Dieter Kienast – Die Poetik des Gartens

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Dieter Kienast Die Poetik des Gartens

Über Chaos und Ordnung in der Landschaftsarchitektur Professur für Landschaftsarchitektur ETH Zürich (Hg.)

Mit einem Vorwort von Christophe Girot (2002) und einem Kommentar von Udo Weilacher zur Neuauflage 2023

Birkhäuser


Inhalt

7 Graue Landschaften Christophe Girot 11 Zu den Texten von Dieter Kienast Thilo Folkerts Udo Weilacher 13 Bemerkungen zum ­ wohnungsnahen Freiraum

59 Zur Bedeutung von Freiräumen 67 Die Gestalt des ­öffentlichen Raumes 71 Sehnsucht nach dem Paradies 77 Über den Umgang mit dem Friedhof

19 Vom naturnahen Garten oder Von der Nutzbarkeit­der Vegetation

81 Ökologie gegen Gestalt? ­ Oder Natürlichkeit und K ­ ünstlichkeit als Programm

29 Grün im Quartier

87 Leidenschaft lässt sich nicht lehren

33 Vom Gestaltungsdiktat ­zum Naturdiktat oder ­Gärten gegen Menschen?

101 Von der Notwendigkeit ­ künstlerischer Innovation und ihrem Verhältnis zum Massengeschmack in der Landschaftsarchitektur

47 «Ein Spiel ist der Weg der ­Kinder zur ­Erkenntnis der Welt, in der sie leben und die zu ­verändern sie berufen sind.» 53 Ohne Leitbild

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113 Vom Kirchhof zum E ­ rholungsraum 121 Dieter Kienast / Günther Vogt: Die Form, der Inhalt und die Zeit


129 Zur Dichte der Stadt 133 Zwischen Poesie und ­Geschwätzigkeit 143 Der Garten als ­geistige ­­Landschaft 149 Stadtlandschaft 157 Safari oder Wo ist Madagaskar?

205 10 Thesen zur ­ Landschaftsarchitektur 211 Wider das Erstarren im Thesenhaften Udo Weilacher (2023) 227 Biografische Notiz 228 Publikationen von und über Dieter Kienast

163 Die Kultivierung der Brüche Interview mit Udo Weilacher 181 Funktion, Form und Aussage 187 Madagaskar in Zürich 191 Stadt und Natur – Garten­kultur im Spiegel der Gesellschaft 199 Die Natur der Stadt

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Zu den Texten von Dieter Kienast

Dieter Kienast war zeitlebens der Ansicht, dass es nicht genüge, gute Landschafts- und Gartenprojekte zu realisieren. Er forderte nachdrücklich die Kultivierung einer kritischen theoretischen Reflexion über die aktuellen Entwicklungen in der Landschaftsarchitektur. Als Professor für Landschaftsarchitektur verfolgte er in Forschung und Lehre das Ziel einer auch in der Theorie fundierten Erneuerung der Gartenkunst. Nirgendwo sonst verlieh er aber seiner persönlichen Auffassung von Landschaftsarchitektur so deutlichen Ausdruck wie in den zahlreichen Artikeln und Publikationen, die er seit Mitte der siebziger Jahre veröffentlichte. Die vorliegende Textsammlung, 1998 initiiert von Udo Weilacher, zusammengetragen und ausgewählt in Zusammenarbeit mit Thilo ­Folkerts, soll als eine Art theoretisches Vermächtnis das breite Spektrum der Themen widerspiegeln, mit denen sich Dieter Kienast in kritisch-konstruktiver Weise befasste. Ohne weitere Kommentare, jedoch redaktionell durchgesehen, behutsam korrigiert und soweit nötig von Überschneidungen befreit, dokumentiert diese A ­ usgabe die Entwicklung des Zürcher Landschaftsarchitekten zum treff­ sicheren Essayisten, der mit kritischen Überlegungen zum eigenen Berufsstand und prägnanten Thesen zur Zukunft der Landschaftsarchitektur immer wieder heftige, aufschlussreiche Diskussionen entfesselte. Aufgeführt in der Chronologie ihrer Veröffentlichung, erlauben die so dargebotenen Texte einen Einblick in die Entwicklung und das Selbstverständnis einer Profession, die vor etwa drei Jahrzehnten in den Sog eines veränderten Umweltbewusstseins geriet und seither nach einer neuen gestalterischen Sprache sucht. Dieter Kienast begann seinen akademischen Werdegang als Pflanzensoziologe und veröffentlichte während und nach seiner Promotion 1978 zunächst naturwissenschaftlich geprägte Beiträge, die in diesem Band nicht enthalten sind. Als sich der Landschaftsarchitekt zu Beginn der achtziger Jahre in der beruflichen Praxis wieder verstärkt planerischen und gestalterischen Fragestellungen widmete, publizierte er Projektbeschreibungen, Wettbewerbskritiken sowie theoretische Beiträge zur Landschaftsarchitektur, die in den Anfangsjahren – spürbar beeinflusst vom gesellschaftskritisch angehauchten Studium an der Gesamthochschule Kassel – noch deutlich von soziologischen Fragestellungen gefärbt waren. Kienast bezeichnete sich gern als «Altachtundsechziger» und betrachtete Soziologie, Gestaltung und Ökologie nie als konträre Standpunkte, sondern als integrale Bestandteile progressiver Garten- und Landschaftsarchitektur. Davon zeugen viele seiner fachübergreifenden A ­ ufsätze,

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Vorträge und Interviews über Ökologie, Pflanzensoziologie und Pflanzenverwendung, Kinderspiel und Qualität des städtischen Freiraumes, Friedhof und Sterbekultur, Wettbewerbswesen und L ­ ehre in der Landschaftsarchitektur. Als die Diskussion um das Verhältnis zwischen Ökologie und Gestaltung ab Mitte der achtziger Jahre in der europäischen Landschaftsarchitektur vehement zum Ausbruch kam, hinterliess sie auch in Dieter Kienasts Texten ihre Spuren: Gartenkunst und Gartenkultur sowie die Beziehung der Landschaftsarchitektur zur zeitgenössischen Kultur rückten unter Überschriften wie «Kultur oder Natur?», «Ohne Leitbild» oder «Sehnsucht nach dem Paradies» in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. In den Artikeln der frühen neunziger Jahre hingegen, etwa in «Die Form, der Inhalt und die Zeit» oder «Zur Dichte der Stadt» – teilweise in Zusammenarbeit mit seinem langjährigen Büropartner, dem Landschaftsarchitekten Günther Vogt verfasst – schlägt sich Dieter Kienasts starkes Interesse für Städtebau und Architektur nieder, welches durch seine Lehre an den Architekturfakultäten der Universität Karlsruhe und der ETH Zürich ab 1992 erst richtig entfacht wurde. Wie in keinem anderen Text dokumentiert sich jedoch die programmatische Zusammenfassung seiner Haltung so treffend wie in den «10 Thesen zur Landschaftsarchitektur», die Dieter Kienast seit 1992 mehrfach überarbeitete und anreicherte. Die 26 in diesem Buch zusammengestellten Artikel von Dieter Kienast eröffnen einen Blick hinter die Kulissen der 10 Thesen. Sie offenbaren einen reichen theoretischen Fundus, der für die Entwicklung zukünftiger Landschaftsarchitektur von weitreichender Bedeutung sein wird.

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Thilo Folkerts Udo Weilacher ETH Zürich, Professur für Landschaftsarchitektur im Januar 2002


Bemerkungen zum ­wohnungsnahen Freiraum

ZUM KONTEXT LEBENSQUALITÄT UND ­F REIRAUMPLANUNG

«Menschen schaffen sich in den Städten einen Lebensraum, aber auch ein Aus­ drucksfeld mit Tausenden von Facetten, doch rückläufig schafft diese Stadtgestalt am sozialen C ­ ha­rakter der Bewohner mit.» Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte1

Die Überbauung landwirtschaftlich genutzter Gebiete – der Verstädterungsprozess –, das tägliche und wochenendliche Verkehrschaos, der zunehmende Verbrauch natürlicher Ressourcen, die Monotonisierung unserer Arbeitswelt bewirken die allseits beklagte Verschlechterung unserer Lebensbedingungen. Diese Verschlechterung ist bereits so stark fortgeschritten, dass sich selbst Politiker ihrer angenommen haben und in wohlgeformten Reden die Beseitigung der Übelstände versprechen. Parteien aller Richtungen haben ihr Vokabular aktualisiert. Alles beherrschende Themen wie zum Beispiel Steigerung des Bruttosozialproduktes, grösserer Verdienst, schnellere Strassen sind ins zweite Glied gerückt. Heute debattiert man über Lebensqualität. Lebensqualität, die einerseits über die Arbeit, den Arbeitsplatz und anderer­seits über die «Nichtarbeitszeit», die sogenannte «freie Zeit» definiert ist. (Es ist natürlich ein Irrglaube, wenn angenommen wird, die «Nichtarbeitszeit» sei «freie Zeit», also Freizeit.2)

In diesen Ausführungen möchte ich die Arbeitswelt vernachlässigen beziehungsweise nur da betrachten, wo Arbeitsplatz und Wohnumwelt identisch sind, zum Beispiel bei Hausfrauen. Wohnumwelt – worunter ich die Wohnung sowie den der W ­ ohnung 1 Mitscherlich, A. (1965): Unwirtlichkeit unserer beziehungsweise dem Haus zugeordneten Freiraum ver- Die Städte – Anstiftung zum Unstanden wissen möchte – hat entscheidenden Einfluss auf frieden. Frankfurt am Main. die Lebensqualität, weil wir einen grossen Teil der «Nicht- 2 Lüdtke, H. (1972): Freizeit in der Industriegesellarbeitszeit» in ihr verbringen. Deshalb muss die Freiraum- schaft. Emanzipation oder planung oder Grünplanung, will sie einen wesentlichen Anpassung? Opladen. Anteil an der Verbesserung der Wohnumwelt und somit 3 Krippendorf, J. (1975): eingeschlossen der Lebensqualität leisten, sich verstärkt Die Landschaftsfresser. Bern. dem Freiraum zuwenden, der in unmittelbarer Nähe der Wohnung liegt.3 Anstelle des vor allem in der Schweiz gebräuchlichen Wortes «Grünplanung» möchte ich dabei den zutreffenderen Begriff «Freiraumplanung» verwenden. Grünplanung suggeriert doch stark, dass es dabei vorwiegend um grüne Bereiche – Wiese, Rasen, Pflanzungen – gehe, was aber keinesfalls zutrifft. Dies um so mehr, als nach der industriell bedingten Trennung zwischen Wohnen und Arbeiten gerade heute auch eine Trennung von

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Wohnen und Freizeit vorangetrieben wird. Dabei wird durch die Trennung Wohnen/Freizeit die Vermarktungsfähigkeit auch der Freizeit weiter vorangetrieben. Während vorher in den quartiereigenen Strassen, Parks oder Grünanlagen spaziert wurde, wird jetzt mit dem Auto ins Fitnesszentrum gefahren. Das Velofahren wird zum Selbstzweck; Midlife-Crisis-geplagte Herren strampeln im seidenen Renndress auf superleichten 15-Gang-Rädern durch die Gegend; der gute alte Waldlauf wird durch den Jogging-Kurs mit verbilligter Abgabe einer Jogging-Ausrüstung ersetzt. Diesen in ihrer Gesamtwirkung verhängnisvollen Abend- und Wochenend-Freizeitgewohnheiten kann tendenziell entgegengewirkt werden, wobei auch die Freiraumplanung ihren nicht unwesentlichen Teil dazu beitragen kann. Bessere Nutzungsmöglichkeiten des unmittelbaren Wohnungsfreiraumes planerisch vorzubereiten ist dringend notwendig, nicht zuletzt deshalb, weil die Qualität des unmittelbaren Wohnungsfreiraumes kontinuierlich verschlechtert worden ist und wird – es sei nur auf breitere Strassen, schmalere Trottoirs, Parkplätze anstelle von Vorgärten, Umwandlung verfügbarer Rest- und Leerflächen in unnutzbare beziehungsweise nur einseitig nutzbare Freiräume und anderes hingewiesen. Dazu kommen die stark angestiegenen Immissionen wie Lärm, SO2, Feinstaub,4 die die Nutzbarkeit des Freiraumes – selbst wenn er vorhanden ist – einschränken.

DER ALLTAG ALS PROBLEM

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Wie – so wird man fragen – müssen Freiräume denn beschaffen sein, damit sie besser genutzt werden? Nutzung muss zunächst ja weiter definiert werden: als Spazieren im Park, Betrachten der schönen Blumen oder leicht gequältes Spiel auf dem Spielplatz. Freiraum-Nutzen heisst für mich zunächst einmal den Alltag ­bewältigen, wie etwa mit den Kindern einkaufen 4 Schlatter, B. (1975): Zum Stadtklima von Zürich. gehen, der Weg zur Tramhaltestelle, das Warten aufs Dipl.-Arbeit Geogr. Inst. Univ. Tram, ­Kochen und zugleich Kinder-Beaufsichtigen, der Zürich. Mskr. Zürich; Züst, S. (1977): Die EpiphytenvegetaSchulweg, die Arbeit im Kleingarten, Kontakt mit dem tion im Raume Zürich als InNachbarn, die Beschäftigung nach Feierabend. Alltagsdikator der Umweltbelastung. Veröff. des Geobot. Inst. ETH, bewältigung heisst aber für Kinder auch spielen – im Stiftung Rübel, Heft 62. Zürich. Spiel Verwirklichung erleben, soziales Verhalten üben, Spass haben. Für einen solchen Alltag – so scheint mir – sind unsere wohnungsnahen Freiräume teilweise recht schlecht ausgestattet. Hier dominiert grösstenteils keine «Gebrauchsumgebung», sondern «Repräsentationsumgebung», woran auch wir Landschaftsarchitekten einen Schuldanteil auf uns nehmen können. Obwohl vom Landschaftsarchitekten oder Architekten nicht gewollt, wird die Umgebung zur kaum nutzbaren, «schön» gestalteten Minilandschaft, in der bestenfalls noch Kleinkinder Lust zum Spiel in den vorschriftsgemässen Sandkästen verspüren. Aber schon für Kinder ab fünf Jahren werden die Spielplätze in ihrer perfektionierten, un-


veränderbaren Ausführung langweilig. «So sitzen denn die Kinder um, auf oder in den Mülltonnen und warten auf Godot in der Szenerie des Endspiels» (Brigitte Wormbs).5 Fussballspielen ist verboten, Banden­spiele werden tunlichst unterlassen – zu sehr sind alle ­Flächen einsichtig und damit die Kinder wohlmeinenden Ratschlägen und Verhaltensmassregeln von Hauswarten oder sonstigen Erwachsenen ausgesetzt.

BEISPIEL SIEDLUNGSBAU Am Beispiel der Umgebung von Siedlungsbauten der sechziger und siebziger Jahre, wie wir sie aus der gesamten Schweiz kennen, zum Beispiel in Volketswil, Spreitenbach, Bern-Bethlehem und anderswo, sollen hier Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie der wohnungsnahe Freiraum besser genutzt und damit auch ein Beitrag zur Verbesserung der Lebens- beziehungsweise Wohnumweltqualität geleistet werden kann. Zunächst sei aber darauf hingewiesen, dass eine noch so gute Freiraumplanung das «Elend der Grünen-WiesenSiedlungen»7 natürlich nur partiell verbessern kann – zur Erinnerung seien nur Pendlerbewegungen mit all den nachteiligen Folgen, überdimensionierte Häuser mit zu vielen Wohnungen, fehlende Nachbarschaft usw. genannt. Langfristig gilt es 5 Wormbs, B. (1974): Das in den Städten – Das deshalb zusammen mit Politikern, Architekten, Stadt- Grün bürgerliche Verhältnis zur planern und Soziologen Alternativen zur Grosswohn- Natur. Sendung des WestRundfunks vom siedlung zu entwickeln und zu realisieren. Die Möglich- deutschen 22.4.1974, 3. Programm. keiten und Forderungen, die nachfolgend erläutert und 6 Holzhausen, K. (1976): diskutiert werden, können jedoch unmittelbar einge- Die vielfältigen Aussenräume der Siedlung Sonnhalde in bracht und auch verwirklicht werden. Adlikon. anthos 15 (3), S. 3–19.

B emerkungen zum ­wohnungsnahen F reiraum

Was können die Erwachsenen in diesen Freiräumen machen? Gut: beim Kinderspielplatz die Kleinkinder beaufsichtigen – und dann? Sich auf wohl plazierten Bänken ausruhen und die schöne Umgebung bewundern, vielleicht noch ein «Schwatz» mit dem Nachbarn. Und dann? Etwa «kommunizieren im Kommunikationsbereich» oder in den «neurömischen Arenen»? Treffpunkt auf der, zumindest dem Namen nach, südländischen Piazza? Ich glaube, wer in den «Grünen Siedlungen» wohnt oder solche häufig besucht hat, weiss, wie wenig die grossen Freiflächen auch genutzt werden.6

Zürich.

FORDERUNG 1

7 loor, M. (o. J.): Die grünen Kinder. Filmdrehbuch.

Beim Bau von sechs Wohnungen und mehr innerhalb einer Überbauung ist pro sechs Wohnungen ein Kleingarten (Mindestgrösse 100 m2) einzurichten. Diese Forderung müsste ebenso wie diejenige von Kinderspielplätzen in der Planungsgesetzgebung Eingang finden. Die Einrichtung

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