Ganzheitliche Lichtplanung verstehen und anwenden
BIRKHÄUSER
ULRIKE BRANDI L I C H T N AT U R A R C HI T EK T U R
Vorwort von Ian Ritchie
NATUR
Von der Natur lernen: Tageslicht verstehen und integrieren
Phänomen: Was macht den Tageshimmel hell?
Hintergrund: Das Besondere des Tageslichts
Praxiswissen: Beleuchtungsstärken, Sonnenstände, Tageslichtquotienten
Umsetzung: Tages- und Kunstlicht im Trident Park, Malta
EVOLUTION
Evolution und Innovation: Die Entwicklung des Auges
Phänomen: Wie entstehen Glanz und Glitzern?
Hintergrund: Entwicklung und Aufbau des menschlichen Auges
Praxiswissen: Beobachten, Ausprobieren und Licht entwerfen –eine Methodik
Umsetzung: Varianten eines Lichtthemas in der Elbphilharmonie
WAHRNEHMUNG
Zu gutem Licht gehören drei: Licht, Raum, Wahrnehmung
Phänomen: Wie entsteht Schatten?
Hintergrund: Das Zusammenspiel von Auge und Gehirn: neurologische und psychologische Aspekte von Wahrnehmung
Praxiswissen: Die Kunst des Hervorhebens und im Dunkeln Lassens
Umsetzung: Offene Rückzugsorte – Licht und Raum im Holocaust Memorial of Names, Amsterdam
Einleitung 7 8
Hamburg 10 12 14 16 22 24 26 27 30 34 36 38 40 43 46
KULTUR
Das Licht und nicht die Leuchte sehen Phänomen: Wie entsteht der Halo-Effekt?
Hintergrund: Wie Lichtvorlieben in den unterschiedlichen Kulturen entstehen
Praxiswissen: Den Ort achten und die Nutzer:innen hören
Umsetzung: Differenzierte Lichtabsichten für die ElbphilharmoniePlaza
NACHHALTIGKEIT
Die Kunst, die richtige Lichtquelle zu wählen
Phänomen: Wie künstliches Licht entsteht: Temperaturstrahler, Entladungslampen, chemische Lichterzeugung
Hintergrund: Nachhaltigkeit umfasst ökologische, ökonomische und soziale Themen
Praxiswissen: Wie können wir nachhaltiges Licht planen?
Umsetzung: Das Schaufenster nach draußen, Staatstheater
GESUNDHEIT
Die biologischen Wirkungen von Licht
Phänomen: Semitransparenz und Opazität – ein Lichtpingpong
Hintergrund: Wie funktioniert die innere Uhr?
Praxiswissen: Gesundes Licht zum Wohnen und Arbeiten
Umsetzung: Wie gutes Licht hilft, gesund zu bleiben –Dauerbetrieb und Schichtdienst in der Leitzentrale Elmshorn
Oldenburg
48 50 52 57 60 62 64 66 70 76 78 80 82 85 88
DUNKELHEIT
Wieviel Licht stört nicht?
Phänomen: Wie entsteht Polarlicht?
Hintergrund: Wir brauchen tagsüber Schatten und nachts Dunkelheit
Praxiswissen: Lichtverschmutzung und lauernde Gefahren: Dunkelheit mit Lichtmasterplänen gestalten
Umsetzung: Geringe Lichtemission ist Konzept: Mall of the Netherlands, Leidschendam
DYNAMIK
Lichtszenarien steuern und dimmen
Phänomen: Der farbige Himmel: Wellenlängen im weißen Sonnenlicht
Hintergrund: Warum steuert man Licht?
Praxiswissen: Lichtszenen, Schaltkreise und Steuerungstabellen: eine Spielwiese für Technikbegeisterte
Umsetzung: Der Himmel fährt mit: Tageslichtstimmungen im ICE 4 der Deutschen Bahn
KOMPOSITION
Die Mischung macht’s
Phänomen: Absorption, Reflexion und Transmission
Hintergrund: Abwechslung regt an. Nach welchem Licht sehnen wir uns?
Praxiswissen: Welche Lichtinstrumente haben wir?
Umsetzung: Multifunktional wie in einem Wohnzimmer: das Licht in der Centraal Station, Rotterdam
90 92 94 99 104 106 108 110 112 116 118 120 122 126 128
ATMOSPHÄRE, MAGIE
Das Immaterielle spürbar machen
Phänomen: Ausbreitung des Lichts in Zeit und Raum
Hintergrund: Magie – Wenn Raum und Licht und Gefühl im Einklang sind
Praxiswissen: Geborgenheit, Neugier, Ruhe: Lichtkonzepte und kollektive emotionale Grunderfahrungen
Umsetzung: Zwei Pole der Atmosphäre, Royal Academy of Music, London
Dank Glossar Ulrike Brandi Werkverzeichnis Literatur 142 144 156 158 159 130 132 135 137 140
Vorwort
Stets waren Philosophen, Wissenschaftler und Künstler bestrebt, unseren Geist von dem Schleier, der ihn umgibt, zu befreien und dadurch die Welt zu erhellen. Der durch dichte, dunkle Wolken brechende Sonnenstrahl ist eine gefühlvolle Metapher dafür, wie unser Wissen über die Jahrhunderte mit Momenten brillanter Erkenntnis tanzte.
Die Dioptrik, eine reizvolle herrliche Wissenschaft, erlaubt uns, die Zukunft auf dem Weg des Infinitesimalen, also des unendlich Kleinen, zu erkunden. Gleichzeitig schauen wir weiter als je zuvor durch das segmentierte „Auge“ des James-Webb-Weltraumsteleskops in die Vergangenheit und beobachten das sich ausdehnende Weltall.
Wir entdecken diese Welt hier – und jene da draußen – durch das Licht, und es ist Licht, das die stimmigen Atmosphären unseres Seelenlebens, von den 480 Nanometern (Wellenlänge) des Morgenhimmels, der unseren Biorhythmus steuert, bis zum romantischen Candlelightdinner, herbeizaubert.
Was aber ist mit der Dunkelheit selbst, ohne die man vom Licht nicht sprechen kann? Sie lässt all unsere anderen Sinne hervortreten und uns zugleich innehalten — um nachzudenken, um zu schlafen. Sie erinnert uns, dass unsere Körper nicht einfach nur funktionieren, um „sehend“ unseren Weg durch die Welt zu gehen.
Wir haben unsere physische Umwelt so weit illuminiert, dass es heute fast unmöglich ist, Dunkelheit im Freien zu erfahren. Wir haben den Kosmos aus den Augen verloren, unsere Rotation darin, unsere Bewegung durch ihn hindurch, und vielleicht in mancherlei Hinsicht auch uns selbst.
Der Kosmos ist ganz Dunkelheit, erleuchtet von Funken flackernden Lichts: dem Sternenstaub. Staub, der unsichtbar in der Luft ist, bis ihn ein Dämmerungsstrahl oder ein Lichtbündel zu einem theatralischen Leuchtereignis werden lässt.
Ich kann noch immer mit einer Kerze auf dem Tisch schreiben oder zeichnen und in ihrer Flamme den tanzenden Bewegungen der Luft zuschauen. Brauchen wir also immer dreihundert statische Kerzen?
Homo sapiens hat Umweltkrisen herbeigeführt, nun ist Zeit für sapientia. Vielleicht müssen wir lernen aufzuhören, so viel zu machen, und mehr zu träumen, lieber ein wenig länger im Zwielicht zu verweilen, um Dunkelheit und Licht mehr zu schätzen, uns selbst neu wahrzunehmen und Einsichten zu gewinnen, die uns helfen, unsere künftige Lebenswelt gesünder zu gestalten.
Ian Ritchie 2022
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Am besten lernen lässt sich vom natürlichen Licht. Die Lichtphänomene der Natur umgeben uns so selbstverständlich, dass sie oft gar nicht bewusst wahrgenommen werden. Es sind wenige grundlegende Prinzipien, die einzeln oder in Kombination miteinander die Atmosphäre schaffen.
Lichtplanung ist Gestaltung unserer Lebenswelt. Sie geschieht nicht losgelöst von gesellschaftlichen und ökologischen Zusammenhängen, und ich möchte deshalb die aktuelle Bedeutung von Lichtplanung hervorheben: Die Welt mit Licht schön und abwechslungsreich zu gestalten, ist mit einem behütenden Umgang mit unserem Planeten erstaunlich gut vereinbar. Aus diesem Grund stehen die dafür wichtigen Themen Natur, Evolution, Wahrnehmung, Kultur, Nachhaltigkeit, Gesundheit, Dunkelheit, Dynamik, Komposition und Ästhetik/Magie in zehn Kapiteln dicht verwoben zusammen.
Meine hier formulierte Systematik zur Lichtplanung bringt die Multidisziplinarität des Fachgebiets zum Ausdruck: Auch die Gesamt-Planungsteams in Architektur und Städtebau arbeiten längst interdisziplinär an den komplexen Bauaufgaben unserer Zeit, und ich mache immer wieder die Erfahrung, dass eine kluge Lichtplanung in diesen Teams einen konkreten Beitrag dazu leisten kann, die heraufziehende Klimakatastrophe abzuwenden.
Mich begeistern außerdem die Denkmodelle der Physik, die versuchen, Erklärungen auf wenige grundsätzliche Regeln zu reduzieren. Es macht mir Freude zu zeigen, dass so variantenreiche Lichtatmosphären aus einem einfachen Baukasten weniger physikalischer Gesetze erzeugt werden können. Die chemischen Elemente, die im Periodensystem in wunderbare Ordnung gebracht sind, reichten als Bausteine ja auch für die Millionen organischer und anorganischer Stoffe aus. So ähnlich ist es mit dem Licht.
Das Tageslicht als Akteur und Maßstab eröffnet das gemeinsame Verständnis von lichttechnischen Zusammenhängen, von gestalterischen Prinzipien und Freiheiten. Die Evolution des Auges, der bewusste Blick auf das Licht selbst, Nachhaltigkeit durch optimales Tageslicht im Gebäude, humanzentriertes Licht, die Balance zwischen Licht und Dunkelheit in der Nacht und intelligente Lichtsteuerungen – all diese Themen bestimmen die Profession der Lichtdesigner:innen. Dafür biete ich Strategien an, die dazu anregen, vielfältige Lichtarten zu schönen Kompositionen zusammenzufügen und auf diese Art Atmosphäre und im besten Fall eine Poesie des Lichts entstehen zu lassen.
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Einleitung
Jedes der zehn Hauptthemen beginnt mit der Gegenüberstellung einer natürlichen Lichtsituation und der Umsetzung in einem meiner Projekte, für das dieses Lichtprinzip der Ideengeber war. Dazu beschreibe ich die entsprechenden physikalischen Phänomene und biete Hintergrund- und Praxiswissen zu den jeweiligen Themenschwerpunkten. Ich kombiniere dabei neue Erkenntnisse anderer Disziplinen wie der Neurologie, Medizin, Biologie und des Umweltschutzes mit unmittelbar für die Planung nützlichen Informationen. Diese Struktur erlaubt es, das Buch nicht nur Seite für Seite zu lesen, sondern bei Bedarf auch nur einen Strang zu verfolgen, bestimmte Zusammenhänge oder praktische Tipps einfach nur nachzuschlagen und natürlich auch die Fotografien auf die Wirkung des Lichts hin genauer zu betrachten. In jedem Fall ist es mein Wunsch, allen Lichtinteressierten Inspiration für Entwürfe und Anregungen zum Weiterlesen und Ausprobieren zu geben.
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EVOLUTION
Evolution und Innovation: Die Entwicklung des Auges
Natur + Leben = Evolution
Die Evolution ist Vorbild für unsere Lichtplanungsprozesse. Spielerisch neue Erfindungen mit Licht zu machen, bedeutet, neue Entwürfe zu kreieren. Die Evolution des Auges zeigt, wie das System Lebewesen mit Licht interagiert. Pflanzen nutzen Licht anders
als Tiere: Die Aufnahmesysteme für Licht haben sich in der Evolution sehr unterschiedlich entwickelt.
Für die Anwendung lernen wir, wie das Auge funktioniert. Für unsere Planungsmethodik verstehen wir, dass das Ausprobieren für Innovationen unerlässlich ist.
Regentropfen auf einem Gingkoblatt fokussieren das Himmelslicht.
Die Kugelleuchten im Großen Saal der Elbphilharmonie Hamburg strahlen in brillantem Licht.
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Wie entstehen Glanz und Glitzern?
Lichtbrechung, Glitzern, Lichtstrahlen in der Wasserlinse
Wassertropfen, Glas, Linsen fokussieren auftreffende Lichtstrahlen, weil diese ihre Richtung an der Grenze zwischen dem dichteren und dem weniger dichten Medium ändern. So entsteht brillantes Licht. Die Wassertropfen auf dem Gingkoblatt sammeln das Sonnenlicht so, dass es unsere Augen gebündelt erreicht.
Lichtbrechung in dickwandigen Glaskugeln, Brillanz vor heller Fläche
Die 1300 mundgeblasenen Kugeln in der Elbphilharmonie sind im Gegensatz zum Wassertropfen zwar hohl, haben aber so unregelmäßig dicke Wandstärken, dass sie wie Linsen das Licht des darüber liegenden Downlights brechen und es funkelnd in verschiedene Richtungen werfen. Es trifft entweder direkt in unsere Augen und wirkt brillant, oder es fällt erst auf Decke und Wände und erhellt diese.1
— Strahlengang bei mehrfacher Totalreflexion innerhalb von Wassertropfen und die daraus resultierende Lichtreflexion
— Lichtbrechung in einer dicken Glaskugelwandung und Totalreflexion am Übergang zwischen Luft und Glas
EVOLUTION / PHÄNOMEN
Entwicklung und Aufbau des menschlichen Auges
Die Evolution des Auges zeigt, welche komplexen Fähigkeiten des Auges sich im Laufe der Zeit entwickelten und wie sie sich von denen anderer Lebewesen unterscheiden. Das hilft uns, um unsere Planungen vor einem weiteren Horizont fein auf die jeweiligen Sensoren abzustimmen.
Drei Arten von Augen haben sich im Laufe der Evolution entwickelt:
» das „Kameraauge“ mit einer Linse,
» das „Komplexauge“ mit der Addition vieler einzelner Lichtsensoren und
» das „Spiegelauge“, bestehend aus Reflektoren und Fotorezeptoren. 2
Die
Entwicklung des menschlichen Auges
Vor 600 Millionen Jahren entstanden erste Fotorezeptoren; das Sehpigment-Protein Opsin ordnete sich auf der ganzen Körperoberfläche als Augenflecken an. Daraufhin entstanden Fotorezeptoren mit Außenmembranen, gefolgt von ersten Synapsen zur Signalübertragung in das Gehirn.
Die Netzhaut war noch nicht in der Lage, ein Bild zu erzeugen, es gab nur eine lichtdurchlässige Außenhaut. Im mittleren Kambrium entstanden verschiedene neue Fotorezeptorzellen: Zapfen, Bipolarzellen und Ganglienzellen. Vor 500 Millionen Jahren entstanden Linsen, die zur Akkommodation fähig waren: mit einer Iris und der damit einhergehenden Veränderung der Pupille. Danach bildeten sich Muskeln, um Augenbewegungen zu ermöglichen. Die Biomembran Myelin machte das Signal schneller und Rhodopsin ermöglichte die Entwicklung der Stäbchen, der Rezeptoren für sehr schwaches Licht. Das Auge leistete ab jetzt die Adaptation, die Anpassung an die Dunkelheit. 200 Millionen Jahre später verschwanden diese letzteren Fotorezeptoren für nachtaktive Wirbeltiere wieder. 3
Die Abbildung auf der nächsten Seite zeigt das menschliche Auge im Schnitt. Als die Landwirbeltiere vor 430 Millionen Jahren entstanden, passte sich ihre Augenlinse an den Brechungsindex zwischen Luft und Linsenmaterial an; gleichzeitig entwickelte sich das Augenlid. Das Sehvermögen verschiedener Lebewesen ist verwandt und gleichzeitig verschieden. Wir wissen, wie unterschiedlich sich die Augen von Wirbeltieren und Menschen entsprechend ihren Lebensbedingungen entwickelten. In der Lichtplanung spielt nicht nur das Wissen über die menschliche Sehfähigkeit, sondern auch über diejenige von Tieren eine Rolle: Wenn Vögel bestimmte Wellenlängen des weißen Lichtes kaum wahrnehmen, können wir Menschen im Außenbereich Lichtquellen einsetzen, die die Tiere durch nächtliches Licht weniger stören.
EVOLUTION / HINTERGRUND 27
Das Licht und nicht die Leuchte sehen
Wahrnehmung + Menschengemachtes = Kultur
Der Begriff „Kultur“ weist hier auf Sehgewohnheiten hin, die sich kulturell entwickelt haben. In der europäischen Kultur sehen Menschen eher das Objekthafte, Messbare, und sie neigen dazu, das „immaterielle“
Licht zu übersehen. In der Lichtplanung beurteilen viele zuerst die schöne Leuchte und nicht das schöne Licht, das im Raum herrscht. Gesellschaftliche Gepflogenheiten prägen unseren Umgang mit Licht. In weiten Teilen der Welt konnte ich die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zwischen vielen Kulturen kennenlernen, um dieses Spektrum an Möglichkeiten dann in Lichtplanungen zu integrieren.
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KULTUR
— Der Halo-Effekt um die Sonne — Die Kugelleuchten der Elbphilharmonie Hamburg werfen einen Halo-Effekt auf die Decke der Plaza.
Ausdrucksformen und Materialien all dem entsprechen. Sie entscheiden über den Rhythmus und die Proportionen der Räume, die Lichtplanung kann diese überhöhen oder nivellieren. Wenn Raumhöhen relativ niedrig sind, kann indirektes Licht die Räume optisch höher ziehen. In der Grande Galerie des Naturhistorischen Museums in Paris nutzten Architekt und Lichtplanerin den Wechsel verschiedener Raumhöhen dramaturgisch: Die Besucher:innen gehen von der hellen verglasten Eingangshalle durch einen niedrigen, bewusst dunkel gehaltenen Zwischenbereich in die imposante hohe Halle mit ihren Galerien, dem Herzstück der Ausstellung. Licht integrieren heißt manchmal auch, Leuchten in Decken und Wände einzubauen, sodass die Leuchten nicht zu sehen sind. In anderen Lichtprojekten bedeutet Licht integrieren, sichtbare Lichtquellen zurückhaltend wirken zu lassen und keine Aufmerksamkeit zu beanspruchen, damit sie die Räume selbstverständlich und natürlich beleuchten.
Den Bauherr:innen und Nutzer:innen zuhören
Sie kennen den Alltag und das Leben in ihrer Berufspraxis oder ihrer Wohnumgebung und verfolgen bestimmte Ziele mit dem Neu- oder Umbau. Schlechte Erfahrungen mit Licht und Lichtsteuerungen in früheren Gebäuden geben klare Hinweise, was besser geplant werden soll. Lichtplaner:innen können nicht alle Abläufe in spezifischen Gebäuden kennen; es hilft deshalb, Nutzer in ihren „Vorgängerhäusern“ zu besuchen. Um in diesem Diskurs Missverständnisse zu vermeiden, ist es sinnvoll, Planungsvoraussetzungen schriftlich festzuhalten und möglichst vor der Entwurfsplanung freigeben zu lassen. Die rechts stehende „Liste der Anforderungen seitens der Bauherrschaft“ sammelt die auftretenden Fragen. Sie wird jeweils angepasst, begleitet den Lauf des gesamten Projekts und hilft so, eventuell abweichende Entscheidungen bewusst zu treffen und zugleich das übergeordnete Ziel strukturiert zu verfolgen.
Um sie in Gesprächen festzulegen, empfiehlt es sich, sie raumweise abzufragen, rechts das Beispiel für ein Bürogebäude.
Mit einer klaren Planungskultur Freiräume schaffen
In der Praxis stehen oft andere Erfolge im Mittelpunkt eines Lichtplanungsauftrags. Jedes Projekt, in dem Bauherr:innen und ihre Planungsteams mehr als eine nur funktionierende Beleuchtungsanlage wünschen, birgt die Chance auf etwas Neues. Leider meinen wir oft, uns fehle die Zeit für eine gründliche Konzeption; wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorgaben scheinen uns zu treiben. Auch haben sich die Leistungsbilder von Lichtplaner:innen und anderen Planenden im Laufe der letzten Jahrzehnte stark geändert – wegen immer komplexer werdender Anforderungen an Gebäude und ihr Licht, wegen aufwendigerer Planungs- und Abstimmungsprozesse, größerer Planungsteams und wegen der Digitalisierung der Planungstools. Lichtberechnungsprogramme bieten eine hohe Präzision, doch auch die Wirkungsgradmethode, bestehend aus einer Formel, verschiedenen Faktoren und einigen Konstanten, ist ein relativ einfaches Verfahren zur Berechnung guter Ergebnisse. Diese zu beherrschen, stärkt die Kompetenz von jungen Lichtplaner:innen in ihrer täglichen Arbeit.
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↗ Planungsvoraussetzungen Anforderungen seitens der Bauherrschaft
Beleuchtungsstärken Lichtsteuerung in den einzelnen Räumen/Bereichen Art der Steuerung: Dimmbarkeit der Leuchten, Lichtszenen möglich?
Umweltnachweise/Energiezertifikate, wenn ja, welche?
Welche Nachhaltigkeits- und Qualitätsstandards empfehle ich der Bauherr:innenschaft über übliche technische Regelwerke hinaus?
Gibt es ein Design Manual des Unternehmens? Weitere Normen und andere Standards der Bauherr:in Brandschutzanforderungen
↗ Planungsvoraussetzungen Bürogebäude
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Raumbezeichnung Mittlere Beleuchtungsstärke in lx Gleichmäßigkeit UGR Besondere Anforderungen / Bemerkung nach Vorgabe DIN EN Empfehlung UBL EG Eingangshalle Foyer 100 200-300 0,4 22 Empfangstheke 300 300 0,6 22 Kantine 200 200 0,4 22 Aufzugsvorraum 200 200 0,4 25 1. bis 6. OG Büro 500 500 0,6 19 Einzel-/Doppelbüros, Open Space-Arbeitsplatz 500lx, Umgebung 300lx Konferenzraum 500 500 0,6 19 Pausenraum 100 200-300 0,4 22 Flure 100 100 0,4 25 Treppen 100 100 0,4 25
NACHHALTIGKEIT
Die Kunst, die richtige Lichtquelle zu wählen
Kultur + Rücksichtnahme = Nachhaltigkeit
Nachhaltigkeit findet statt, wenn Kultur mit Rücksichtnahme einhergeht. Was ist nachhaltige Lichtplanung? Sie beinhaltet ökologische, ökonomische und soziale Aspekte und beginnt mit dem großzügigen und optimalen Einsatz von Tageslicht.
— Rotglühende Lava am Fagradalsfjall in Island
— Die Theaterbar des Oldenburgischen Staatstheaters leuchtet in die Stadt hinaus.
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GESUNDHEIT
Die biologischen Wirkungen von Licht
Nachhaltigkeit + Medizin = Gesundheit
Die WHO definiert Gesundheit als „einen Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen.“1 Wir betrachten in diesem Kapitel visuelle und nicht-visuelle Wirkungen von Licht auf die Gesundheit der Menschen und erklären den zirkadianen Rhythmus und die natürlichen und technischen Möglichkeiten, diesen zu unterstützen. An der Kooperativen Leitzentrale Elmshorn zeige ich, welche positiven Effekte Architekt:innen und Lichtplaner:innen durch eine Raum- und Lichtplanung mit ausgewogenen Anteilen von Tages- und Kunstlicht erzielen können.
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— „Komorebi“ ist das japanische Wort für Sonnenlicht, das durch Blätter schimmert. — Die Kooperative Regionalleitzentrale Elmshorn ist lichtdurchflutet. Trapez Architekten, Hamburg
DUNKELHEIT
Wieviel Licht stört nicht?
Gesundheit + Rhythmus = Dark Sky
Der Wechsel von intensiver Helligkeit tags und angemessener Dunkelheit nachts ist für die menschliche Gesundheit wichtig. Dies gilt auch für Pflanzen und Tiere jeweils auf ihre Art. Vom Weltall aus sehen wir die massiven Lichtmengen, die wir Menschen nachts produzieren. Was aus der Ferne so schön aussieht, verwehrt uns den Blick ins All. Wir machen Licht, um mehr zu sehen, aber wir sehen immer weniger: Eines der schönsten Naturphänomene, der Sternenhimmel, geht uns verloren. Ich zeige, welche lichttechnischen Prinzipien helfen und welche Gratwanderung zwischen dem Bedürfnis nach Orientierung und öffentlicher Sicherheit einerseits und dem Bedürfnis nach Dunkelheit andererseits zu gehen ist.
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— Das Polarlicht über Tromso in Norwegen verändert sich subtil.
— Die Fassade der Westfield Mall of the Netherlands, Leidschendam wirkt wie ein im Wind wehender Schal.
Die Mischung macht’s
Dynamik + Verbindung der Bausteine = Komposition
Ob nun Tageslicht- oder Kunstlichtplanungen: Lichtprojekte beginnen mit der Analyse des Tageslichts, das im Gebäude oder im Außenraum wirkt. Aus ihr und aus den Besonderheiten von Architektur, Ort und Nutzungen entwickeln wir das Konzept für das Kunstlicht, das durchaus ähnliche Stimmungen wie Tageslicht erzeugen kann. Licht orientiert in Raum und Zeit, es gliedert in Bereiche und Abschnitte, es erfrischt, macht wach, beruhigt und akzentuiert, wenn die verschiedenen Lichtelemente gut miteinander komponiert sind.
KOMPOSITION 119 — Morgenhimmel in St.
— In der Bahnsteighalle der
Atmosphäre.
Pauli
Rotterdam Centraal Station herrscht eine lichte
ATMOSPHÄRE, MAGIE
Das Immaterielle spürbar machen
Komposition + Träume = Atmosphäre, Magie
Die Zusammenarbeit zwischen Bauherr:innen, Architekturschaffenden, Fachplaner:innen und Handwerker:innen wird nicht nur resilient gegen anstrengende Einflüsse von außen, sondern vor allem lebendig und erfolgreich, wenn das Team eine gemeinsame Vision verfolgt. Auch die Lichtplanung bringt ihrerseits Leichtigkeit und die Freiheiten eines immateriellen Planungsgegenstands ins Projekt ein. Das Licht hat einen großen Einfluss auf die Schönheit des Entwurfs. Gemeinsame Neugier, Staunen, Träume wahr werden zu lassen und scheinbar Unmögliches zu denken: so entstehen neue, einzigartige Orte.
— Sternenhimmel über der Wüste von Utah
— Im Susie Sainsbury Theatre der Royal Academy of Music, London, strahlt statt eines Kronleuchters ein raumgreifender Sternenhimmel.
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Ulrike Brandi
Lebenslauf
Ulrike Brandi, Geschäftsführerin Ulrike Brandi Licht GmbH Designerin, Dipl. Des.
Geb. 1957 in Bad Bevensen, Deutschland, lebt in Hamburg
1984 – 1988
Studium Industrial Design an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, Diplom bei Dieter Rams
1987
Gründung: Ulrike Brandi Licht Lichtplanung und Leuchtenentwicklung
1995-1996
Lehrauftrag FH Düsseldorf, FB Architektur - Innenarchitektur
1996
Umwandlung des Büros in eine GmbH, Inhaberin und alleinige Geschäftsführerin
1998-1999
Gastprofessur an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig im FB Industrial Design
2013
Gründung: Brandi Institute for Light and Design
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Impressum
Lektorat: Ulrich Schmidt
Projektkoordination: Baharak Tajbakhsh
Herstellung: Anja Haering
Layout, Covergestaltung und Satz: Uta Oettel
Lithografie: Repromayer GmbH, Reutlingen
Druck: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe
Papier: Magno Natural, 120 g/m²
Library of Congress Control Number: 2022949697
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
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ISBN 978-3-0356-2408-3
e-ISBN (PDF) 978-3-0356-2417-5
Englische Print-ISBN 978-3-0356-2415-1
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