarstellungen junger Designforschender. Marc Pfaff Board of International Research in Design (BIRD), July 2017
VORWORT BIRD 009
UMHERSCHWEIFEN: EIN VORWORT Das vorliegende Buch ist nicht notwendig linear und von vorn nach hinten zu lesen, obwohl durchaus ein strukturierter Aufbau und eine – wenn auch bewusst eher assoziative – logische Folge der einzelnen Kapitel angestrebt wurde. Es war von Anfang an klar, dass ich nicht einer wie auch immer gearteten Ableitungslogik folgen könnte, denn diese halte ich für strukturell ideologisch. Gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich nun einmal nicht exakt und planvoll geordnet her- bzw. ableiten; und ebenso wenig hält das Design in seinen (Forschungs)Prozessen1 schlüssige, „logische“ Methoden und Heran gehensweisen bereit. Dies gilt umso mehr bei dem Versuch, das ohnehin schon höchst komplexe Verhältnis zwischen Theorie, Empirie und Praxis im Design zu erörtern. Im vor liegenden Buch drängt sich darüber hinaus die folgenschwere Kategorie „Gender“ zen tral in diese Beziehungen hinein. Deshalb lädt die Publikation laut Titel nicht unversehens zu „Streifzügen“ ein. Streifzüge sind nun einmal – um im Bild zu bleiben – weder systematische Überwindungen einer Strecke von A nach B noch zielgerichtete Wanderungen und schon gar keine Märsche. Das Forschungsfeld theoretisch wie praktisch erst einmal aufzuschließen, bedarf nach meiner Überlegung eines anderen Zugangs als des Bestrebens nach planmäßiger Auflistung dessen, was zur Zeit verfügbar wäre. Ich habe mich bei dieser Arbeit von den Situationisten (vgl. z. B. Ohrt 1997; Ford 2007; Vaneigem 2008) und insbesondere von Guy Debord (1967) inspirieren lassen; das mag hypertroph erscheinen, aber die Assoziation der „dérive“ ging mir tatsächlich spontan durch den Kopf, als ich begann, mich mit dem Buchkonzept zu beschäftigen. Wenn wir Design als eine „Situation“ – im lateinischen Ursprung des Wortes „situs“ als Sitz, Stelle, Stellung – beschreiben, dann wäre Gender das „Situierte“, auf das Design in dieser Studie trifft. Und da die „Situation“ ihren Sitz außerdem in der geografischen „Lage“ oder „Gegend“ hat, sind die Situationisten schon sehr nah. Wobei sich der Begriff der „dérive“ eigenartig widersprüchlich darstellt: Im Französischen wie im Englischen benennt er primär das genaue Gegenteil der emphatisch- situationistischen Interpretation, nämlich das Abstammen, Her- und Ableiten. Während in der typisch angelsächsischen Tradition das „derive“ bei dieser engen Bedeutung verbleibt, holt die französische „dérive“ allerdings in einem nächsten Schritt viel weiter aus: Das (nautische) Abdriften, das (Ab)-Treiben und schließlich auch jenes unscharfe
1
Die Schreibweise „Design(forschungs)-Projekte“ ist hier mit Bedacht gewählt, denn die Übergänge zwischen Hands-on- und Forschungs-Projekten sind durchaus fließend. Nun scheint mir diese Differenzierung bei Projekten des Designs ohnehin weniger einleuchtend als in vielen anderen Fachrichtungen, denn Design zeichnet sich spezifisch durch eine sehr enge Verstrickung von als Theorie bezeichneter und sogenannter Praxis-Dimension aus. Vereinfacht und zugespitzt formuliert artikulierte sich der Unterschied dann lediglich in der Zeitdauer: kürzere Projekte wären „nur“ Design-Projekte, längere – und damit entsprechend detailliertere – verdienten nach dieser Logik die Bezeichnung „Designforschungs-Projekte“. – Ich erwähne diese Unterscheidung hier allerdings nur zur Klarstellung: dass ich mir der üblichen Differenzierung bewusst bin, sie allerdings ebenso bewusst nicht machen werde.
UMHERSCHWEIFEN: EIN VORWORT 011
LÜCKEN UND LÜCKENFÜLLER Mir sind bisher keine Publikationen über Gender-im-Design1 bekannt, die sich um diese thematische und formale Verschränkung bemüht hätten: Immer klaffen Lücken.2 Entweder beschäftigen sich Arbeiten mit Methoden der Designforschung – aber es fehlen sowohl Gender- als auch praktische Demonstrationen der Forschung (vgl. z. B. Joost et al. 2016; Jonas/Grand 2012; Mareis et al. 2010; Cross 2007; Glanville 1999, 80–91); oder es werden einige (wenige) Projekte in die Debatte um Design forschung inkludiert – aber es fehlt die Einbeziehung von Gender (vgl. z. B. Michel 2007); oder Gender-im-Design wird unter Marketing subsummiert – wobei das Marketing das Design überwältigt (vgl. z. B. Bohnet 2016; Avery 2012, 322–336; Silverstein/Syre 2009; Moss 2009; Kreienkamp 2007), ganz besonders dann, wenn es um den US-Markt geht (vgl. etwa Berletta 2006; Brennan 2009/2011); oder es existieren Untersuchungen, die sich mit Gender im Zusammenhang von für das Design durchaus sehr wichtigen Aspekten beschäftigen – aber die dann doch aus kunst- und kulturtheoretischer, sozialwissenschaftlicher oder psychologischer Perspektive, und damit ohne Designkompetenz, geschrieben wurden (vgl. z. B. Moebius/Prinz 2012; Penny 2011; Wawra 2007; Casale/Rendtorff 2008; Bührer/Schraudner 2006; Vurgun 2005; Fausto-Sterling 2000; Kirkham 1996); Und wenn überhaupt einmal – selten genug – Gender-im-Design explizit zum Thema avanciert, werden stereotype, gender- codierte Produkte vorgestellt – aber lediglich in Form einer deskriptiven Sammlung, der es an designforschender Durchdringung mangelt (vgl. z. B. Weller/Krämer 2012). Eine der wenigen Ausnahmen (und deshalb auch ständig zitiert) ist der Artikel von Ehrnberger, Räsänen und Ilstedt, der sich explizit mit Gender-Normen im Design auseinandersetzt. Anhand zweier üblicher Haushaltsgeräte – der männlich konnotierten Bohrmaschine und dem „weiblichen“ Mixer – analysieren die schwedischen Designerinnen die vergeschlechtlichte Produktsprache, sodann werden die beiden Produkte dekonstruiert und schließlich als Gender-vertauschte Bohrer und Mixer redesigned (vgl. Ehrnberger et al. 2012). Dies ist ein durchaus aufregen1
2
Ich verwende in diesem Buch durchgängig die nicht übliche Formulierung „Gender-im-Design“ als kürzeste Möglichkeit, um den engen Zusammenhang zwischen Design und Gender zu verdeutlichen; „Gender-im-Design“ versteht sich als Hyperonym, das eben mehr ist als eine zusätzliche Fachrichtung im Design (wie z. B. Produkt-, Kommunikations-, Interaktions- oder Mode-Design etc.), sondern jegliches Design durchzieht und umfasst. Gender-im-Design ist allen theoretischen, empirischen und prak tischen Designbereichen inhärent, zieht Gender sich doch quer durch alle Forschungen und Praktiken des Designs, auch wenn dies bisher längst nicht erkannt und beachtet wurde. Beklagt wird hier also der Mangel an solchen Publikationen, die das Forschungs-Dreieck Design – Gender – Projekt fokussieren. Unbestritten gibt es zahlreiche Schriften zu Designforschung und deren Methoden, zu Untersuchungen oder Erläuterungen einzelner Design-Disziplinen; nicht zu reden von den unzähligen Studien über Gender aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen abseits vom Design. Deshalb werden im Folgenden auch nur einige exemplarische Veröffentlichungen aus den vielen benannt – wobei es, wie erwähnt, im Designkontext nur wenige Vorstellungen praktischer Designforschungsprojekte und so gut wie keine zu Gender-im-Design gibt.
016 EINLEITUNG
des und sowohl Praxis als auch Theorie einbeziehendes Designprojekt, das bewusst die Experimente des „Critical Design“ (vgl. Dunne/Raby 2001) zitiert, den Schwerpunkt aber statt auf Elektronik – wie die Autorinnen und Autoren des „Critical Design“ – auf Gender setzt. Ehrnberger, Räsänen und Ilstedt spielen in konsequenter Weise mit den geschlechtlich codierten Produkten, um so die Gender-Konstruk tionen in den Objekten selbst aufzuspüren und durch deren „Gender-Swap“ ad absurdum zu führen bzw. der Lächerlichkeit preiszugeben. Schärfer pointiert und für die männliche Vorstellung sowie Nutzung extrem unangenehm funktioniert der „Andro Chair“, an dem ebenfalls u. a. Karin Ehrnberger beteiligt war. Der „gynäkologische“ Untersuchungsstuhl für den Mann, der ja nicht so heißen kann (denn „gyne“ bedeutet bekanntlich „Frau“ im Altgriechischen), ist hier zu einem AndroStuhl geworden („andros“, der Mann): „The Andro Chair was designed to express something violating, humiliating, cold, and hard, with a purpose to create an awareness on how women and women’s bodies are treated in gynaecology.“ (Vgl. Sundbohm et al. 2013, 513–515.) Die Designerinnen haben diesen Stuhl sogar als dreidimensionales Modell ausgeführt und damit das iterative oder, kritischer formuliert, zunehmend redundante Schreiben über Design durch Research through (practical) Design3 designadäquat erweitert. Dennoch bleiben auch diese beiden letztgenannten Beispiele vereinzelt, und da sie lediglich als Konferenz- und Internet-Papers entstanden, werden die Themen entsprechend kurz dargestellt. Die Herangehensweisen der Designerinnen führen zwar zu klugen und mutigen Experimenten, die einen Aspekt von vergeschlechtlichtem Design kritisch zum Vorschein bringen, die aber die womöglich noch schwierigere Aufgabe nicht in Angriff nehmen: nämlich vergeschlechtlichte Artefakte, wie sie im ganz „normalen“ Alltag – und das heißt, unbedacht oder bewusst Gender-Klischees bedienend und verfestigend – vorkommen, einer genauen Analyse zu unterziehen, die perspektivisch zu einer gender- sensiblen Neubewertung und Neugestaltung beitragen könnte. Das ist gewiss leichter gesagt als getan. Aber genau solch eine Herausfor derung möchte diese Publikation annehmen: sowohl theoretische wie empirische Analysen, ergänzt durch probierende Experimente, zu präsentieren, um Gender- im-Design eine Spiel- und Plattform zu geben, die sich zu erläutern bemüht, wie der Umgang mit Gender im Themenspektrum Design überhaupt zu bewältigen ist – das Freud’sche „Denken als Probehandeln“ (vgl. Freud 1973, 129) soll hier seine ihm zugehörige Kehrseite des Probehandelns als Denken in Aktion erfahren. Dabei will bedacht sein, dass neben Gender auch das Design in seiner großen Komplexität permanent im Hintergrund lauert; auch dort, wo der Begriff „Design“ nicht unablässig explizit genannt ist.
3
Frayling explizierte als Erster die Differenzierungen zwischen den unterschiedlichen Formen der Design forschung, wobei er der qualitativen Research through Design als der das Design am angemessensten repräsentierenden Methode den Vorzug gab. Vgl. Frayling 1993, 1–5.
LÜCKEN UND LÜCKENFÜLLER 017
LERNENDE UND LEHRENDE Sowohl beim systematischen als auch beim blätternden Lesen der vorliegenden ublikation dürfte schnell kenntlich werden, dass zwei unterschiedliche Stränge P die Publikation durchziehen: Neben theoretischen Kapiteln, die sich generell der Relevanz und Komplexität von Gender-im-Design widmen, finden sich spezifische Design- und Designforschungsprojekte, die die diversen Umsetzungen jener theoretischen Auseinandersetzungen in experimentellen, theoretischen wie praktischen, Projekten exemplarisch vorführen. Insofern stehen die beiden Formen nicht unvermittelt (und schon gar nicht unabsichtlich) nebeneinander, sondern der eine Teil ergänzt, erläutert, kontextualisiert den je anderen. Die vorgestellten Projekte sind nicht nur thematisch breit gefächert, sondern auch in ihrer Intensität und Ausarbeitung durchaus unterschiedlich. Das liegt an dem jeweiligen Kontext ihrer Entstehung. Die größere Zahl geht zurück auf Referate in Seminaren und Ausarbeitungen in Projekten für Bachelor-Studierende, die ich während meiner Lehre an der Köln International School of Design anbot. Vier Artikel (von Jaqueline Diedam, Julia Schümann, Anna Maria Merkel und Sebastian Oft) sind Extrakte ihrer Bachelor-Abschlussarbeiten, und ein Essay von Michelle Christensen und Florian Conradi repräsentiert überarbeitete Teile aus ihrer Master- Arbeit.4 Bei der Auswahl der Gastbeiträge müssen also zwei Voraussetzungen bedacht sein: Sie stammen, wie erwähnt, ausnahmslos von Studierenden, die alle, zumindest zum Zeitpunkt der Entstehung der hier präsentierten Recherchen, weder weitergehende Erfahrungen mit Publikationen noch bereits eine professionelle beruf liche Karriere begonnen hatten. Zweitens habe ich mich bei der Einladung an die Autor_innen dafür entschieden, lieber eine größere Anzahl von Projekten als wenige längere aufzunehmen, um die Diversität der Themen und Bearbeitungsmöglichkeiten zu veranschaulichen; als Konsequenz hatte das entsprechend größere Kürzungen zur Folge. Denn das ist ja überhaupt ein wesentlicher Grund für die 4
Die Autorin hatte von 1995 bis Juli 2015 den Lehrstuhl für „Gender & Design“ an der Köln International School of Design (KISD) der Fachhochschule Köln (jetzt: Technische Hochschule Köln) inne. Nach den Recherchen der Autorin wurde sie als erste Design-Professorin europaweit – und wahrscheinlich sogar weltweit – berufen, deren Denomination explizit Gender im Design thematisierte. Während in vielen anderen Disziplinen Gender als Teil des wissenschaftlichen Kanon seit Längerem nicht mehr ungewöhnlich (obwohl immer noch nicht überall selbstverständlich) ist, stellt sich das für das Design sehr anders dar: In der Designlehre und -forschung ist Gender bis heute ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Umso erstaunlicher, als die Interaktion zwischen Subjekt und Objekt notwendig und immer durch gestalterische Prozesse vermittelt ist: Alle Artefakte, mit denen wir uns, erzwungenermaßen und freiwillig, umgeben, sind gestaltet. Design ist also ein alltägliches Phänomen, und der Umgang mit ihm, gleichgültig, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, prägt unseren Alltag in jedem Moment. Und dass gesellschaftliches Handeln an und mit Objekten ebenso den sozialen Konstruktionen von Gender unterliegt wie alle anderen Prozesse, versteht sich von selbst.
018 EINLEITUNG
Veröffentlichung dieser Publikation: Es existieren im Design bis heute international und erst recht national sehr wenige (Forschungs)Projekte und Lehrende, eben weil Gender-im-Design immer noch kaum Beachtung geschenkt wird. Aufgrund fehlender, öffentlich zugänglicher Arbeiten habe ich mich also durchaus freudig auf im Kontext meiner Aktivitäten entstandene Arbeiten beschränkt. Die Projekte der Studierenden sind mit ihren jeweiligen Namen deutlich von den anderen Kapiteln, die ich geschrieben habe (und die nicht namentlich gekennzeichnet sind), unterschieden. Dabei ist das Spektrum äußerst breit: Kurze „quick and dirty“-Projekte wechseln sich mit ausführlicheren qualitativ-empirischen Studien ab, welche wiederum durch systematische Design-Untersuchungen im Gender-Kontext ergänzt werden. So entsteht mit etwas Glück ein facettenreiches Bild über die mannigfaltigen Möglichkeiten von Themen und Formen, wie Gender unausweichlich in das Design kommt – oder genauer: immer schon dem Design inhärent war und ist, unabhängig davon, ob bemerkt, vernachlässigt oder negiert. Einige der vorgestellten Projekte koinzidieren ziemlich präzise mit dem jeweiligen Kapitel, in dem sie erscheinen; andere dagegen gehen eine losere Verbindung mit dem jeweiligen Kapitel ein. Und doch steht keines der präsentierten Projekte allein, außerhalb des spezifischen Kontextes.
LERNENDE UND LEHRENDE 019
Necessary game items: • Gameboard • Game cards (briefing cards – what & for whom, research fact cards, concept cards, blank persona cards) • 4 Tokens • 1 Dice • Pens and markers • Paper for sketching • 3 Timers (sand clock, kitchen timer, mobile phone, stopwatch) • Drinks for participants
032 EINLEITUNG
Basic playing rules: • 6 players: 3 groups of 2 • Age group: 16 and older • Players should have knowledge of design journeys or project management • Each group is represented by one token on the board • The group that first rolls the highest number starts • Groups then take turns clockwise • Players have to follow the instructions of the part of the game board they land on • There is no winner
DAS PROJEKT: LEARNING ABOUT GENDER BY DESIGN 033
Wicked Problems
DAS DILEMMA DER ZWEIGESCHLECHTLICHKEIT IN DER EMPIRISCHEN FORSCHUNG Der deutsche Designer, Stadtplaner, Systemtheoretiker Horst Rittel, der in den USA und in Deutschland lehrte, erfand, gemeinsam mit Melvin Webber, den wissenschaftlich so kühn-unkorrekten Begriff der „wicked problems“ (vgl. Rittel/Webber 1973, 155–169), im Gegensatz zu den wohl definierten „tame problems“, die als richtig oder falsch beurteilt sowie gelöst werden können. Letztere gehören zu solchen Problemen, die in ähnlicher Weise immer wieder auftauchen und entsprechend jedes Mal ähnlich lösbar sind. Nun möchte ich sogleich behaupten, dass eben jenen „zahmen“, also harmlosen und faden Problemen ohnehin eine restriktive und reduzierte Vorstellung von Wissenschaftlichkeit zugrunde liegt. Denn die Beweglichkeit sozialer, aber auch naturwissenschaftlicher Prozesse ist so hoch, dass die Idee einer wie auch immer gearteten „Objektivität“ der Untersuchungs ergebnisse oder Theorien von avancierteren Wissenschaftler_innen längst als obsolet erkannt worden ist. Analysen, seien sie empirisch oder theoretisch, sind im gelungenen Fall Annäherungen, begründete Annahmen für die Erklärung von Phänomenen und Wirklichkeiten, wie sie uns entgegenscheinen. „The search for scientific bases for confronting problems of social policy is bound to fail, because of the nature of these problems. They are ‘wicked’ problems, whereas science has developed to deal with ‘tame’ problems. Policy problems cannot be definitively described. Moreover, in a pluralistic society there is nothing like the undisputable public good; there is no objective definition of equity; policies that respond to social problems cannot be meaningfully correct or false; (…). Even worse, there are no ‘solutions’ in the sense of definitive and objective answers.“ (Rittel/Webber 1973, 155– 169) Wicked problems sind nicht nur gemein, sondern auch hinterhältig, unvorhersehbar, unstrukturiert – und spiegeln damit gesellschaftliche Prozesse durchaus realistisch.
Objekt und Genderzuschreibung Es wird Zeit, den Zusammenhang zu der spezifischen Fragestellung, um die es hier gehen soll, zu stiften. Gerade im Design ist es sinnvoll und angemessen, Gender nicht nur über Verhalten und Aktionen der vergeschlechtlichten Individuen zu erforschen, sondern „Genderisation“ über Objekte zu interpretieren, mit denen Menschen, erzwungen und freiwillig, permanent umgehen. Dinge und Zeichen, mit denen wir uns umgeben, geben Auskunft sowohl über unseren Status als auch über unsere privaten Vorlieben und Sehnsüchte. Sachlich-instrumentelle und emotional-kommunikative Ebenen vermischen sich.
044 WICKED PR OBLEMS
So sind die Objekte immer doppelt identifiziert: materiell und symbolisch. Und diejenigen, die mit ihnen leben und arbeiten, tun dies in den spezifischen sozio-kulturellen Konstruktionen von Geschlecht. Was sich im alltäglichen Umgang mit all den gestalteten Produkten und Zeichen empirisch feststellen lässt, ist das eigen artige Phänomen, dass sich überwiegend gesellschaftliche Gender-Konventionen im Gebrauch durchsetzen. Die Dinge können uns viel über diese gesellschaftlichen Genderkonventionen erzählen. Das Wort „Konvention“ muss hier als erstes wicked problem betont werden, denn Dingumgebungen und die Interaktion der Menschen mit ihnen stellen uns vor ein Dilemma: Die gesellschaftlichen Konstruktionen von Genderzuschreibung inkarnieren in den meisten Fällen auch heute noch bipolar angelegte Artefakte: Viele Produkte werden als „Frauensachen“ und „Männersachen“ gestaltet und als solche gekauft und genutzt, und das nicht nur in den Segmenten Mode, Kosmetik und Hygiene oder Kinderspielzeug; hier werden die Stereotype lediglich bereits auf der Oberfläche unmittelbar sichtbar. Das Debakel setzt als self-fulfilling prophecy ein: Das aufs eindeutige (biologische) Geschlecht abzielende Design und Marketing treffen auf hohe Akzeptanz bei sich als Frauen oder Männer definierenden Menschen. Dieses Mainstream-Selbstverständnis wird bisher noch nicht substanziell, gesellschaftlich umfassend, von der Vorstellung unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten erschüttert. Das Dilemma bahnt sich seinen Weg aber noch massiver: Die Gender-Stereotypen, die seitens der Produktion und Distribution bedient, aber auch von den Menschen selbst durch Konsumtion und Gebrauch hergestellt und nach außen demonstriert werden, wiederholen wir empirisch Forschenden, indem wir in der empirischen Forschung die gleichen Stereotypen zugrunde legen – ja legen müssen. Denn wenn wir das, was gesellschaftlich als „typisch männlich“ und als „typisch weiblich“ gilt und woran dementsprechend „geschlechteradäquates“ Verhalten und Interagieren bewertet wird, im Alltag auf seine Formen und Ausdrucksweisen untersuchen, bedarf es methodisch wie sprachlich wiederum der Arbeit mit Kategorien wie „männlich“ bzw. „weiblich“, also einer theoretisch zu kritisierenden Zweigeschlechtlichkeit. Oder wenn wir Aneignungsweisen der Objekte durch die Subjekte und das Gebrauchsverhalten unter Genderaspekten studieren, sind wir gezwungen, zumindest in die Konstruktionen „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ zu unterscheiden. Die Ding-Analyse kommt also nicht umhin, die Genderkonstruktionen als real existent zu akzeptieren und sie mit den Kriterien zu belegen, die sich zugleich als Genderstereotypien entlarven. Aber – und das macht einen bedeutenden Unterschied zur ideologischen Behauptung einer bi-polaren und differenztheoretischen Geschlechtlichkeit: Untersucht wird nicht, was die Geschlechter sind, sondern was sie tun. Nicht partizipative und insbesondere verdeckte Beobachtungsforschung ist methodisch vorzüglich geeignet, die Interaktion zwischen den Menschen und den Dingen zu analysieren. Und wenn ich spezifische Verhaltens- und Umgangsweisen auf ihre Genderkonstruktionen und Identitätskonzepte hin untersuchen will, muss
DAS DILEMMA DER ZWEIGESCHLECHTLICHKEIT IN DER EMPIRISCHEN FORSCHUNG 045
DAS PROJEKT: FRAUEN IM HOTEL4 Vorab Ob es gefällt oder nicht: Frauen planen, kaufen, reisen … anders als Männer, und sie stellen durchaus hohe und sehr präzise Ansprüche an die jeweiligen Dienstleistungsangebote. Außer in jenen Bereichen, für die Frauen immer noch eher geschlechter-stereotyp verantwortlich gemacht werden – wie etwa Hausarbeit oder alltägliches Einkaufen –, legen Frauen sehr großen Wert auf Service. Durch eigene Erfahrungen, diverse Gespräche mit professionell häufig reisenden Frauen und Anregungen aus Vorträgen zum Thema Frauen – Reisen – Tourismus kristallisierte sich der noch kaum untersuchte Forschungsgegenstand Frauen in Hotels heraus: Frauen, die aus beruflichen Gründen und dementsprechend allein reisen müssen. Diese Frauen – um das Ergebnis vorwegzunehmen – wünschen sich einen Service, der sich durch Vertrauenswürdigkeit, Seriosität, Sensibilität und Wahrhaftigkeit auszeichnet; und das ist ein von männlichen Geschäftsreisenden deutlich unterschiedenes Anspruchsverhalten an eine Hotelkultur.
Methodisches Vorgehen In Nordeuropa sind bereits 40 % der Geschäftsreisenden Frauen, und auch in Deutschland steigen die Zahlen rasant, auf derzeit fast 30 %. Lufthansa entdeckte als eines der ersten Unternehmen diese ökonomisch interessante Zielgruppe und verlegt seit einigen Jahren ein eigenes Magazin für ihre Kundinnen namens „Woman’s World“5, das an Kundinnen ihres Vielflieger-Programms kostenlos verschickt wird. Die Hotels aber haben sich noch kaum auf die spezifischen weiblichen Wünsche eingestellt. Erst sehr wenige Hotels beginnen, meist noch zögerlich, weibliche Gäste als eigenständige Gruppe mit womöglich spezifischen Bedürfnissen, zu bemerken.
4
5
Die qualitative Studie wurde als Forschungsprojekt im Rahmen meiner Lehre und Forschung an der KISD mit Unterstützung der folgenden (damals) Studierenden durchgeführt: Asuman Altay, Natascha Aplas, Nitzan Chelouche, Fabiano de Miranda, Louisa-Marie Gorgoglione, Nadine Rausch, Mari Sandbakk, Sarah Schipper, Emanuel Schmidt-Halswick, Julia Schremf, Tanja Steinebach, Sarah Sturm, Jenna Tockuss, Andreas Unteidig, Nina Weschenfelder, Sophie Zaubitzer, Lisa Gerkens, Erin Wheeler, Jana Celler sowie der Journalistin Inken Herzig. Vgl. Woman’s World: www.lhm-lounge.de/Profil_3201575.html oder www.internationalmediasales.net/ de/portfolio/detail/lufthansa-womans-world/ (letzter Zugriff 01.10.2016).
074 ORTE – RÄUME – GENDER
„Endlich kann ich einmal alles rauslassen, was mich an Hotels nervt!“ „Danke für dieses Thema. Dazu kann ich sehr viel sagen.“ „Es gibt so viele Dinge, die mich an Hotels stören.“ „Hotels sind einfach nicht auf uns Frauen eingestellt!“ „Ich fühle mich irgendwie meist unwohl, wenn ich allein im Hotel übernachten muss.“ Dies sind einige der mannigfaltigen Seufzer von Geschäftsfrauen, als sie im Rahmen unserer qualitativen Explorationsstudie zu ihren Erfahrungen in und mit Hotels befragt wurden.6 Wir kooperierten mit ausgewählten 3-, 4- und 5-Sterne Hotelketten, die alle sehr aufgeschlossen und interessiert unsere Forschungen unterstützten. Die methodische Vorgehensweise war breit gefächert: • Problemaufriss: schriftliche Befragung allein reisender Geschäftsfrauen international, • vergleichende schriftliche Befragung allein reisender Geschäftsmänner, • semistrukturierte Leitfaden-Interviews mit weiblichen Hotel gästen, • semistrukturierte Interviews mit dem Hotelpersonal: Rezeption, Portiers (alle männlich), Bar, Housekeeping, Frühstücksservice, • schriftliche Befragung des Hotelmanagements von Hotelketten in Europa, • verdeckte Beobachtungen in den zugänglichen Hotelbereichen: Lobby, Bar, Frühstücksraum, • Selbstexperimente undercover: Studentinnen als Hotelgäste in der Bar, • semistrukturierte themenzentrierte Interviews mit je zwei weiblichen und männlichen, international renommierten Fachleuten aus Architektur und Design, die alle bereits Hotels neu und umgestaltet haben.
Atmosphären Bereits die ersten Reaktionen waren überraschend: Von den 150 Frauen, die weltweit mit einem offenen, themenzentrierten Fragebogen schriftlich befragt wurden, antworteten alle, also 100 %. Und zwar mit ungewöhnlich engagierten Kommentaren, 6
Ein Teil der Untersuchung wurde als Ratgeber für Hotelverantwortliche publiziert: Vgl. Brandes, Uta (2010): Frauenzimmer im Hotel. Wie Geschäftsfrauen sich Hotels wünschen, Berlin (Erich Schmidt Verlag).
DAS PROJEKT: FRAUEN IM HOTEL 075
dezidierten und vielfältigen Verbesserungswünschen und zahlreichen Kritiken an der Hotelumgebung, der Gestaltung, den Dienstleistungen und der (mangelnden) Ansprache. Eines war unmittelbar ersichtlich: Frauen sind mit der bestehenden Hotelkultur überhaupt nicht zufrieden. Und in der Tat: Als wir die qualitativen verdeckten Beobachtungsstudien durchführten, bestätigte sich, dass in den meisten Häusern immer noch un- oder vorbewusst das Konstrukt des männlichen Reisenden die Leitfigur (für Frauen eher eine Leidfigur) der Hotelgestaltung und des Service zu sein scheint. Insbesondere, wenn Frauen geschäftlich reisen (bei Freizeit- und Urlaubsreisen unterscheidet sich ihr Verhalten), so fanden wir heraus, verhalten sich Frauen deutlich anspruchsvoller als Männer. Das reicht von unscharfen, generell unter „Atmosphäre“ zu fassenden Wünschen bis zu kleinsten Details in der Ausstattung des Hotelzimmers. Frauen wünschen nicht allein mehr Stauraum und Ablageflächen, sondern vor allem einen aufmerksamen Service sowie Umgebungen bzw. Produkte, die die Sinne ansprechen: hochwertige Kosmetik- und Hygieneartikel zum Ausprobieren ebenso wie eine gute Arbeitsatmosphäre und unkompliziert zu verändernde Lichtsituationen. Über das Raumgefühl hinaus ist für Frauen der persönliche Service im Hotel entscheidend: Die meisten wollen einen sehr guten, vertrauenswürdigen und empathischen Service. Das Hotel nämlich ist für Frauen – ganz im Gegensatz zu der überwiegenden Zahl der Männer – eine Art Burg, ein Schutzraum, der an zu Hause erinnern und einen ungestörten Rückzug vor neugierigen Blicken garantieren soll. Gerade wenn es sich – selten genug – um Hotels handelt, die Geschäftsfrauen als angenehm empfinden, wird den Frauen das Hotel(zimmer) zum Refugium. Dem möglichen Einwand, dass dies womöglich keine spezifisch weiblichen Wünsche seien und Männer zweifellos einen guten Service ebenfalls zu schätzen wissen, kommen wir durch eines unserer Findings zuvor: Während Frauen im Durchschnitt ca. 30 Dinge, Services und Atmosphärisches wünschen – und als häufig fehlend bemängeln –, ist die überwältigende Mehrheit der Männer zufrieden, wenn kostenloses W-Lan, eine gute Matratze und im Badezimmer eine kräftige Dusche vorhanden sind. Besonders auffällig gestalten sich zudem die Unterschiede im Raumverhalten: Frauen bleiben zum Abendessen (sofern sie allein speisen) eher im Hotel oder in dessen Nähe, um einem längeren Weg aus dem Weg zu gehen. Erstaunlich viele Männer dagegen, so legen die Aussagen aus den Interviews nahe, fühlen sich – imaginiert oder real – wie einsame Steppenwölfe, wenn sie nach getaner Arbeit durch die Stadt streifen: „Ich liebe die letzten Reste von Abenteuer: Ich bin allein und weiß nicht, wohin und was nun geschehen soll und wo es überhaupt noch ein Bier gibt.“7 7
Alle nicht nachgewiesenen Zitate stammen aus mündlichen oder schriftlichen Interviews mit den Befragten.
076 ORTE – RÄUME – GENDER
Die Designexpert_innen Zusätzlich zu den Hotelbewohner_innen wurden vier international renommierte Gestalter_innen befragt, die sowohl im Design als auch in Architektur und Innenarchitektur für Hotels tätig sind. Wie bei den Hotelgästen, so wird auch bei den Design- und Architekturprofis erstaunlicherweise eine klare Geschlechterdifferenz deutlich: Während die Designer Marco Piva („Studio Marco Piva“, Mailand u. a.) und Massimo Iosa Ghini („Iosa Ghini Associates“, Bologna) mit großer Entschiedenheit verneinen, bei ihren Hoteldesigns an Frauen oder Männer auch nur zu denken, reagieren Yasmine Mahmoudieh (Designerin, Architektin und Geschäftsführerin des Start-up „MyKidsy“, London) und Lian Maria Bauer („Lian Maria Bauer Projektdesign“, Thalwil) diametral entgegengesetzt: Für sie spielt es sehr wohl eine erhebliche Rolle, wer für wen – also welches Geschlecht für welches Geschlecht – gestaltet. Die in London lebende, in Deutschland geborene Halbiranerin Yasmine Mahmoudieh plädiert vehement und offensiv für ein Konzept, Räume für Frauen von Frauen zu gestalten. Die Schweizerin Lian Maria Bauer äußert sich sozusagen im Nebenbei dazu, dass „Weiblichkeit“ generell das Wichtige an Hotelgestaltung sei. Mahmoudieh konstatiert deutliche Unterschiede zwischen den Ansprüchen von weiblichen und männlichen Hotelgästen: „In den öffentlichen Bereichen beobachte ich häufig, dass Frauen sich unbehaglich fühlen. Zum Beispiel diese isolierten Einzeltische: Ich hingegen integriere lange Tische und Theken in den von mir gestalteten Hotels, an denen man zusammensitzen kann, auch wenn man sich nicht kennt. Selbstverständlich darf das kein Zwang sein, es ist ein Angebot. Und Frauen nutzen das untereinander sehr gern.“ Lian Maria Bauer drückt sich etwas zurückhaltender aus, jedoch auch im Bewusstsein der Relevanz spezifischer weiblicher Wünsche: „Wir Frauen wollen nicht nur gut aussehen, sondern uns auch in einem guten Ambiente aufhalten, und vor allem wollen wir auch in fremden Räumen die Zeit genießen können. Deswegen müssen wir auch mehr Einfluss auf die Hotelgestaltung nehmen.“ Sie sieht die Chance, Frauen durch das Design des Hotels zu Selbstbewusstsein zu verhelfen: „Gut gestaltete Räume vermitteln mit ihrer Klarheit und ihrem Design Sicherheit – sind also eine gute Bühne und ein guter Background. Also sollte es für allein reisende Frauen kein Problem sein, sich dort richtig zu positionieren.“ Sie achtet bei ihren Projekten besonders „auf praktische Abstellmöglichkeiten im Hotelzimmer, funktionsorientierte Anordnung der Bedienelemente, aber besonders auch auf eine charaktervolle Rauminszenierung.“ Yasmine Mahmoudieh denkt bei ihrem Hotelzimmer-Design an die vielen Dinge, die die weiblichen Gäste immer wieder wünschten bzw. vermissten: „In 90 % der Bäder kommt das Licht von oben, welches Schatten auf das Gesicht wirft. Männer sind da einfach genügsamer als Frauen. Außerdem finde ich, dass Minibars ganz anders befüllt sein müssten: mit mehr frischen Sachen. Das ist ein großer Wunsch von Frauen.“ Ihre männlichen Kollegen, so ihre Beobachtung, gestalteten
DAS PROJEKT: FRAUEN IM HOTEL 077
13 Zimmernutzung: „ … und zur Entspannung“ (weiblicher Hotelgast)
14 Check-out: „Wir müssen anfangen, Frauen ernst zu nehmen“ (Rezeptionist)
086 ORTE – RÄUME – GENDER
ÖFFENTLICHKEIT Die Stadt und der Flâneur Kehren wir zurück in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: Während die bürger lichen Frauen wieder in der unheimlich idyllischen Versenkung verschwunden waren, machte sich ein Typus Mann auf, die Stadt noch einmal neu zu erobern. Als Gegensatz zum bürgerlichen Kapitalisten, der in seinen Fabriken Reichtum akkumulierte oder als Politiker agierte, trat der Flâneur als melancholisch-gelangweilter, aber durchaus empfindsamer Intellektueller und Künstler auf den Stadtplan der Moderne. Er schlendert sowohl modern als auch durch die Stadt – nicht mehr durch die Natur, wie sein Vorläufer, der Wanderer. Er verkörpert den künstlerisch-urbanen Mann der europäischen Großstädte, der sich treiben lässt, ziellos, er driftet mit den Menschenmengen dahin, er kommuniziert nicht mit Anderen. Er geht in der Großstadt sich selbst ganz doppelt „verlustig“: Er geht mit Lust, und er erleidet lustvoll den Verlust: eines Ziels, des Kontakts zu anderen, eines Fixpunkts. Er wird gesehen, sieht selbst aber nicht – oder nur latent, hintergründig. Er scheint interesselos, aber das kann täuschen: Er reflektiert vor sich hin, er fantasiert sich die Eigenschaften der Menschen, denen er, müßig, (nicht) folgt. Der Unterschied zwischen ihm, dem Flâneur, und jenem auf den ersten Blick eng verwandten Dandy ist einfach, aber essenziell: Der Flâneur beobachtet desinteressiert, der Dandy stellt sich öffentlich dar und zur Schau. Bei Walter Benjamin wird der Flâneur bereits zu einem Mann, der an der Schwelle steht, so der melancholische Autor, wenn er sich auf Baudelaire bezieht: „Diese Dichtung (…) ist der Blick des Allegorikers, der die Stadt trifft, der Blick des Entfremdeten. Es ist der Blick des Flaneurs, dessen Lebensform die kommende trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer umspielt. (…) Die Menge ist der Schleier, durch den hindurch dem Flaneur die gewohnte Stadt als Phantasmagorie winkt.“ (Benjamin 1982 a, V/1, 54)
Literarisches Flanieren Selbstverständlich trat der Flâneur zuallererst als literarische Figur auf. Die Flânerie war also nicht nur das physikalische Gehen in der Stadt, sie beschrieb einen phi losophisch und künstlerisch aufgeladenen Lebensstil. Erstaunlich, dass es ein Amerikaner war, der die erste Kurzgeschichte über den Inbegriff des Flâneurs schrieb: Edgar Allan Poes „The Man of the Crowd“ (vgl. Poe 1984, 388–396), erstmals 1840 publiziert. Poe berichtet über einen namenlosen Mann in einem namenlosen
ÖFFENTLICHKEIT 087
Kรถrper-Facetten
KRISENDESIGN UND KRISENKÖRPER Der Körper überwuchert als Thema alle Wissenschaftsbereiche. Wenn Gender als Schnittstelle hinzutritt, wird es quantitativ wahrlich nicht übersichtlicher, denn Gender liegt quer zu allen Disziplinen und durchkreuzt sie ebenso notwendig wie produktiv. Wenn wir nun diese beiden Kategorien mit Design vervollständigen, wird es zwar nicht kalkulierbarer, aber doch etwas eingeschränkter. Als erstes Betätigungsfeld des Körpers im Design fällt wahrscheinlich die Mode ein und auf, und das ist auch legitim. Aber der Körper hat für Gender-im-Design noch mehr zu bieten, ohne der Gefahr zu erliegen, allgemeine kulturtheoretische Fragestellungen allzu erweitert einzubeziehen. Deshalb hier erneut der Hinweis, dass der Körper in diesem Kapitel nur so weit zum Tragen kommt, wie er zur Erklärung des Dreiecksverhältnisses Gender, Design und eben Körper beiträgt und soweit er für die beispielhaften praktischen Designprojekte von Bedeutung ist.
Sicherheit Immer, wenn sich Krisen, eingebildet oder real, anbahnen und erst recht, wenn sie, weiterhin imaginiert oder faktisch, da sind, steigt die Nachfrage nach Sicherheit. Das beinhaltet Forderungen nach sichernden Personen – Polizei, Feuerwehr, Militär1, Security-Firmen etc. – ebenso, wie es das steigende Interesse an schützenden Artefakten – Überwachungskameras, Gesichtserkennungs-Software, Alarmanlagen, Bewegungsmelder, mehr oder weniger erlaubte Waffen etc. – beflügelt. Aber auch die menschlichen Körper selbst neigen zunehmend dazu, sich zu schützen, sich zu überwachen und sich zu kontrollieren (vgl. Antonelli 2005). Diese drei Formen des Sicherungsversuchs lassen sich sowohl auf der Ebene der Kreation (durch Design) als auch auf der der Nutzung in postindustriellen Gesellschaften tendenziell geschlechtlich zuordnen. Für den Schutz durch Personen bedarf es gestalterisch erst einmal eines Doppelten: des Schutzes sowie der Identifizierungsmöglichkeit dieser Personenkreise selbst. Spezifische Kleidung ist ein bedeutsamer Bestandteil von deren Aktivitäten. Sie hat eine doppelte Funktion zu erfüllen: nach innen und nach außen. „Nach 1
Das Militär wird nicht weiter thematisiert, weil es im Innern eines Landes nur in Extremsituationen wie Naturkatastrophen zum Einsatz kommt und nicht der Sicherung des gewöhnlichen Alltagslebens – mit dem wir uns hier beschäftigen – dient. – Zum Thema Militär und Gender vgl. u. a.: Snyder, R. Claire (1999): Citizen-Soldiers and Manly Warriors. Military Service and Gender in the Civic Republic Tradition, Lanham MD/Oxford (Rowman & Littlefield); Faram, Mark D. (2015): „Sweeping uniform changes emphasize gender neutrality“. In: NavyTimes, 09.10.2015, www.navytimes.com/story/military/2015/10/09/ sweeping-uniform-changes-emphasize-gender-neutrality/73602238/ (Zugriff 16.10.2016).
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innen“ bezieht sich auf den eigenen Körper, der – je nach Betätigungsfeld – gegen harte von der Gegenseite eingesetzte Gegenstände (Steine, Flaschen etc. bei z. B. Demonstrationen oder Prügeleien), genuine Waffen (Messer, Schusswaffen etc.) oder herabfallende Gegenstände (beim Brand eines Hauses etwa) geschützt werden muss. Die Kleidung muss zudem so gestaltet sein, dass die erforderlichen professionellen „Werkzeuge“ (Handschellen, Knüppel, Pistole, Atemschutzmaske, Brandbekämpfungs- und Geräte zur technischen Hilfeleistung etc.) so an der Kleidung oder am Körper anzubringen sind, dass sie der Pflichtausübung nicht hinderlich sind, sondern diese im Gegenteil unterstützen (größtmögliche Hitzeresistenz z. B.); und schließlich muss sie so viel Bewegungsfreiheit wie möglich erlauben (schnelle Bewegungen zum Zwecke der Verfolgung/der Rettung oder zum eigenen Schutz). Eine ganz bedeutende Rolle spielt diese Bekleidung aber auch für die Außenwahrnehmung: Diese für die öffentliche (oder private) Sicherheit zuständigen Berufsgruppen müssen für die Menschen unbedingt visuell erkennbar sein. Es geht um Orientierung: zu wissen, an wen ich mich im Falle der Not und Gefahr wenden kann, aber auch, damit diese Personen identifiziert werden können, ich mir also einigermaßen sicher sein kann, dass ich es tatsächlich mit der Polizei, der Feuerwehr oder einer privaten Sicherheitsfirma zu tun habe – ungeachtet des Problems, dass es sich auch um eine kriminelle Täuschung, z. B. um „falsche Polizisten“ handeln kann. Üblicherweise jedoch kann (und muss) ich davon ausgehen, dass mir Sicherheit durch die besondere Kleidung garantiert wird. Normalerweise werden solche Kleidungsstücke Uniform genannt, im Design sprechen wir generell von „Corporate Fashion“ – gleichgültig, ob es sich um staatliche Hoheits- oder private und Business-Uniformen handelt. Diese kann sich genauso auf Berufsbekleidung in nicht so gefährlichen und nicht mit Sicherheit verbundenen Berufen beziehen: Beschäftigte bei Fluggesellschaften oder Bahnen, Servicekräfte im Hotel- und Gaststättengewerbe, medizinische und technische Berufe etc. – einfach, damit ich weiß, an wen ich mich im Restaurant, Hotel, Flugzeug und Krankenhaus etc. bei Bedarf wenden kann; denn gäbe es diese Uniformen nicht, wäre es sehr verwirrend, die richtige Ansprechperson zu finden, müsste ich doch versuchshalber irgendwelche Menschen „in Zivil“ ansprechen. – Obwohl bei genauerer Betrachtung auch viele der letztgenannten Corporate Fashions nicht allein der Orientierung, sondern, zumindest psychologisch, auch der Sicherheit als Beruhigung dienen. (Dies gilt etwa für Beschäftigte im medizinischen Bereich, bei Flug- und Bahngesellschaften.) Schließlich gibt es noch die mehr oder minder subtil verordnete Business-Fashion: Es versteht sich offensichtlich in unserer Kultur von selbst, dass Beschäftigte einer Bank nicht in zerrissenen Jeans oder Bermudashorts zur Arbeit erscheinen dürfen. Entgegen den Bankgeschäften, aber genauso eingeübt, ist der sorgfältig-lässige Kleider-Habitus, den etwa sogenannte „Kreative“ (Designstudios, Werbeagenturen, Architekturbüros etc.) zu Markte tragen müssen. „Corporate Fashion legitimiert sich aus unternehmensstrategischer Sicht. (…) Sie erweitert die Aufgaben der traditionellen Arbeitskleidungen um den
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Aspekt der gezielten internen und externen Unternehmenskommunikation (…).“ (Henkel 2007, 91) Bisher war lediglich von der Kleidung dieser Sicherheit vermittelnden Berufsgruppen die Rede (die dazugehörigen Objekte werden im folgenden Abschnitt untersucht), aber es dürfte klar geworden sein, dass deren Design viele Anforde rungen erfüllen muss: Sicherheit für die tragende Person, Signalwirkung durch entsprechende Applikationen und durch (Signal)Farben, Einheitlichkeit zur Wiedererkennung und vieles mehr. Soweit bekannt, wurden und werden die Uniformen von Designern gestaltet, Designerinnen kommen zumindest in Deutschland nicht vor und offenbar nicht infrage. Die seit 1976 sukzessive in allen Bundesländern eingeführte senfgrün-beige farbene Polizeiuniform gestaltete der nach 1945 fast einzige berühmte deutsche Modedesigner Heinz Oestergaard. (Vgl. Oestergaard 2016.) Diese neuen, nach seinen Worten „liebenswürdigeren“ Uniform-Vorschläge sollten demokratischer und weniger abschreckend wirken. „Zugegeben, elegant ist nicht gerade das Wort, das einem zu diesen etwas unvorteilhaften Schnitten und nicht gerade kleidsamen Farben einfällt. Und auch in Sachen Tragekomfort schneidet die grün-beige Kombination sehr schlecht ab. Im Sommer sei der Tuchrock für Frauen angeblich ‚untragbar‘, und der Stoff des beigefarbenen Hosenkleids sei so ‚fest wie ein Zelt‘. (…) Doch nichtsdestotrotz prägten diese Polizeiuniformen das Straßenbild der Bundesrepublik in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren. Und nach dem Mauerfall verbreitete sich das Förstergrün auch in den neuen Bundesländern.“ (Konrad 2015) Nach 30 Jahren begann die Ablösung dieser Uniform, der Hamburger Senat beauftragte das Enfant terrible, den in seriösen Designkreisen scharf kritisierten Luigi Colani (trotz seines Namens ein Deutscher), der das grün-beige Kleidungsstück in ein dunkelblaues verwandelte. (Vgl. Ulrich 2003.) Die Produktion – und gewiss auch die genaue Anpassung an die Anforderungen einer Polizeiuniform, so ist zu vermuten – übernahm die Firma Tom Tailor, eine Holding mehrerer Mode unternehmen. Mittlerweile haben alle Bundesländer auf Blau umgestellt, als letztes folgte kürzlich Bayern. Auch in den anderen der EU angehörigen Ländern übrigens sind fast alle Polizeiuniformen blau. Die Uniformen ähneln sich nun immer mehr, allerdings ist nicht festzustellen, wer die unterschiedlichen Nuancen in den diversen Bundesländern designed hat. – Bei der Feuerwehr brachte die Recherche überhaupt keine gestalterischen Besonderheiten und Namen hervor. Es scheint aber gewiss, dass in allen drei Sicherheitsbereichen Designerinnen nicht existent sind. Umso bemerkenswerter, aber eben die Ausnahme, dass die österreichischen Polizeiuniformen von der österreichischen Designerin Barbara Mungenast gestaltet wurden, die sich bewusst für eine „eigene Frauenlinie“ entschied: „Die Frau als starke Frau zu definieren und nicht als kleinen schwachen Mann. Interessant war: Viele Frauen wollten das anfangs gar nicht. Wir mussten schon argumentieren, um körperbetonte Linien reinzubringen.“ (Mungenast in Sonderegger 2012)
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Die anfängliche weibliche Abwehr einer „Frauenlinie“ treffen wir auch in gewöhnlicheren Alltagssituationen an: Sobald bei Entwürfen von Produkten, Services, Zeichen betont wird, dass etwas Spezifisches „extra“ für die Zielgruppe Frauen gestaltet worden sei, lehnen diese es häufiger ab. Es scheint, als ob sie, modern, sich selbstbewusst gebend oder bezeichnend, diese Spezifik statt als Qualität als eine Aktion sehen, die sie schwach machen könnte. Paradoxerweise wissen Frauen es sehr wohl zu schätzen, wenn mit großer Aufmerksamkeit und Sensibilität ihre Wünsche ergründet und berücksichtigt werden; allerdings: Diese Sonderheit darf nicht erwähnt (nur heimlich gestaltet) werden.2 Die ansonsten in der Gestaltung von Polizeiuniformen nicht existenten Designerinnen würde die in vielen Designsektionen ausgeprägte Segregierung nach Geschlechtern unterstützen: Auffällig genug, dass selbst Arbeitsfelder, die konventionell als eher den Frauen zugeeignete und zugemutete gelten – wie etwa Gestaltungstätigkeiten, die sich als privat, als hausarbeitsnah definieren, die das Weibliche an das Schneidern und Nähen, ans „Dekorativ-Spielerisch-Kreative“ binden –, im Moment ihrer Professionalisierung deutlicher männlich konnotiert sind. Das geschieht verstärkt dann, wenn es sich um bekannte Designer_innen handelt: Im Modedesign etwa finden sich sehr viel mehr Namen von international berühmten Designern als von Designerinnen. Erschwerend kommt speziell für die Sicherheits-Corporate Fashion hinzu, dass viele Faktoren zu berücksich tigen sind, die genaue technologische Materialkenntnisse erfordern hinsichtlich Brennbarkeit, Einschlägen von Objekten etc. Offenbar herrscht hier das Vorurteil, dass Designer kompetenter mit diesen Ansprüchen umzugehen wüssten als Designerinnen. Schutzobjekte wurden bereits als notwendige „Accessoires“ der uniformierten Kleidung erwähnt; aber das Spektrum ist sehr viel breiter. Auf der einen Seite greifen staatliche oder städtische Schutzmechanismen immer mehr um sich: überall Kameras, bei überprüfenden Organen wie Zoll, Flughafen, Ordnungsamt, Polizei und Militär zudem Waffen, Drohnen, Identifizierungs-Hard- und Software. Bestimmte Kontroll-Objekte werden zwar lediglich in besonderen Überprüfungsoder Gefahrensituationen eingesetzt (Waffen, Drohnen, biometrische Verfahren), aber die Videokameras begleiten uns, körperlich unberührt, manchmal sogar unsichtbar, permanent durch den öffentlichen Raum. Offenbar fühlen sich viele Menschen sicherer, wenn sie beobachtet werden. „Im gegenwärtigen westlichen System erfolgt die Unterwerfung nicht primär durch Zwang, sondern freiwillig. (…) wir müssen nicht zur Unterwerfung gezwungen werden, sondern begeben uns frei willig in Kontexte, in denen wir überwacht, kontrolliert und manipuliert werden können.“ (von Borries 2016, 23)
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Dieses Missverständnis fanden wir übrigens auch bei den weiblichen Geschäftsreisenden (vgl. Kap. Frauen im Hotel, S. 074 ff.
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DAS PROJEKT: FREMD- UND SELBSTWAHRNEHMUNG VON KÖRPERLICHKEIT – EIN GESCHLECHTERVERGLEICH ANHAND VON PORTRAITFOTOGRAFIEN Julia Schümann
Portrait und Identifikation Was geschieht, wenn das Abbild eines Menschen durch Eingriffe in die grundlegenden und speziellen Strukturen und Formen eines Gesichtes verändert wird? Woran orientiert sich die Selbstwahrnehmung? Wird die Veränderung überhaupt erkannt? Wie nehmen wir Abbilder anderer Menschen wahr? Mein Interesse wurde durch ein Phänomen geweckt, das ich während meiner praktischen Tätigkeit als Fotografin häufig beobachtet hatte: die unkritische und problemlose Identifikation der Portraitierten mit ihrem eigenen Abbild – allerdings, nachdem dieses einer so umfassenden Bildbearbeitung unterzogen wurde, dass sie durchaus als „visuelle Operation“ bezeichnet werden kann. Also führte ich eine systematische, qualitative Studie durch, um diese Beobachtung präzisieren und verifizieren zu können. Ich ging von zwei Hypothesen aus: 1. Es besteht eine geschlechterspezifische Divergenz in der sub jektiven Wahrnehmung und Einschätzung zwischen dem eigenen sowie dem Abbild der Partnerin oder des Partners insbesondere unter dem Aspekt von unterschiedlichen Geschlechtern. 2. Es bestehen geschlechterdifferente Emotionen und Bewertungen bezüglich der Idealisierung von Gesichtern. Zu diesem Zweck stellte ich Portraits von je 5 Frauen und Männern her, die ich durch intensive Retusche-Arbeit in zwei entgegengesetzte Extreme retuschierte und manipulierte: einerseits in idealisierender, andererseits in zerstörender (also verhässlichender) Tendenz. In jeweils vier aufeinander aufbauenden Schritten wurden die Gesichtsproportionen, die individuellen Strukturen und Formen sowie die Kopfform visuell „operiert“.
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Methodik Interviews: Ich führte qualitative, themenzentrierte Face-to-Face-Befragungen durch, die durch die präzise Präsentationsabfolge strukturiert und geleitet wurden. Ziel war es, Informationen über assoziative gefühls- und erinnerungsgesättigte Erfahrungen zu erlangen. Fremdbeobachtung: Während des Fotografierens beobachtete ich das Verhalten der Probandinnen und Probanden und dokumentierte es mit dem Ziel, die Emotionalität der Aussagen bestätigen oder bestimmen zu können sowie das körperliche Verhalten als Grad innerer Bewegtheit zu analysieren. Introspektion: Ich analysierte Denkprozesse anhand einer weiteren kontrollierten Befragung mit dem Ziel, Schönfärbungen sowie deren Gegenteil zu entlarven, um so die Täuschung und Selbsttäuschung in Wahrnehmungsprozessen der eigenen und fremden Körperlichkeit der Probandinnen und Probanden verstehen zu können. Nach diesen Recherchen und qualitativen Befragungen der Probandinnen und Probanden konnte ich deutliche Differenzen einer geschlechterspezifischen Idee von Schönheit und visueller Harmonie ausmachen. Raster: Auf dieser Basis entstand ein Proportionsraster, das die identische Manipulation aller Gesichter durch die Berechnung der Manipulationsverhältnisse ermöglicht.
Die Manipulationsstufen Proportionsharmonisierung und Proportionszerstörung: Im ersten Manipulationsschritt standen die Längen und Breiten der Gesichtselemente sowie die Elementpositionen im Fokus. Diese wurden in Richtung des ProportionsharmonisierungsRasters und diesem entgegengesetzt manipuliert, hauptsächlich fanden hier Verschiebungen statt. Bei den zerstörenden Manipulationen wurden die Disharmonien, bei den idealisierenden die Harmonien der Gesichter verstärkt. Diese Vorgehens weise führte ich in den Folgeschritten fort. Formharmonisierung und Formzerstörung: In der Formharmonisierung wurde die Kopfform an das Raster angepasst, in der Formzerstörung wurde auch dieser Schritt in entgegengesetzter Richtung durchgeführt. Idealisierung und Idealisierungszerstörung: Im Schritt der Idealisierung und der Idealisierungszerstörung wurden alle Teile des Gesichtes isoliert betrachtet. Zudem wurden die Achsen des Gesichtes, insbesondere von Kopf und Augen, idea lisierend und zerstörend gezerrt. Außerdem wurden die beiden Gesichtshälften einander angeglichen.
DAS PROJEKT: FREMD- UND SELBSTWAHRNEHMUNG VON KÖRPERLICHKEIT 141
Individualisierung und Individualisierungszerstörung: Im letzten Manipula tionsschritt wurden die Idealisierungstendenzen entsprechend den individuellen Wünschen der Probandinnen und Probanden erneut angewendet und punktuell verstärkt. Hinzu kamen weitere Veränderungswünsche, die über die Idealisierungstendenzen hinausgingen.
Kommunikation der Manipulationen Das Ergebnis wurde den Studienteilnehmer_innen sowie deren Partner_innen in unterschiedlichen Arten präsentiert. Zu jeder einzelnen, nicht gekennzeichneten Portrait-Variante mussten die Proband_innen somit jede Abänderung in Beziehung zu ihrem gedachten Selbstbild setzen, also versuchen, ihr Aussehen zu evaluieren. Alle Portraitierten befanden sich während der Präsentationen in einer genau strukturierten, planmäßigen und technisch identischen Situation. Die beschriebenen Eigenschaften entsprechen einer Laborsituation, jedoch wurde der Negativ effekt einer möglichen Befangenheit, die in einer solch künstlichen Situation leicht entsteht, dadurch gemildert, dass die Forschung bei den Proband_innen zu Hause in deren vertrauter Umgebung stattfand. Die erste Präsentation stellte die Isolation dar. Zwischen neun ernste und neun lachende Portraitvarianten wurden Bruchbilder geschaltet, welche die Fixierung auf das Gesicht und somit die Konzentration auf ein bestimmtes Element unterbrachen, um einem direkt erkennbaren Wandel vorzubeugen. Die Metamorphose dagegen zeigte die Portraitvarianten im harten Bildwechsel ohne Übergang. In der folgenden Präsentationsart Sezieren wurden die Probandinnen und Probanden aufgefordert, sämtliche fehlenden und falschen Elemente anhand der Individualisierung zu entlarven. Der Vergleich stellte sodann die Parallelpräsentation aller Portraits dar, die Aufgabe bestand nun in der Identifizierung der Originalproportion. Die abschließende Demaskierung zeigte den sichtbaren Wandel von der Individualisierung zur Rohdatei in drei unterschiedlichen Arten.
Datenerfassung und Datenstrukturierung Nach der praktischen Durchführung der Studie erstellte ich eine Struktur für die Datenerfassung in Form einer Eingabemaske. Anhand dieser konnten die Interviews sortiert und vergleichbar verschriftlicht werden. Neben der reinen Abschrift wurden zahlreiche Visualisierungen zur Datenerfassung erstellt.
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Aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten des verbalen Ausdrucks entwickelte ich eine eigene Symbolsprache, die die Sach- und Emotionsebene einer Aussage erhält, aber sie von der individuellen Formulierung ablöst und eine vergleichende Interpretation ermöglicht, die Tendenzen erkennen ließ. Diese Tendenzübersetzung wurde abstrahiert und unter den Schwerpunkten Identifikation, Veränderungsvermutungen, Entlarvung der visuellen Operationen und Empfindung der jeweiligen Manipulationsstufe ausgewertet. Zudem wurde das körperliche Verhalten – Mimik, Gestik und Bewegung – der Probandinnen und Probanden während des Prozesses durch Videoaufzeichnungen genau dokumentiert. Im Verlauf der Auswertung zeichneten sich immer deutlichere Übereinstimmungen ab. Meine Hauptthese, dass explizite Geschlechterdifferenzen in der Selbstund Fremdwahrnehmung bestehen, bestätigte sich erkennbar. Die Ergebnisse meiner Studie ermöglichten die Formulierung von Tendenzen der geschlechterdifferenten Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie demzufolge der Divergenz zwischen dem imaginären Bild und dem realen Abbild. Die abschließende Analyse konzentrierte sich auf die Interpretation der Körperbewegungen während der Aufnahmen (betrachtet als Symptom innerer Bewegtheit), die Beurteilung, Verortung und die Empfindung des Selbst- und Fremdbildes, die (weibliche Depression der) Demaskierung sowie auf das subjektive Idealbild.
Tendenzübersetzung: Symbolsprache
DAS PROJEKT: FREMD- UND SELBSTWAHRNEHMUNG VON KÖRPERLICHKEIT 143
1 Storyboard sketches
2 Still from the film: the title
3 Still from the film: greeting from the show’s host
4 Still from the film: at the hairdresser’s
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5 Still from the film: Uta’s application, i ntroducing her three biggest problems
6 Still from the film: the first meeting, i ntroducing our concept
7 Making of…Reverse Branding
8 Still from the film: the first step – new hair
DAS PROJEKT: REVERSE BRANDING – THE BRANDES PROJECT 183
9 Still from the film: in the fashion shop – the host coaching Uta on how to choose outfits
10 Still from the film: covering the mirror – our candidate has not seen her ‘new you’
11 Still from the film: the last instructions to Uta, how to own her new look and personality
12 Still from the film: the climax – introducing the new Uta
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Der repräsentierte Körper Das zuvor diskutierte körperliche Upgrading kann sich aber auch in anderen als Körperertüchtigungs-Mechanismen äußern, sozusagen bequemer und täuschender. Bekannt sind die vielen manipulierten Körperbilder, die nicht nur Models und Schauspieler_innen von sich als Abbilder präsentieren: hier ein wenig Fleisch und Fett weg, dort ein Muskel mehr, begradigte Nase, vollere Lippen … – die Liste ließe sich beliebig verlängern. Wir reden hier erst einmal lediglich von den manipulierten Fotografien solcher Menschen, nicht von deren Gesichtern und Körpern aus Fleisch und Blut. Lauren Prince hat in ihrer vergleichenden Studie untersucht, wie „women are represented in images and how the pervasive use of digital alterations influenced the women seeing these photographs. (…) Through an in-depth comparison of the ways in which digital manipulation dictates gender representations and preserves patriarchal gender roles, one can explore how the same technological tools can be applied in completely different ways.“ (Prince 2014, 5 f.) Neben Phänomenen, die sich quer über die Geschlechter hinweg fanden, identifizierte sie fünf relevante Kriterien der differenten Repräsentation von weiblichen und männlichen Körpern und Gesichtern sowie der Blicke auf diese: „The antagonisms I focus on are (1) the women’s bodies but men’s faces, (2) the role of photo manipulation to denaturalize the female body while the male form is enhanced, (3) the lack of multidimensionality in the expression of femininity with the wide opportunities for multidimensionality in masculinity, (4) a non-erotic gaze when women look at other women, while the intense fear of the homosexual experience when men look at other men, and (5) the constant association with women with the term ‘beauty’, while the comparable term does not exist when applying the same concepts to men.“ (Prince 2014, 71) Es erweist sich, dass diese digital veränderten Fotos Männer komplexer werden lassen, Frauen dagegen eindimensionaler. Und die Kategorie „Schönheit“ scheint bei Frauen eine ungleich gravierendere Rolle zu spielen. Beiden abgebildeten Körpertypen allerdings ist in ihrer Komposition gemeinsam, dass sie nach „bestimmten Formgesetzen zusammengefügt, gestaltet“ (vgl. DWDS) sind. Nichts fehlt, nichts wird physikalisch weggeschnitten oder beschädigt, lediglich neu komponiert – „nach bestimmten Formgesetzen“, die virtuell verschlanken oder betonen, den Blick eher von unten oder von oben binden etc. Da es sich um zweidimensionale Abbilder handelt, nicht um dreidimensionale Körper, können sie nicht genauer überprüft werden. Die heute gültigen Gesetze für Werbe-, Mode- und Medien-Körper, die nach der digitalen Bearbeitung als Bilder in den diversen Medien erscheinen, haben wenig mit den dreidimensionalen Körpern zu tun, wie sie in der Wirklichkeit herumlaufen – das ist sattsam bekannt. Wie sehr aber diese Körper verwandelt werden, ist doch für Außenstehende erstaunlich und übertrifft in seinem Arbeitsaufwand das in diesem Fall naive, d. h. nicht professionelle, Vorstellungsvermögen. Ersichtlich wird das Ausmaß der Bildbearbeitungen an einem Zitat, mit dem eine der in
DER KÖRPER: BEZÜGLICH, AUFGERÜSTET, K ONSTRUIERT, DEKONSTRUIERT, R EKONSTRUIERT … 185
mit den Fingern ihrer linken Hand lüpft sie unter dem Kinn ein wenig die zum Band gedrehten Strümpfe, während ihre rechte über Kopfhöhe (noch) den Strang hält. Und schließlich die zuletzt geborene Iris Chang (1968–2004), US-amerika nische Schriftstellerin und Journalistin, die politisch-dokumentarische Bücher schrieb (vgl. Chang 1995, Chang 1997, Chang 2003). Als Fashion Victim sehen wir das Model im Profil in einem weißen Auto sitzend, close-up, also in Großaufnahme, von außen durch das heruntergekurbelte Seitenfenster fotografiert, mit beiden Händen einen Revolver umklammernd, der von schräg unten direkt und sehr nah auf ihren leicht geöffneten roten Mund zielt; ihre Augen sind geschlossen. Was wir sehen: fünf von sieben Selbstmordszenen sind Farbfotografien, zwei schwarz-weiße, wobei sich mir hier die Farbverteilung nicht erschließt. Denn weder haben das Alter bzw. Geburtsjahr der Künstlerinnen damit etwas zu tun noch die spezifischen, ohnehin allesamt voyeuristisch inszenierten Todesursachen. Ich könnte als Vermutung formulieren, dass die Künstlerinnen Parker und San Mao, deren Tod in Schwarz-Weiß inszeniert wurde, die vielleicht am offensten politisch agierenden und recherchierenden Frauen waren und deshalb der Purismus einer Schwarz-Weiß-Fotografie diese Haltung besser einzufangen meinte. Die vier Hochund drei Querformate werden verständlich, denn, zynisch genug, das Format verkörpert jene Form, die die je spezifische Todesart und den Tatort am geeignetsten in Szene setzten. Im Hochformat werden gestaltet: der Fenstersprung (aus großer Höhe), das Aufschneiden der Pulsadern (stehend, Blut fließt vertikal), das Erhängen (Betonung der Vertikale). Die anderen vier Tatorte Auto, Fluss, Backofen, Wohn zimmer legen die Horizontale nahe: Ein Auto ist eher lang als hoch, ein Fluss fließt horizontal, und Küche sowie Wohnzimmer sind private Räume, deren Ausstattung im Querformat besser eingefangen werden kann. – Alles sehr genau und sehr fein geplant, ohne jegliche Emotion den realen Geschehnissen gegenüber – tote Literatinnen werden für ein Mode-Lookbook missbraucht. „Today’s depictions have less to do with the tragedy of a life cut short and more to do with a perverse, voyeuristic fascination with violence and gore in female crime scenes. In effect, the current fascination reflects the normalization and de facto acceptance of violence against women.“ (Bryant, 5)
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DER ENTGRENZTE KÖRPER Grenzverwischungen Das, was einst so sicher als zwei voneinander geschiedene Bereiche gedacht war, die sich entweder einigermaßen im Einklang befanden oder als Antagonismus aufeinanderprallten: Natur und Kultur, hat sich grundlegend durch Technologien, gesellschaftliche Veränderungen und theoretische Vorstellungen gewandelt. Dementsprechend sind auch die Interpretation und das Verständnis vom (geschlecht lichen) Körper breit aufgespannt und – was die theoretische wie ethische Evaluation betrifft – höchst kontrovers bewertet. „Die virtuelle Ent-Natürlichung menschlicher Körper einerseits führt andererseits zu einem stärkeren Vergewisserungsbedürfnis konkreter Körperwahrnehmung und -erfahrung.“ (Heilmann 2005, 64) Immer dann, wenn Vorstellungen und Realitäten ins Wanken geraten, wie hier der Körper, der nun nicht einmal mehr „nur“ aus Natur und Kultur komponiert ist, sondern plötzlich zusätzlich technologische und virtuelle Konstrukte in ihn hineinkriechen, ihn sogar potenziell auflösen –, immer dann sucht eine ebenso verunsicherte, des orientierte, festhaltende wie kritisch-analytische Reaktion das zu entgleiten Drohende zu beschwören oder zu retten. Solche rapide fortschreitenden Entwicklungen sind sehr schwer zu beurteilen; keinesfalls können damit einhergehende Ängste als nostalgisches Beharren an Überkommendem diskreditiert werden. Andererseits ist die enthusiastische Begrüßung technologischer und biochemischer Veränderungen oder Mobilmachung der gesellschaftlichen Körper gleichfalls unangebracht. „Die zu beobachtenden Grenzverwischungen zwischen Natur und Mensch, Mensch und Maschine gehen einher mit Auflösungsstrategien basaler Kategorien, die bisher als Grundorientierung für ein noch humanes Dasein sorgten. (…) Ontologische Bestimmungen des Mensch- und Subjektseins und Leib/Körperverständnisses werden in Frage gestellt und neue Definitionsversuche drängen sich auf.“ (Petrovic- Ziemer, 160) Wie auch immer die Beurteilung ausfällt: Körper und Geschlecht müssen angesichts dieser bereits existenten oder möglichen Eingriffe, Substituierungen, Kompositionen neu gedacht werden. Donna Haraway ist nicht die Erste, die seit Mitte der 1980er-Jahre ziemlich radikal die Vorstellung vom „ganzen“, „organisch-natürlichen“ Körper infrage stellt. (Vgl. Haraway 1985, 8 ff. und Haraway 2004.) Der US-amerikanische Mathematiker und Begründer der Kybernetik, Norbert Wiener, prägte den Begriff der Kybernetik (cybernetics), den er auf sich selbst regulierende Mechanismen und Systeme bezog (vgl. Wiener 1948). Gemeinsam mit seinen Kollegen, dem Physiologen und Physiker Arturo Rosenblueth und dem Elektroingenieur Julian Bigelow, spricht er von einer Art der Übereinstimmung zwischen Maschinen und lebenden Organismen:
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„The broad classes of behavior are the same in machines and in living organisms …) Structurally, organisms are mainly colloidal, and include prominently molecules, large, complex and anisotropic; machines are chiefly metallic and include mainly simple molecules.“ (Rosenblueth/Wiener/Bigelow 1943, 22 f.) Auffällig, dass auch Haraway viel später die Tiere in ihre „living organisms“, wenn auch in modifizierter Absicht, aufnimmt: „In sum, ‘companion species’ is about a four-part composition, in which co-constitution, finitude, impurity, historicity, and complexity are what is. (…) inhabitants of technoculture become who we are in the symbiogenetic tissues of naturecultures (…).“ (Haraway 2003, 16 f.) Haraways „Techno-“ und „Naturkulturen“ fallen nicht nur zusammen, sondern das sind wir („who we are“). Sie erläutert ihr besonderes Interesse an der Mensch-Tier-Verbindung anhand der Beziehung zwischen Hunden und Menschen mit der Kategorie metaplasm: Für sie bedeutet das „the remodeling of dog and human flesh, remolding the codes of life, in the history of companion-species relating (…)“ (Haraway 2003, 20) Sie ist sich zweifellos der Doppelbedeutung des Begriffs bewusst: einerseits als rhetorische Figur der „Umformung“ durch Normabweichungen wie etwa Weglassen, Hinzufügen, Austauschen; andererseits als aus der Zellbiologie stammender Begriff für unbelebte Materie oder Einschließungen wie Stärke oder Pigmente. Und so werden die Lebenswissenschaften neu und erweitert konfiguriert: Menschen, Tiere, Maschinen und lebende Teile wie Zellgewebe gehen eine unauflösliche Verbindung ein. „Die Begründung der Physiologie als Experimentalwissenschaft markiert eine entscheidende Wende der Lebenswissenschaften: Denn diese fragten fortan nicht mehr nach dem Wesen des Lebens, sondern nach der Steuerung seiner Prozesse. (…) Der lebende Körper wurde zur Verkörperung dieses Wissens. Als eine Ganzheit, die sich selbst steuert und reguliert, bildete er den zentralen Gegenstand der Biologie, doch darüber hinaus konstituierte die formale Beschreibung dieser Ganzheit und der vitalen Steuerungsprozesse eine Wissensfigur, die anwendbar war auf Individualitäten wie Maschine, Tiere, Menschen oder Gesellschaften.“ (Bühler 2004, 9) Mit Haraway begann als wesentliche Erweiterung die techno-kritische feministische Befragung des vergeschlechtlichten Körpers. „Die Cyborg als imaginäre Figur und als gelebte Erfahrung verändert, was am Ende des zwanzigsten Jahrhundert als Erfahrung der Frauen zu betrachten ist.“ (Haraway 1995, 33)27 Haraways Emphase für „gemischte“ Körper folgt der Argumentation, dass sich ansonsten ja mit jedem Ding, das eine Verbindung mit dem Körper eingeht, eine Kluft auftäte zwischen dem „wirklichen“, dem „echten“ Körper und seiner Modifizierung. Haraway diskutiert die dreifache Grenzauflösung in modernen Gesellschaften zwischen Mensch und Tier (vgl. Haraway 2003 u. 2007), Organismus und Maschine, dem Kör27 Die deutsche Übersetzung macht aus dem englischen Artikel-Neutrum „the“ ein weibliches „die“ im Singular, obwohl der deutsche Buchtitel neben den Cyborgs explizit und zusätzlich Frauen benennt: Die Neuerfindung der Natur, Primaten, Cyborgs und Frauen.
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perlichen und Nicht-Körperlichen. „(…) companion species (…) is my akward term for a not-humanism in which species of all sorts are in question (…). Companion species is a permanently undecidable category, a category-in-question.“ (Haraway 2007, 164 f.) Ironisch und selbstverständlich konstruiert Haraway Cyborgs (vgl. Haraway 1995), die aus natürlichen und künstlichen Teilen zusammengesetzt sind – cyb-ernetic org-anisms.28 Diese dreidimensionale Collage aus – wenn wir es so verdinglicht fassen wollen – unterschiedlichen, natürlichen und artifiziellen, lebendigen und nicht lebendigen Materialien geht dennoch erst einmal von dem unversehrten Cyborg-Körper aus, der, wenn auch technologisch, bio-technisch oder neuro-biologisch nachgerüstet, in sich dann doch wieder „ganz“ ist. Insofern ist das Argument zu bedenken, dass es womöglich emanzipatorischer ist, einen „funktionstüchtigen“ technisch aufgeladenen Körper mein Eigen zu nennen als einen, der verletzt, misshandelt, gewalttätig unterdrückt ist.29 Unsere Körper sind längst sozio- und techno-kulturell hergestellt und vermischt. In dem Maße also, wie technologische, bio-chemische oder neurologische Konstrukte auf den Körper zu- und in ihn eingreifen, wäre der zusammengesetzte, biologisch, technisch und sozial komponierte Körper eine Möglichkeit, der gesellschaftlichen Unterworfenheit des weiblichen oder geschlechtlich uneindeutigen Körpers zu entgehen – Unschärfe als emanzipatorischer Akt. „Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?“ (Wittgenstein 1993, 280)
28 „Kybernetes ist griechisch für den ‚Steuermann‘. Als solcher lenkt er, wie die antike und biblische Überlieferung bezeugt, das Schiff und die Geschicke der Gemeinde. Er ist es, der den Reisenden und – mit göttlichem Auftrag – auch den Sesshaften ihre Wege bahnt. In dieser Doppelfunktion wird der Kybernetes bei Thomas von Aquin Gubernator heißen, ehe die Neuzeit vom Governor spricht. (…) der Kybernetes (wird) Mitte des 20. Jahrhunderts zu neuen Ehren kommen: Er gilt als Galionsfigur einer universalen Steuerungswissenschaft, die nach Norbert Wiener Cybernetics oder ‚Kybernetik‘ heißt.“ (Maier/Wolf 2004, 8) 29 Vgl. dazu Kap. Der geschundene Körper in der Mode, S. 196–204.
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1 Pfau
2 Pfauen-Frau
3 Pfau-Henne
4 Mann-Henne
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5 Löwe
6 Löwen-Frau
7 Löwin
8 Mann-Löwin
DAS PROJEKT: A NIMAL D ESIGN ALS V ERQUERER G ENDER BLUR 213
DAS PROJEKT: INTER-BODY ACTION Zoe Philine Pingel
The piece deals with concepts of body, identity and performance. Gender identity is performed through an act, an activity. It builds upon an underlying semiotic system, a system of representation of codes. The object allows the medium (performer) to reveal their individual identity. The object itself appears androgynous because there is an absence of polarised male or female characteristics. The combination of soft and hard forms, circles and rectangles, and two and three dimensions makes the object gender sensitive, oscillating between and playing with gender norms. When creating the wearable object, I thought about how the fabric shapes should look and connect. I wanted to construct a textile sculpture with no specific centre, no defined inside or outside, and with no hierarchy in itself. It should also be able to grow or be dismantled. It should feel comfortable and warm when worn. It should give the beholder the desire and space to interact with it. The object may seem to stand on its own when displayed, but gains its true meaning when performed. It aims to emphasise androgyny by visualising the transformation of both medium and object. In the end, however, what matters is not only the interaction between medium and object but also the audience’s perception. The space within and around the object enables dialogue between the performer and public.33
33 Die hier präsentierte Auswahl umfasst neben den folgenden beiden Entwürfen von Zoe Philine Pingel und Kathrin Polo sowie Annika Mechelhoff auch den von Juliana Lumban Tobing, vgl. Kap. I-am-Me, S. 163–165.
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DAS PROJEKT: INTER-BODY ACTION  219
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DAS PROJEKT: #040585  231
Der gefügig gemachte Körper Drei inhaltlich extrem unterschiedliche Körper-Be- und -Ermächtigungen werden im Folgenden verhandelt: Dem medizinisch manipulierten weiblichen Körper am Ausgang des 19. Jahrhunderts stelle ich, vielleicht unerwartet, den emanzipatorischen Modekörper im Reformkleid zu ziemlich derselben Zeit gegenüber: der reformierte Körper. Und diese gegeneinander antagonistischen Figuren konfrontiere ich sodann mit dem unscharfen, Innen- und Außengrenzen verwischenden Zukunftskörper. Erinnern wir uns: Eine frühe Demokratisierung formulierte sich in der englischen „habeas corpus“-Akte, die die Verfügung über den eigenen Körper sprachlich manifestierte. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als hysterisch stigmatisierten Frauen mussten ihren Körper allerdings der Neugier der Ärzte überlassen. Bedeutend ist dabei die für die Diagnose sehr praktische Koinzidenz mit der inzwischen stark verbesserten Fotografie: So konnten die Symptome der „hysterischen“ Frauen nicht nur schriftlich, sondern auch im (Ab)Bild festgehalten werden. Die Frauen wurden in gewisser Weise ihres Körpers doppelt enteignet, indem die Psychiater und Nervenärzte die Frauen medizinisch und fotografisch sexuell scham loser Ausbeutung unterwarfen. Es existieren unzählige, als lüstern und gewaltförmig zu bezeichnende Fotografien von in verrenkten Posen erstarrten, paralysierten, gelähmten Frauen. (Vgl. Didi-Huberman 1997, vgl. Charcot 2016.) Vor der ärztlichen Erfindung des Symptoms der weiblichen Hysterie entsprach die „stigmatisierte Jungfrau“ noch dem Ideal einer mystisch-religiös überhöhten Kindfrau, die ihre weiblich-sexualisierte Körperlichkeit durch Keuschheit überwunden hatte (obwohl wir auch hier durchaus eine heimliche männliche Begierde, religiös verblümt, unterstellen können). Mit der Hysterie-Diagnose jedoch entblößten die Ärzte die moderneren Frauen erstmals offen erotisch. Nicht nur wurden sie als hysterisch diagnostiziert, sondern zugleich schamlos dem als Wissenschaft legitimierten wahrscheinlich ersten „male gaze“ (Mulvey 1999) ausgesetzt. Allerdings: Auch wenn viele der entweder in psychiatrischen Anstalten kasernierten (vgl. die berühmt-berüchtigte Klinik Salpêtrière des Jean-Martin Charcot, vgl. Webb 2008) oder von Ärzten behandelten Frauen eindeutig der Verdinglichung und der Sensationslust ausgelieferte Opfer waren, so gab ihnen doch offensichtlich diese dermaßen starke Aufmerksamkeit erregende „Krankheit“ – ob bewusst oder unbewusst, ist in diesem Fall gleichgültig – die Gelegenheit, ihrer entweder bürgerlichen oder entwurzelten dunklen Ereignislosigkeit und Beschränkung zu entkommen, ja sogar ins fotografische Rampenlicht gerückt zu werden. „Die Hysterikerinnen der Salpêtrière ‚reüssierten‘ in den Rollen, die man ihnen suggerierte, so erfolgreich, daß sie dabei so etwas wie eine elementare Glaubwürdigkeit des Leidens einbüßten.“ (Didi-Huberman 1997, 257) Die Fotografien fangen die weiblichen Körper in der Psychiatrie auf ihren Betten mit verrutschten dünnen Hemdchen und entblößten Schultern und Beinen in teils frivol anmutenden Posen ein. So gehen Hysterie, Psychoanalyse und Fotogra-
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fie eine unheilvolle Verbindung mit den Opfern ein. Susanne Holschbach bezieht sich in ihren Beschreibungen auf die von Didi-Huberman wieder vorgelegten Fotografien, wie sie von Charcots Assistenten an der Salpêtrière, Désiré Bourneville, in den drei Bänden seiner Iconographie (vgl. Bourneville 1877–1880, vgl. Didi-Huberman 1997) geschossen wurden: Hier tritt „der Konflikt zwischen medizinischem und ästhetisierendem bzw. erotisierendem Blick an die Oberfläche. Die Art und Weise, wie die Patientin (…) präsentiert wird, ist noch im wesentlichen gedeckt durch das Anliegen, die Kontrakturen der Gliedmaßen deutlich hervorzuheben. Die zu diesem Zweck entblößten Körperteile, der rechte Arm und das rechte Bein, sind dem Betrachter zugewandt (…). Irritierend ist aber bereits der den Betrachter direkt adressierende Blick des ‚Modells‘, der der Inszenierung bereits einen ero tischen Unterton verleiht (…). Der verkleinerte Ausschnitt der zweiten Bildtafel fokussiert genau auf diesen Blick über die entblößte Schulter – eine geläufige Pose weiblicher Verführung (…) – wobei die Decke, die im zweiten Bild die Stuhllehne und den Körper der Patientin verhüllt, um den nackten Arm zu exponieren, zugleich als kunstvolle Drapierung fungiert, die die Umdeutung der schmerzhaften Verdrehung des Arms in nahezu klassischer Pin-up Pose begünstigt.“ (Holschbach 2002, 130) Obwohl die Autorin sich um eine erstaunlich neutralisierte Bildbeschreibung bemüht, kann sie doch nicht umhin, das gesamte Arsenal an der Sexualisierung in den Fotografien zu benennen: erotisierend, entblößte Körperteile, Pin-up-Posen – und ich füge die Kleidung hinzu, diese zwar weiten, aber eben erotisch verrutschten Hemden, die Schultern oder Arme oder Beine oder alles zusammen bloßlegen. Immerhin muss bedacht werden, dass wir uns zeitlich und modisch in einer Phase befinden, wo einerseits die züchtige Verhüllung der Frauen vom Hals bis über die Fußknöchel sozial vorgeschrieben war, andererseits aber durch das Marterinstrument Korsett (vgl. Stelle 2005) dann doch wieder die Idealisierung typisch weib licher Formen (eingeschnürte Taille, Betonung des Busen und des Pos) als bürgerliche Bigotterie durchscheint.
Der reformierte Körper Und hier lässt sich eine sehr eigenartige Verbindung zwischen den zugerichteten, „hysterisch“ psychiatrisierten und sexuell abhängig gemachten Frauen mit den Emanzipationsbewegungen der bürgerlichen Frauenbewegung und deren Mode herstellen: Der ins Korsett gepresste Körper, der mithilfe von Schnüren, Stäben aus Fischbein und unter Schmerzen zugerichtet wurde, passte genau in die gesellschaft liche Konstruktion der unselbständig und kindlich im Haus gefangenen bürger lichen Frau des 19. Jahrhunderts. Das Korsett hängte den Frauenkörper am Kleid auf, das Subjekt war die Mode, die Frau das verdinglichte, passend gemachte Objekt. Um 1900 (erfunden wurde es bereits um 1850) kam das Reformkleid als neue
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Bewegung auch im Deutschen Reich an: ein Kleid ohne Modellierung, mit bequemen weiten Ärmeln, fließend von den Schultern am Körper herabfallend, am weiblichen Körper aufgehängt, passend für alle Körperformen. Das Reformkleid bedeutete Auflehnung: eine Abrechnung mit der traditionellen Mode und mit den patriarchalen Herrschaftsstrukturen. Insofern war dieses Kleid weit mehr als eine neue Mode, es war das wahrscheinlich erste politische Kleidungsstück, das Aufbruch und die Forderung nach Befreiung inkarnierte. Emilie Flöge, Lebensgefährtin von Gustav Klimt, war eine erfolgreiche Geschäftsfrau und Bohémienne, die mit ihren beiden Schwestern sehr erfolgreich den Haute-Couture-Salon Schwestern Flöge leitete (vgl. Greiner 2014, vgl. Pallestrang 2012). Sie hatte Kontakt zu vielen Künstlern und Architekten des Jugendstils, und sie wie auch Klimt entwarfen Reformkleider, die von Frauenrechtlerinnen und Künstlerinnen begeistert aufgenommen wurden. Allerdings konnten sich diese „Schmuddelkleider“ bei den nicht künstlerisch und politisch bewegten Frauen nie durchsetzen. Dazu war dann doch die gesellschaftliche „Normal“-Realität zu stark, als dass ausgerechnet am als schön, artifiziell und normiert erzwungenen weiblichen Körper das „Sackkleid“ hätte reüssieren dürfen. Das Reformkleid war aber dennoch Ausdruck von größeren körperlichen „Befreiungsbewegungen“, und diese gerieten zu einer insgesamt – zumindest in den Kreisen der Avantgarde – bei den Künstler_innen, Innen- und Architekt_innen, Kunstgewerbler_innen/Gestalter_innen40 sich breitmachenden Euphorie der politischen und physischen (Bewegungs)Freiheit des Körpers durch Luft, Licht, Raum, fließende Formen – kurz: durch die Verflüssigung der Lebensbedingungen. Die Architekturen und Produkte des Jugendstils sind hierfür beredte Zeugen: Gegen den Pomp, die überbordende Ornamentik eines konservativen Historismus, gegen die dunklen Innenräume ohne Licht, die schweren, pokalähnlichen Gefäße, die einschnürenden Kleider erhoben sich nun filigrane, leichte, fließende Bewegungen nachzeichnende Artefakte. Und in einer allerdings nur kurz währenden Phase erprobten die Avantgardist_innen und Aussteiger_innen unerhörte Nacktheit als Naturzugewandtheit, gesundheitlich begründete Libertät ebenso wie Libertinage und die Idee der „freien Liebe“ (vgl. Andritzky/Rautenberg 1989, Voswinckel 2009, Landmann 2009, Buchholz et al. 2001)41 – und wenn die Künstlerinnen etwa auf dem Monte Verità nicht nackt herumtanzten, dann in ihren weiten kurzen und langen Hemden – dem einfachsten aller Reformkleider.
40 Offiziell gab es wahrscheinlich um 1900 noch überhaupt keine Architektinnen, da ihnen ja professionelle Ausbildungen und Studien an Technischen Hochschulen oder Baugewerkschulen sehr lange Zeit verwehrt blieben. Ulrich Büchholdt hat dazu eine aufwendig recherchierte Datensammlung vorgelegt, aus der hervorgeht, dass es womöglich mehr Architektinnen gab, die nicht unter diesem Titel firmieren konnten, bestenfalls als Kunstgewerblerinnen aufgeführt waren. (Vgl. Bücholdt.) 41 Dass diese Körperkultur-Bewegungen nicht nur emanzipatorisch, sondern in Teilen esoterisch und politisch sehr problematisch (Rückkehr zum „germanisch“ abgehärteten Körper) daherkamen, lässt sich an vielen Beispielen, insbesondere aber an der höchst ambivalenten Entwicklung der „Natürlichkeits“-Ideologie des Nudismus (FKK) belegen. Vgl. Habel 2000.
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Der gefügte Körper oder: Körperliche Besitzverhältnisse In diesem großen Körper-Kapitel haben wir uns permanent mit dem in unterschiedlichsten Formen erweiterten geschlechtlichen Körper beschäftigt. Nun aber werden wir eine zusätzliche Dimension hinzufügen, die Haraways Cyborgs diskutiert, diese aber unter einer anderen Perspektive noch einmal radikalisiert. Sowohl philosophisch als auch juristisch tauchen Fragen auf, die auf den ersten Blick bizarr wirken, auf den zweiten genaueren jedoch den Diskurs über den Körper ab heute und für die nächste Zukunft notwendig werden bestimmen müssen – und zwar unabhängig davon, ob solche Fragestellungen freudig begrüßt oder bedenklich abgewogen bzw. abgelehnt werden. Es stellt sich von nun an die Frage, ob es denn überhaupt noch Grenzen zwischen den menschlichen Körpern, künstlichen Erweiterungen durch Hilfsmittel, als Ornament und Schmuck, als Besitz oder als ausgelagerte Gehirnteile, Exobrains (vgl. Ramachandran 2010, 262), geben kann. Es ist vielleicht bezeichnend, dass es ein Mann ist, David Rose, der nicht menschliche Artefakte mit Menschen euphemistisch-unproblematisch und dementsprechend simplifiziert zusammenbringt: „(… ) the prosthetics future for technology does take into account our humanity. Prosthetics amplify our bodies, the power of all our senses, and the dexterity of our hands. It’s appealing to develop technology that keeps us more or less who we are, only more so. We already have memory and the technology gives us much, much more of it (…).The critical characteristic of technology-as-prosthetic is that it internalizes computational power. It becomes a part of us, so much so that it is us. It’s not out there, external (…).“ (Rose 2014, 23 f.) Ihm sind die computergenerierten Prothesen aller Art lediglich eine gute Strategie, das Ich zu verbessern, weil wir die Internalisierung rechnerisch erzeugter Macht offenbar gut integrierten und damit unsere Identität lediglich vervollkommneten. Rose begeistert sich für eine funk tionalistisch-instrumentelle Nachrüstung des Körpers und meint damit, ein besseres Ich, eine gelungenere Identität einer Person „machen“ zu können. Die Juristin Gowri Ramachandran und die Philosophin Alexis Nicole Dyschkant sind da, obwohl sie die gleichen Diskurse starten, wesentlich differenzierter in ihrer Argumentation. Sie lassen subjektive Bewertungen außer Acht. Stattdessen diskutieren sie die Implikationen und Konsequenzen unserer zunehmend technisch aufgeladenen Körper, die von körperlicher Integrität und dessen Grenzen über Identitätsbestimmungen bis zu rechtlichen Fragen – was ist (noch) Diebstahl, und was ist (schon) Körperverletzung – reichen. Und was diese Techniken mit dem ohnehin längst vom natürlichen zum sozialen Konstrukt erweiterten Körper anstellen, hat enorme Auswirkungen sowohl unter juristischen wie kulturellen und ethischen Aspekten. Die beiden Forscherinnen radikalisieren Haraways techno-feministische Thesen, indem sie die Frage stellen, was überhaupt zum bzw. dem Körper gehöre und was denn die Identität einer Person ausmache. Dyschkant thematisiert die Problematik mit Verweis auf Haraways Cyborgs und stellt drei alternative
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(Don’t) Do It Yourself Wer sich diese „Bachelor Pads“, wie die „Junggesellen-Buden“ im Englischen heißen, nicht leisten kann oder doch lieber der Selbstverwirklichung frönen möchte, der mutiert zum enthusiastischen Heimwerker. Das Phänomen des Selbermachens und die Liebe dazu tauchen immer mal wieder in Wellenbewegungen auf. Seit einiger Zeit scheint es wichtiger denn je zu sein; allerdings existiert zugleich eine Placebo-Aktivität, in der sich die eigene Kreativität in kompensatorischer Beobachtung des Do-it-Yourself-Prinzips erschöpft. Unzählige Fernseh- und Internetangebote führen Selbstgemachtes vor: Backen, Kochen, Stricken, Häkeln, Basteln, Bauen, Reparieren, Malen, Schneidern, Schminken, Gärtnern – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.13 In Zeiten zunehmender Unübersichtlichkeit, Technologisierung, potenzieller Enteignung von den eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten und deren Überantwortung an anonyme Maschinen und Softwares erscheint das Idealbild einer gesicherten, harmonischen Welt am Horizont, in der die Selbstverfügung über die eigenen Geschicke auch als Geschicklichkeit, Talent, Kreativität ersehnt wird. Der Wunsch nach Authentizität, das Glücksgefühl, etwas Gelungenes selbst hervorgebracht zu haben, ist eine starke Emotion. Aber offenbar reicht es schon – sei es aus Zeitrestriktion, aus Unvermögen oder mangelnder Erfahrung –, wenn besagte Sendungen geschaut und gege benenfalls die Materialien besorgt werden. Deutlich wird das bei den allseits und mittlerweile bei vielen Geschlechtern beliebten Kochsendungen und Rezepttipps, die begeistert geschaut, aber dennoch nicht selbst umgesetzt werden. Und dennoch gibt es sie, die kreativen Macher_innen. Der im Tiefsten immer noch ureigene Männertraum der Herstellung (meist eher nutzloser) Dinge mit den eigenen Händen durchs Heimwerken trägt einen höchst ideologischen Kern: die Idealisierung vergangener Zeiten, in der die Entfremdung des Menschen von seinem Produkt angeblich noch nicht erfunden worden war und das Handwerken in friedlicher und selbstzufriedener Form stattfand. Jürgen Habermas hat diese pseudoromantische Verzerrung verelendeter Verhältnisse schon 1958 gegeißelt, als er das Heimwerken eine „gesellschaftliche Fehlleistung“ nannte (Habermas 1958, 226). Heubach hat eine sehr feinteilige Analyse des Heimwerkers geliefert (der ihm – zu Recht, aber gewiss nicht reflektiert – in allein männlicher Gestalt entgegentrat) (vgl. Heubach 2002, 141–145). Seine Interpretation jedoch – und darin unterscheidet sich meine Argumentation deutlich – birgt bei aller analytischen Kompetenz ein so empathisches und positives Moment, dass ich geneigt bin, ihm Sympathien für diese merkwürdig-männerbündlerische Verschworenheit zu unterstellen. Eigentlich unverständlich, da Heubach die wesentlichen Merkmale des Heimwerkens in einer präzisen Beweisführung darlegt, die die Nutz- und Sinnlosigkeit so deutlich heraus13 Es wäre lohnend zu recherchieren, wie viele dieser Angebote und Tipps sich an welche Gender-Gruppe wenden.
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stellt bzw. die psychologischen Implikationen enthüllt: „So kann mit ihm (dem Heimwerken, d. Verf.) dinglich angeeignet werden, was tätig zu realisieren immer weniger möglich wird.“ (ebd., 142) Wichtig ist dabei die Zufriedenheit über die Ab arbeitung am Material zwecks „Herstellung von Verbindungen“ (ebd., 143), was die Person mit dem Material und dem Objekt verschmilzt. Das vielleicht bedeutsamste Phänomen, das die männliche Selbstverwirklichung vor aller weiblichen auszeichnet, ist das Prinzip, die selbstgemachten Dinge nicht fertig werden zu lassen. Immer bleibt noch etwas zu tun, was aus den Männern unerfindlichen Gründen diese Fertigstellung verhindert hat. Heubach argumentiert umfassend und erschließt damit das Kuriosum Heimwerken des Heimwerkers detailliert damit, dass „ihm (dem Werk, d. Verf.) den letzten Handgriff, seine Vollendung vorenthaltend, beläßt der Heimwerkende das von ihm hergestellte Ding sozusagen auf ihn angewiesen und versucht er, es als sein Werk und damit zugleich sich als dessen Autor kenntlich zu erhalten. In dieser Strategie des Imperfekten die Vollendung seines Werkes aussetzend, verhindert der Heimwerkende, daß es sich in ein ‚Objekt‘ verwandelt, das in seiner Perfektion die Autorenschaft und damit seine Individualität negiert, deren Veranschaulichung doch das Motiv des Sich-ins-Werk-Setzens bildete.“ (ebd., 144) Unbeschadet dieser psychologischen Obsession des Nie-fertig-Werdens gelten die Do-it-yourself-Macher als funktionale Handwerker, die Geld sparen, wenn nicht extern gefertigte Möbel gekauft und das Haus oder die Wohnung selbst umgebaut werden. Beispielhaft hat dies der Baumarkt Hornbach erkannt, dessen Slogans eindeutig den nie zu Ende gebrachten männlichen Hobby-Prozess beschreiben: „Es gibt immer was zu tun“, „Es ist in dir. Lass es raus“, „Wie viel Wahnsinn steckt in dir?“ Es ist nicht zu kühn zu behaupten, dass dem eher weiblich konnotierten Phänomen des Selbermachens die unabdingbare Vollendung der Tätigkeit eingeschrieben ist. Nicht nur, weil die Materialien, mit denen Frauen überwiegend hantieren, weiche und zum Teil verderbliche Stoffe sind (wie etwas Lebensmittel), sondern auch, weil bei ihnen die Idee, etwas nicht zu Ende Gefertigtes herumliegen zu lassen, höchstes Unbehagen auslösen dürfte. Denn die trainierte und sozialisierte Verantwortlichkeit für das Konzept einer häuslichen Ordnung schlägt habitualisiert auch auf die Hobby-Bereiche durch. Zudem eignet Frauen ein gewisser Pragmatismus, vermischt mit Stolz, gegenüber ihren Schöpfungen: Ein selbst gestrickter P ullover will auch getragen werden, und deshalb braucht es das fertige Produkt. Und schließlich haben Frauen meist keinen Heimwerker-Keller oder einen eigenen abgeschiedenen Bereich, sodass verstreute Einzelteile keine Heimat fänden, sondern lediglich Unordnung verschärften. Die amerikanische Künstlerin Lisa Anne Auerbach, die in ihren Arbeiten provokative politische Statements in ironischen Strickobjekten verpackt, setzt sich vehement und mit guten Argumenten gegen diese ganze Do-it-yourself-Kultur – sei sie männlich oder weiblich geprägt – zur Wehr. Sie begreift sie als Enteignung und Pervertierung eines einst als anti-konsumistisches, aktivistisches und ethisch kommunitäres Projekt. „Now it means going into debt at mega-stores, consuming more and more materials manufactured overseas, raping the earth, destroying forests,
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creating garbage, and mucking up our lives with badly fixed toilets, leaking tile floors, ill-fitting sweaters, bowing floorboards, crooked walls, and ugly mosaics. We are bankrupting competent carpenters. We are destroying the careers of electricians and hvac crews. Our d.i.y. travesties of home improvement leave us with closets full of under-used tools and sheds full of extra wood and steel wool and toxic chemicals and mastic and caulk.“ (Auerbach 2008) Auerbach kritisiert die Ausbeutung jener Selbstverwirklichkeits-Sehnsüchte durch Corporate Strategies großer Unternehmen. Sie begreift die unentwegte Begeisterung für lediglich dilettierendes Selber-Machen als eine „Plage“, die Professionalität ruiniert und die Hobbyist_innen mit schlechter Qualität versorgt: „A plague veiled in the ideal of empowerment is sweeping our nation, leaving in its wake neighborhoods scarred by crappy home improvement, families destroyed by badly cooked gourmet meals, and scores and heaps of barely used tools, leftover supplies, and unfinished projects.“ (ebd.)
Objekt-Erfahrung Es wurden bereits zahlreiche Beispiele genannt, dass Design mehr ist, als ein Ding herzustellen, damit es gebraucht werden kann. Aber selbst der Gebrauch mag schon strittig sein: Wer bestimmt denn, was gebraucht wird, welchem Artefakt tatsächlicher Gebrauchswert attestiert werden kann? Hinzu kommt in jedem Fall das im Design unscharf als „Anmutung“ Bezeichnete, das sich aus sehr vielen Komponenten zusammensetzt und den Gesamteindruck hervorbringt. Hartmut Esslinger, Begründer von frogdesign, hat Sullivans dogmatischen „form follows function“ in den streitbaren und viel offeneren Satz „form follows emotion“ transformiert (vgl. Sweet 1999, vgl. Brandes 1998). Menschen lieben und hassen Objekte oder finden sie langweilig, überflüssig, unpraktisch, schön, hässlich – und das gilt für alle Artefakte, auch die trivialen, täglich benutzten wie Löffel, Teller, Staubsauger usw. So haben Gefühle einen hohen Anteil an der Bewertung und, dadurch bedingt, an der Art und Häufigkeit ihres Nutzens. Und noch ein äußerst bedeutsames Moment kommt hinzu: die Erfahrung. Wie nah oder wie fern, wie bekannt oder unbekannt sind die Dinge mir? Dabei gilt: Bestimmte Arbeits- und Verantwortungsbereiche sind erfahrungsmäßig verdichtet, manchmal überdeterminiert, andere im Gegensatz dazu reduziert, nahezu unbekannt. So entwickeln sich gegenläufig unterschiedliche Kompetenzen und Fähigkeiten auf der einen, Desorientierungen und Bornierungen auf der anderen Seite. Dabei ist es unerheblich, ob den Geschlechtern diese Differenzen bewusst sind, sie sie akzeptieren oder dagegen ankämpfen. Im Design stellt sich die Frage, ob das, was unter weitgehendem Ausschluss eines Geschlechts als funktional, aufregend, sinnvoll etc. definiert wurde, genauso gestaltet und beurteilt worden wäre, wenn mehr als ein Geschlecht als Gestaltende an dem Designprozess und dessen Bewertung aktiv partizipiert hätten. Zweifellos würden Bewertungen von Macht und Ohnmacht, „Technischem“ und „Schmuckhaftem“ anders ausfallen.
280 DIE GENDER-M ACHT DER O BJEKTE
CONCLUSIO: TECHNIK ALS DEKORATION Nachdem die Analyse der nach Weiblichkeit und Männlichkeit sortierten Lebensund Arbeitsdinge augenscheinlich starke Differenzen ergab – schmückende Ornamentik gegen technisch-funktionalistisch aufgeladene Sachlichkeit, so werfe ich das hiermit deutlich wieder über den Haufen. Es stellt sich nämlich heraus, dass die Begrifflichkeiten selbst schlicht ideologisch und damit gewissermaßen tautologisch ist. Denn die als weiblich identifizierten Objekte verketten geradezu automatisch alle Dinge, die dort auftauchen, mit dem Weiblichen und vice versa die männlichen Dinge mit dem Männlichen – tautologisch eben. Zur Erklärung versuche ich mich an einer Theatermetapher, die die Artefakte als Requisiten in einem Schauspiel auf der Bühne begreift. Naturwüchsig mag sich die Bewertung der weiblichen Theaterrequisiten, die sich da eingeschlichen haben, so darstellen: Die weibliche Bühnenausstattung und die weiblichen Ding-Schauspielerinnen hätten einen Hang zum dekorativen Ornament oder sogar Kitsch. Diese Einschätzung muss allerdings sogleich als gender-stereotype Ideologie zurückgewiesen werden. Denn hier kommt lediglich die gesellschaftliche Rubrifizierung zum Tragen, die die mit Femininität assoziierten Objekte und Farben als schlichtes Dekorum diskriminiert. Wende ich diese Logik auf die männlichen Ding-Schauspieler an, würden sie unter Sammelbegriffen wie „technikaffin“ und „funktional“ gegenüber den weiblichen Rollen gewissermaßen geadelt. Funktiona lität und Technik scheinen höhere Ränge einzunehmen, weil sie so rational, vernünf tig und sinnvoll wirken; männlichen Dinge, denen die weiblichen schmückende Stichworte zutragen, damit Männlichkeit sich heldenhaft entfalten kann. Die kleinen (Ding)Schauspieler_innen und deren Requisiten, die die Geschlechter-Bühnen bevölkern, sind, so meine Schlussfolgerung, gleichermaßen als Accessoires, vielleicht als Nippes zu bezeichnen. Denn was die niedliche, kosmetische, fami liäre Ornamentik bei den Frauen, ist bei den Männern ebenfalls Dekorum: das Tech nische, angeblich Praktisch-Funktionale ist der niedliche „Kitsch“ der Maskulinität. Und so ende ich mit gründlich recherchierten Hypothesen: Die Bühnen weiblicher Schauspiele ähneln ruhigen, statischen, mit Intimität, Privatheit und Sehnsüchten nach Schönheit und – zum Teil – Niedlichkeit sowie Gemütlichkeit aufgeladenen Kammerspielen. Die männlichen Stücke suggerieren einen deutlich stärkeren Action- Charakter, die zudem technisch hochgerüstet sind; manchmal aber auch lediglich die sachlich-funktionale Arbeitswelt nachspielen – in diesem Fall sozusagen dem naturalistischen Theater nacheifern. Und beide sind gleich konventionell.
CONCLUSIO: TECHNIK ALS DEKORATION 281
100 Dollar: Bundeskanzlerin Angela Merkel (statt Benjamin Franklin)
50 Dollar: Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg (statt Ulysses S. Grant)
20 Dollar: Vogue-Chefredakteurin Anna Wintour (statt Andrew Jackson)
300 DIE GENDER-M ACHT DER O BJEKTE
10 Dollar: Medienunternehmerin Oprah Winfrey (statt Alexander Hamilton)
5 Dollar: Superheldin Wonder Woman (statt Abraham Lincoln)
2 Dollar: Oscar-Preisträgerin Penélope Cruz (statt Thomas Jefferson)
DAS PROJEKT: WOMONEY 301
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