Material design german edition

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Thomas Schröpfer

Thomas Schröpfer Material Design

Experten aus Architektur, Landschafts­architektur und verwandten Disziplinen vermitteln in diesem Buch den Stand der Dinge und Entwicklungstendenzen der Entwurfsarbeit mit innovativen Materialien. Methoden des Beobachtens, Spekulierens und Experimentierens weisen den Weg zu Anwendungen avancierter Materialtechnologien, die hier systematisch und detailliert dargestellt werden:

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Materialität in der Architektur

www.birkhauser.com

Zusammenfügung Verbindungen und Anschlüsse Weben Modulation Ephemere Phänomene Reaktive Materialien Materialisierungen der Nanotechnologie Kodierung

Materialität in der Architektur

Entwerfen mit innovativen Materialien

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Thomas SchrĂśpfer

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Material Design Materialität in der Architektur

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Mit einem Vorwort von Erwin Viray

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und Beitr채gen von James Carpenter Justin Fowler Sheila Kennedy Elizabeth Lovett Liat Margolis Toshiko Mori Nader Tehrani Peter Yeadon

Birkh채user Basel

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Layout, Covergestaltung und Satz: Yoshiki Waterhouse, Cambridge / New York Übersetzung der Beiträgertexte: Thomas Schröpfer unter Mitwirkung von Johannes Kohnle, Cambridge Redaktion: Andreas Müller, Berlin Wir danken der Harvard University Graduate School of Design für die großzügige Unterstützung dieser Publikation. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Buch ist auch in englischer Sprache erschienen (ISBN 978-3-0346-0035-4). © 2011 Birkhäuser GmbH Basel Postfach 133, CH-4010 Basel, Schweiz Ein Unternehmen von ActarBirkhäuser Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Spain ISBN 978-3-0346-0034-7 987654321 www.birkhauser.com

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Inhalt

Warum Material Design? Vorwort von Erwin Viray

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Der alternative Ansatz: Beobachten, Spekulieren, Experimentieren Thomas Schröpfer

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Der Zusammenhang von Entwurf und Material Materialstudien in der Praxis Neue Materialien: Die Rolle der Architekten Kultur und handwerkliche Qualität Technologie, Repräsentation, Kommunikation Inhärenter Ausdruck: Ein umfassenderes Verständnis der Potenziale von Materialien Maßstabslose Entwurfsund Materialprozesse Anmerkungen

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Eine schwierige Synthese Nader Tehrani

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Einführung: Sprache und Überschuss Ein Fachgebiet auf der Suche nach einem Medium Jenseits des Papiers: Rückgewinnung materialbezogener Handlungsfähigkeit Vorgaben, Beschränkungen und Intentionen Digitale Forschung Die Kunst des Verdeckens Performance und ihre Dilemmas Eine schwierige Synthese Anmerkungen

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Zusammenfügung Nader Tehrani und Justin Fowler

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Tektonik Das architektonische Gebilde: Konstellationen von Teil und Ganzem Musterfindung und das Problem der Ecke Zwei- und dreidimensionale Muster Fazit

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Verbindungen und Anschlüsse Thomas Schröpfer und Elizabeth Lovett

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Modulation: Transformation durch 88 Formgebung und Strukturierung Thomas Schröpfer

Die Rolle der Detaillierung im Entwurfsprozess Struktur und Form architektonischer Verbindungen Komplexitätsgrade von Verbindungstechniken in den USA und Japan Grenzen der Darstellung: Utzon und Gehry Anmerkungen

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Modulation modulieren Modulation des Geformten Modulation des Gestaltlosen Von der Technik zur Architektur Anmerkungen

88 94 97 102 105 106

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Das Einfangen des Ephemeren James Carpenter Volumetrisches Licht Latenz Das Erweitern der Grenze zwischen innen und außen Transparenz, Reflexion, Refraktion Reaktive Flächen Anbindung an natürliche Vorgänge

106 108 111

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Weben: Die Tektonik von Textilien 76 Toshiko Mori Die Webtechnik Eine neue Auffassung der Oberfläche Innovationen und Anwendungen technischer Textilien Technologietransfer: Vom Bootskörper zur Architektur Anmerkungen

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Reaktive Materialien Sheila Kennedy

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Neue Materialien, neue Modelle der Praxis Hybridmaterialien Entwerfen mit der vierten Dimension Die Macht der Vielen Reaktive Systeme: Potenziale für neue Praktiken des Umweltbezugs Grenzen erweitern Interaktive Medien: Innovative Entwurfsstrategien für die Umwelt Anmerkungen

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Materialisierungen der Nanotechnologie in der Architektur Peter Yeadon

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Vier innovative Ansätze für Nanotechnologie in der Architektur Nachahmung natürlicher Prozesse Anwendungen in der Praxis Experimentelle Studien Visionäre Projekte Anmerkungen

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Kodierung: Digitale und analoge Taxonavigation Liat Margolis

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Neusein Gattung: Unklassifizierbar Materialsammlungen Analog Digital 1:1 Anmerkungen

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Die Zukunft von Material Design Thomas Schröpfer

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Materialtechnologien Entwurfsmethoden Problemlösung als Konzept: Risiken und Chancen Anmerkungen

164 171 181 185

Anhang Über den Autor und die Beiträger Namenregister Sachregister Bildnachweis

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Der alternative Ansatz Beobachten, Spekulieren, Experimentieren

Renzo Piano Building Workshop in Zusammenarbeit mit FXFOWLE Architects, New York Times Building, New York, New York, USA, 2007, Detail Ansicht.

Thomas Schröpfer

Architekten haben nur selten die Möglichkeit, unmittelbar mit den Objekten ihrer Entwürfe umzugehen. Während andere Künstler direkt mit Materialien arbeiten, tun Architekten das abstrakt. Sie stellen sie dar und entscheiden über die Art und Weise ihrer Verwendung, aber sie mauern normalerweise keine Wände. Doch alle wahrnehmbaren Qualitäten, welche Architekten in ihren Entwürfen zu vermitteln versuchen, hängen letzlich von deren Manifestation in gebauter Form ab. Der Entwurf kann diese Materialeigenschaften unterstreichen, er setzt ihnen aber auch Grenzen. Wie sehr Architekten auch versuchen, in ihren Entwürfen zu abstrahieren und sich von konkreten Fragen nach Materialien zu distanzieren, sind es letztlich doch diese, durch die sich die architektonische Idee darstellt. Ein sensibles Materialverständnis vermittelt deshalb immer mehr als nur die Umsetzung von Entwurfsideen durch die Mittel des Bauenden. Es ermöglicht sowohl neue Interpretationen der Verhältnisse der Teile zum Ganzen als auch das Herstellen neuer Gesamtbeziehungen, organisatorischer Zusammenhänge und phänomenologischer Effekte. Ein sensibler Umgang mit Materialien in verschiedenen Maßstäben, vom Architekturdetail bis zum Städtebau, vermag deshalb auch immer ein zeitgemäßes Verständnis unserer gebauten Umwelt in Bezug auf ihre Komponenten und deren Verbindung zu vermitteln.

Materialentwicklung basieren. Beobachtung, Spekulation und Experiment als Vorgehensweise können Entwerfern ihre Intentionen im Umgang mit Materialien bewusst machen und auf diese Weise die Entwürfe befördern. Eine solche Herangehensweise vermag die Grenzen zu erweitern, wie eine Idee gebaut werden kann, und sie kann der Auseinandersetzung mit Materialfragen eine ganz neue Wendung geben. Eine Unterscheidung in Theorie und Praxis der Materialien ist damit nicht mehr sinnvoll, wenn sie es denn je war.

Im Diskurs der Architektur waren Fragen nach der Rolle von Materialien oftmals mit solchen nach dem Verhältnis der Gesamtform zur Tektonik verbunden. Soll die Materialverwendung einer übergeordneten formalen Idee unterworfen werden oder einer den Materialien innewohnenden „Natur“ folgen? Besonders in Zeiten großer technologischer Fortschritte und rasanter Materialentwicklungen wird diese Rolle hinterfragt. In einer solchen Zeit befinden wir uns heute. Doch anstatt sich auf unfruchtbare Auseinandersetzungen einzulassen und sich auf eines der Lager festzulegen, verfolgt das vorliegende Buch einen alternativen Ansatz des Verhältnisses von Architektur und Material. Durch die unmittelbare Erfahrung und den direkten Blick auf Materialien und ihre Eigenschaften können Entwerfer neue Einsichten in Bezug auf deren formale, konzeptionelle und expressive Potenziale gewinnen. Die direkte Auseinandersetzung mit Materialien weist den Weg zu ihrer gezielten Verwendung. Der Leitgedanke ist die je einzigartige Kombination aus dem Potenzial des Materials und der Intention des Entwurfs. Damit kann der architektonische Diskurs über die veraltete Opposition zwischen Form und tektonischem Aufbau ebenso hinausgeführt werden wie über modische Trends, welche auf der jeweils aktuellen 10

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Pei Cobb Freed & Partners, John Hancock Tower, Boston, Massachusetts, USA, 1976, Ansicht.

Der Zusammenhang von Entwurf und Material Weder Stein noch Glas besitzen irgendeine Essenz oder „Wahrheit“, noch ist das ein oder andere Material besonders zeitgemäß. Alles beruht auf der Art und Weise, wie Materialien geformt und transformiert werden, wie sie werden, was sie zuvor nicht waren, wie sie über sich hinaus gehen. – David Leatherbarrow1 Die Positionen von Architekten zum Material sind immer auch eine Reflexion ihrer Wahrnehmung der Welt und ihres Platzes darin. Ihre Positionen sollten mit Bedacht entwickelt werden. Oftmals ändern sie sich im Lauf der Zeit, indem sich die Beziehung des Entwerfers zu einem bestimmten Material weiterentwickelt. Dies geht nicht notwendigerweise auf das Material selbst zurück, sondern kann andere gesellschaftliche Wahrnehmungen betreffen und in einem Material ein abstraktes Konzept widerspiegeln, welches in gebaute Form übersetzt wird. Material hat die Fähigkeit, konzeptionelle Bedeutung sowohl zu vermitteln als auch in sich aufzunehmen. Ein bloßes Katalogisieren von Materialprodukten und ihren Anwendungen kann daher der Rolle von Material in der Umsetzung entwerferischer Ideen nicht gerecht werden. In seinem Essay „Material Matters“ beschreibt David Leatherbarrow, wie das Studium von Material im urbanen Maßstab eine Schlüsselstellung für unser Stadtverständnis jenseits der Kategorien von Geschichte und Zukunft einnimmt.2 Mit der Wahl eines Materials bezieht der Entwerfer Position, und ebenso mit der Art und Weise, wie es verarbeitet wird, um einer bestimmten gestalterischen Absicht zu genügen. Jean Nouvel nennt in einem Vortrag von 1998, den Leatherbarrow anführt, die Materialwahl des Architekten als Beispiel für sein umfassenderes Verständnis der Gesellschaft. Nouvel spricht sich darin für ein „non-image“ aus, für den Verzicht auf Bildhaftigkeit zugunsten einer Kontinuität zwischen gebauter und natürlicher Umwelt. Für ihn ist das Material Glas immateriell und dazu geeignet, zuvor unüberwindliche Grenzen aufzulösen. Neue Herstellungstechniken ermöglichen größere Spannweiten und den Einsatz großer Glasflächen. Für Nouvel sind sie ein Beleg dafür, dass eine Auflösung von Grenzen auch auf gesellschaftlicher Ebene gewünscht ist. Glas ist ein gutes Beispiel für diese Art von Materialverständnis, da seine Verwendung umfassende phänomenologische Effekte ermöglicht. Die Transparenz des Materials basiert dabei sowohl auf der Art, wie es dem Licht ausgesetzt ist, in welchem Winkel es verbaut wird, als auch auf der Methode seiner Herstellung. 12

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Renzo Piano Building Workshop in Zusammenarbeit mit FXFOWLE Architects, New York Times Building, Detail Schnitt.

Die Materialität oder Immaterialität von Glas hängt von vielen Faktoren ab, beginnend mit der ihm zugrunde liegenden chemischen Zusammensetzung, der Art und Weise seiner Installation, und letztlich der Umweltsituation zu dem Zeitpunkt, an dem es wahrgenommen wird. Obwohl Glas bereits seit der Bronzezeit bekannt ist, haben die Probleme bei Produktion, Transport und in puncto Zerbrechlichkeit dazu geführt, dass es für die Architektur bis zum 19. Jahrhundert nicht großflächig zum Einsatz kam. Das änderte sich erst durch den umfassenden Einsatz von Eisen als Baumaterial. Joseph Paxtons berühmte Ausstellungshalle wurde zu einem wegweisenden Projekt für die flüchtigen Qualitäten von Glas. Die Entwicklung von Floatglas im Jahr 1959 führte zu einer großen Produktionssteigerung. Parallel zum immer großflächigeren Einsatz des Materials in der Architektur wurden auch seine Eigenschaften verbessert. Es gelang unter anderem, Glas weniger zerbrechlich und mehr oder weniger reflektierend herzustellen. Die Transparenz von Glas ist vielleicht die Qualität, welche Architekten am meisten fasziniert: Sie sehen in ihr Klarheit, Offenheit und Wahrheit verkörpert. Transparenz hat heute einen fast polemischen Charakter und verleiht dem Material seine als modern, demokratisch und fortschrittlich wahrgenommenen Qualitäten. Der konzeptionelle Wunsch nach einer transparenten Stadt wird nirgends deutlicher als in Mies van der Rohes Entwürfen für ein Glashochhaus in Berlin. Sie wurden vielfach publiziert und zum Leitbild für viele folgende Bauten, obwohl sich die Realisierung als sehr problematisch erwies.3 Mies argumentierte, dass Mauerwerk, welches typischerweise bei Hochhäusern seiner Zeit zum Einsatz kam, eine unpassende Materialwahl sei, da es Schwere und Lastabtragung suggeriere. Wenn man dagegen Glas für die nicht tragenden Wände verwende, werde dadurch das Tragverhalten dieser Gebäude klar. Die Verwendung von Glas erzwinge daher neue Lösungen.4 Das Glashochhaus stellte sich auch als alles andere als transparent heraus. Glas als Material für Vorhangfassaden reflektiert sehr stark. Kein Architekt hat das besser verstanden als Harry Cobb, der Architekt des John Hancock Tower in Boston. Cobb verstärkte die Reflexion des Gebäudes durch seine Form so, dass es verschwindet – nicht durch Transparenz, sondern durch starke Reflexion. Die blaue Färbung des Glases ermöglicht einen direkten Übergang zum umgebenden Himmel, während das klare Profil des Gebäudes zugleich sein Volumen betont (Abb. S. 12).

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Renzo Piano Building Workshop in Zusammenarbeit mit FXFOWLE Architects, New York Times Building, Grundriss Erdgeschoss.

Renzo Piano Building Workshop in Zusammenarbeit mit FXFOWLE Architects, New York Times Building, Details Fassade.

Materialstudien in der Praxis Mit seinem Entwurf für das neue New York Times Building stellte sich auch Renzo Piano der Herausforderung eines transparenten Hochhauses (Abb. S. 11, 13-16). Der Projektarchitekt Erik Volz beschreibt die Intentionen des Entwurfs wie folgt: „Hochhäuser sind oftmals Symbole von Arroganz und Macht. Mit dem Gebäude für die New York Times wollten wir dem mit einem leichten, zurückhaltenden und gut zugänglichen Gebäude entgegentreten.”5 Dem Bauherrn war wichtig, dass das Gebäude Eigenschaften verkörpern würde, für die das Unternehmen steht. Die ethischen Implikationen eines transparenten Raumes, der zugleich die Bedingungen des Umfeldes widerspiegelt, stimmen mit den Zielen des Medienunternehmens überein. Der metaphorische Zusammenhang von Transparenz mit Aufrichtigkeit und Offenheit und einer unmittelbaren Widerspiegelung der Stadt macht das New York Times Building zu einem gebauten Symbol für die Zeitung. Dies hing natürlich voll und ganz von der baulichen Umsetzung der phänomenologischen Effekte von Transparenz und Reflexion ab. Das Architektenteam des Renzo Piano Building Workshop (RPBW) schlug für das Gebäude eine bislang ungetestete Kombination aus Klarglas und vorgehängten Lamellenschirmen als Fassade vor. Die Lamellen bestehen aus weißen keramischen Röhren, sogenannten „Baguettes“, welche von Aluminiumrahmen gehalten werden. Das Team entschied sich aufgrund der besonderen Materialeigenschaften für diese Kombination. Renzo Piano selbst hat über die Jahre eine besondere Vorliebe für das Material entwickelt. Volz kommentiert: „… die Verwendung von Keramik hat eine besondere Tradition in unserem Büro. Renzo mag die Vorstellung von der im Himmel hängenden gebrannten Erde.“6 Sowohl die ungleichmäßige Form und Textur als auch die besonderen Qualitäten bezüglich Reflexion seien entscheidend für die Materialwahl gewesen. Obwohl das Büro über ausreichende Erfahrung im Umgang mit Keramik verfügte, wurden verschiedene kleinere Testmodelle gebaut, gefolgt von einem Teil der Fassade in Originalgröße, um die gewünschte Balance von Reflexion und Transparenz sicherzustellen. Trotz des Erfahrungshintergrunds mit dem Material bedingten die Anforderungen an die Fassade weitere Tests. Die Röhren mussten sowohl die statischen Anforderungen erfüllen als auch solche bezüglich Wasseraufnahme und Frostwiderstand.7 Während einer Reise nach Deutschland fielen dem Bauherrn Keramikrollen auf, die für Abwasserrohre in Brennöfen verwendet werden. Die Fähigkeit dieses Materials, einer Hitze zu widerstehen, die andere Materialien explodieren oder 14

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Renzo Piano Building Workshop in Zusammenarbeit mit FXFOWLE Architects, New York Times Building, Ansicht von S端dwest.

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Renzo Piano Building Workshop in Zusammenarbeit mit FXFOWLE Architects, New York Times Building, Teilisometrie Dach.

Shigeru Ban Architects, Carta Möbel aus Papierrollen, 1999.

schmelzen lässt, führte zu weiteren Untersuchungen. Die letztlich zum Einsatz gekommenen Röhren sind eine Adaption der ursprünglichen Rollen. Das Architektenteam arbeitete dafür eng mit einem Hersteller zusammen, welcher letztlich 196.000 Keramikröhren aus einem hochwertigen Aluminiumsilikat für das New York Times Building produzierte.8 Diese direkte Zusammenarbeit ermöglichte es den Architekten auch, das Material mit allen geforderten Eigenschaften zu einem finanzierbaren Preis zu produzieren. Nachdem RPBW das Konzept einer Glasund-Keramik-„Baguette“-Fassade entwickelt hatte, bedurfte es gemeinsamer Anstrengungen mit FXFOWLE Architects, dem Entwurfspartner von RPBW, und dem Team des Bauherrn (der New York Times und dem Projektentwickler Forest City Ratner), um das bislang kaum für Bauten verwendete und im Maßstab eines solchen Hochhauses ungetestete Material zum Einsatz zu bringen. Das Team aus Bauherren und Entwerfern sah sich mit einem Problem konfrontiert, welches oftmals auftritt, wenn ein Material auf neue Art verwendet wird: Nur wenige Baufirmen sind bereit, das Risiko einzugehen, mit ungewöhnlichen Materialien zu arbeiten, ohne die Kosten deutlich zu erhöhen. Die Kostenschätzung lag aufgrund der unbekannten Gebäudekomponenten jenseits dessen, was für den Bauherrn akzeptabel war. Die Lösung des Problems bestand darin, das typische Bieterverfahren für den Fassadenhersteller zu umgehen. Die New York Times und Forest City Ratner beauftragten vier Fassadenhersteller, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach am Bieterverfahren für das Projekt beteiligt hätten, mit der Entwicklung einer Außenwandkomponente. Die 152,40 x 411,48 cm große Komponente hatte die gewünschten Anforderungen für die Keramikröhren und die Fenster zu erfüllen. Allen vier Firmen war es letztlich möglich, die Komponente zu einem erschwinglichen Preis herzustellen. Nachdem viele der den Kostenschätzungen zugrunde liegenden Unbekannten geklärt worden waren, fielen die Gebote auf ein finanziell realisierbares Niveau.9 Obwohl der innovative Einsatz von Material in der Architektur häufig auf individuellen Studien beruht, basierte die Umsetzung im Fall des New York Times Building auf der Fähigkeit des Teams, Entwurf und Entwicklung außerhalb der etablierten Projektverantwortlichkeiten voranzubringen. In der Praxis müssen Architekten und Projektentwickler mit den erhältlichen Baukomponenten unzufrieden sein, damit der Wille entsteht, in die Entwicklung neuer Komponenten zu investieren. Besonders wichtig wird die aktive Beteiligung von Architekten dann, wenn Neuentwicklungen aus den Materialwissenschaften auf mögliche Anwendungen in der Architektur hin zu prüfen sind. 16

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Shigeru Ban Architects, Japanischer Pavillon. Explosionsaxonometrie.

Shigeru Ban Architects, Japanischer Pavillon, Expo 2000, Hannover, Deutschland, 2000, Ansicht und Innenraum.

Ein anderer Architekt mit einer lebenslangen Passion für Materialstudien ist Shigeru Ban. Während Renzo Piano versucht, traditionelle Baumaterialien auf neue Art einzusetzen, entdeckte Ban ein normalerweise nicht in der Architektur eingesetztes Material fast zufällig und war fasziniert von dessen Potenzial. Seine Studien zu Papierrollen begannen früh und folgten aus seiner Abneigung gegen das Entsorgen von Restmaterial (Abb. S. 16). Daraus entstand eine Reihe erfolgreicher Projekte, wie der japanische Pavillon für die Expo 2000 in Hannover (Abb.). Ban begann seine Experimente mit Papierrollen, nachdem er sie während einer Ausstellungsinstallation entdeckt hatte. Sein Ziel war es, so ökonomisch wie möglich mit Material umzugehen. Statt die Papierrollen zu entsorgen, nahm er sie mit zurück in sein Büro. 1986 war es ihm möglich, das Material erfolgreich in einer Ausstellung zu Ehren von Alvar Aaltos Einrichtungsarbeiten einzusetzen. Ban versuchte mit der Ausstellung, die Essenz von Aaltos Techniken und Ästhetik einzufangen, konnte aber mit dem begrenzten Budget nicht jene Hölzer einsetzen, welche Aalto für seine Arbeiten verwendete. Außerdem wollte Ban kein so haltbares Material für eine temporäre Ausstellung einsetzen. Statt der Hölzer verwendete er Papierrollen aus recyceltem Material, die nach Ende der Ausstellung wiederum recycelt werden konnten. Studien des Potenzials von Papierrollen und seine Suche nach immer neuen Möglichkeiten, das Material ökonomisch einzusetzen, begleiteten fortan seine Arbeit.10 Bans Faszination geht dabei über das reine Experimentieren mit einem bestimmten Material hinaus. Sie beruht auf einem umfassenderen Interesse an nachhaltigen Baumethoden und an dem Beitrag von Architekten zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. Seine Experimente blieben nicht vereinzelt, bauherren- oder projektspezifisch, sondern sie wurden Ausdruck eines Bestrebens, Papierrollen in den Katalog der Baumaterialien einzuführen. Nach bescheidenen Anfängen in Ausstellungsarchitektur und Möbeldesign gelang es Ban zu zeigen, dass Papierrollen für den Bau von Ausstellungshallen und Notunterkünften eingesetzt werden können. Bans erste Experimente für die Aalto-Ausstellung im Museum of Modern Art in New York führten ihn in eine Fabrik für Papierrollen. Dort konnte er sehen, wie diese aus recyceltem Material hergestellt werden, dass sie in jeder gewünschten Länge und Stärke, jedem gewünschten Durchmesser produziert werden können und dass sie darüber hinaus preisgünstig sind. Nachdem sie nicht-tragend eingesetzt worden waren, kam das Interesse an ihrem potenziellen tragenden Einsatz. Drei Jahre später reichte Ban einen Entwurf für eine Ausstellung in Hiroshima ein, der 17

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Eine schwierige Synthese

Office dA, Voromuro, Boston, Massachusetts, USA, 2007, Detail.

Nader Tehrani

Einführung: Sprache und Überschuss In der Architektur können alle Materialisierungen als Ergebnis einer bestimmten Form von Überschuss verstanden werden. Sie bilden ein Übermaß, das nicht als negative Seite missverstanden werden darf, das vielmehr als ein Mehrwert einen wesentlichen Bestandteil des tektonischen Denkens ausmacht. Denn alle Arten von Architektur bewältigen die technischen und kommunikativen Anforderungen in der Weise eines künstlichen Eingriffs, nicht durch Rückgriff auf naturgegebene Tatsachen. Deshalb können selbst die technischsten der baulichen Anforderungen selten, wenn überhaupt, ein eindeutig bestimmtes Endresultat vorgeben. Selbst sie führen über jegliche Möglichkeit eines strukturellen, funktionalen oder formalen Determinismus hinaus. Teil des Reizes klassizistischer Referenzen in der Architektur ist die systematische Natur der Klassik als einer Sprache mit ihren ausgeprägten Beziehungen der Einzelteile zum Ganzen und zu ihrer Zeit auf einer Art Gesellschaftsvertrag beruhend: ein System aus Konstruktion und Kommunikation, das sich auf viele Weise ansprechen und handhaben ließ, von der Prosa zur Poetik, von der Nutzung bis zum Missbrauch.1 Aus diesem Grund erzählen die Launen der klassischen Formensprache, ihre Details und ihre Fügungen von den Konventionen und deren Überschreitungen in den Idealen des Andrea Palladio oder den Ketzereien des Giulio Romano. Mit dem kulturellen Wandel des letzten Jahrhunderts hat der Klassizismus seine Autorität verloren; die Moderne und wohl auch die Postmoderne brachten eine Heterogenität und kulturelle Vielfalt mit sich, die keine Vormachtstellung, wie sie der Klassizismus einst genoss, mehr erlaubten. Damit einher ging auch der Verlust der Sozialordnung, auf der nicht nur die Architekturdetails basierten, sondern auch deren Lesbarkeit gründete. Trotz dieses historischen Wandels weist das Detail in der zeitgenössischen Architektur immer noch am besten den Weg durch die aktuellen Debatten. Es verweist auf die Dilemmas und unsere kulturelle Lage. Doch ohne die monokulare Linse des Klassizismus müssen wir mehrere Blickwinkel einnehmen, um bestimmte Beziehungen sichtbar zu machen, die sonst durch die Indifferenz des herrschenden Relativismus unterzugehen drohen. Diese Einführung versucht einige dieser Beziehungen und der um sie geführten Auseinandersetzungen, Argumente und Debatten darzulegen.

In der Vielfalt an formalen Projekten, theoretischen Plattformen und kulturellen Unterschieden lässt sich am Thema der „Performance“ ein erneutes Verlangen nach vermeintlicher Gewissheit ablesen. Der Performancebegriff leistet Ersatz für den früheren Funktionalismusbegriff und soll als vieldeutiger Überbegriff die Antwort auf eine Reihe kultureller Phänomene darstellen, zu denen auch das große Thema der ökologischen Zerstörung gehört. Performance verheißt Erlösung von architektonischen Eitelkeiten, sie eliminiert das experimentelle Spiel – und rechtfertigt es doch zugleich. Denn im Kontext beispiellosen technischen Fortschritts kann sich am Performancebegriff eine neue technische Kultur entwickeln, die das Mittel der Quantifizierung einsetzt, um dem Streben nach gestalterischer Innovation seine Rechtfertigung zu geben. Gleichzeitig richtet sich ein neues Interesse auf Themen wie das Ornament, wo Fragen der Ethik gegen Fragen der Performance gestellt werden und die Produktion von (nicht quantifizierbaren) Affekten das Maß für die formalen Spielzüge der Architektur abgibt. Ein Fachgebiet auf der Suche nach einem Medium Obwohl die Widersprüche zwischen den technischen Mandaten und den Ausdrucksformen der Architektur nicht zu übersehen sind, muss der Ausgangspunkt dieser Darstellung bei den Techniken liegen, welche die unterschiedlichen Fachrichtungen, Gewerke, Bau- und Subunternehmer kennzeichnen. In der unendlichen Vielzahl von Details und Prozessen – Nutund-Zapfen-Verbindung im Holzbau, die Lochnaht beim Stahl, die Stoßverbindung bei Glas, der geschichtete Verband beim Mauerwerk, das SOSS-Scharnier für Paneele oder die Textilschalung für Beton – liegen die Rahmenbedingungen der Mittel, Methoden und Wirkungen einer jeden Architektur. Es gehört zu den Ironien unserer Zeit, dass Planungsverträge beispielsweise in den USA den Architekten für das Entwurfskonzept verantwortlich halten, während der Bauunternehmer für die Mittel und Methoden der Konstruktion zuständig ist. Diese rechtliche Regelung etabliert eine Gegnerschaft zwischen beiden, sie trennt den Architekten von genau jenen Techniken, die das Budget, den Umfang und die Ausführung mitbestimmen, und distanziert gleichzeitig die Bauunternehmer von den konzeptionellen, theoretischen und organisatorischen Grundlagen des Entwurfskonzepts, kurz, mit einem einfachen Hieb entmannt sie den Architekten als Baumeister und enthirnt den Bauunternehmer. Um dies zu überwinden, müsste die Zuständigkeit der Architekten für die Mittel und Methoden des Bauprozesses neu gedacht werden, nicht nur in praktischer Hinsicht, sondern auch als Plattform für neue Wechselwirkungen zwischen Idee 34

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Weben Die Tektonik von Textilien

Toshiko Mori Architect, Treppe für ein Haus in Casey Key, Florida, USA, gebaut von Goetz Custom Boats, 2004, Ansicht.

Toshiko Mori

Die Erforschung von Materialien verlangt ein ganzheitliches und umfassendes Verständnis von Materialkultur. Materialstudien können auf zwei grundsätzliche Weisen betrieben werden: erfahrungsbezogen und technikbezogen. Der Erfahrung bieten Textilien differenzierte und nuancenreiche Eigenschaften, die nur schwer zu messen und zu beschreiben sind, doch in ihrer Wirkung sehr kraftvoll sein können. Textur, Muster und Taktilität bergen große Potenziale, emotionale Reaktionen hervorzurufen. Textilien können Erinnerungen und Assoziationen in sich tragen, die das Empfindungsvermögen durch Geschmeidigkeit, Nahbarkeit und Textur ansprechen. Fabrikationstechniken als der zweite Zugangsweg bestimmen, wie ein Material aufbereitet, verarbeitet und schließlich zu einem bestimmten Zweck angewendet werden kann, so dass die einzelnen Bestandteile in ein vollständiges Ganzes mit einer spezifischen Gebrauchsaufgabe verwandelt werden. Durch die Arbeit mit den tektonischen Eigenschaften von Textilien lernt man nicht nur eine beeindruckende Vielzahl von Methoden und Anwendungen kennen, sondern auch das Potenzial einer scheinbar primitiven Technik, die als eine bedeutende Materialtechnologie des 21. Jahrhunderts hervortritt. Die Tektonik der Textilproduktion ist mit Methoden wie dem Weben, Stricken, Knüpfen, Flechten, Schichten, Laminieren, Filzen, Säumen, Absteppen, Nähen, Sticken und Flicken befasst. Dies sind Techniken, die oft mit Handwerksarbeiten insbesondere von Frauen in Verbindung gebracht werden, die traditionelle Kenntnisse und Fertigkeiten von Generation zu Generation weitergeben. Textilherstellung kann bis in die antiken Welten Ägyptens und Mesopotamiens zurückverfolgt werden und ist universell präsent. Jede Kultur und Zivilisation entwickelt ihre eigenen Formen, Materialien und Farbpaletten entsprechend ihrer Geografie, ihres Klimas und der Verfügbarkeit von Materialien. Man nimmt an, dass im alten Peru Textilien als Kommunikationsund Aufzeichnungsmedium verwendet wurden, um Nachrichten zu übermitteln und Geschichten festzuhalten. Die Verbreitung der Textilherstellung über Kulturen und Zeit hinweg ist sicher der Vertrautheit mit diesen Techniken und ihrer Verfügbarkeit geschuldet. Sie können von unterschiedlichen Schichten der Bevölkerung praktiziert werden, von Jungen und Alten, Männern und Frauen, von den Schwachen und den Starken. Diese alte, primitive, traditionelle Technik macht nun den Sprung in die fortgeschrittensten und vielseitigsten Fabrikationsmethoden. Methoden der Produktion von herkömmlicher Kleidung oder Fischernetzen werden heute zur Herstellung von Hochleistungsprodukten verwendet, von professioneller Sportausstattung bis hin zu Hightech-Medizingeräten, von

militärischer Ausrüstung bis hin zu Werkzeugen der Weltraumforschung. Innovative Textilprodukte und -anwendungen lassen ein weitreichendes Zukunftspotenzial von Textilien und Textiltektonik in den unterschiedlichsten Industrien vermuten. Neue Formen und Prozesse kontinuierlicher Entwicklung und Innovation haben weitreichende Konsequenzen in ihrer Anwendung in der Architektur. Die Tektonik von Textilien lässt sich auf zwei Wegen erkunden, die hier beide dargestellt werden sollen. Der eine befasst sich mit der Schaffung neuer Oberflächen mit Textilien, der andere entwickelt ausgehend von den Eigenschaften und Konzepten der Tektonik von Textilien eine neue Auffassung der Architektur. Die Webtechnik Der Prozess der Textilherstellung gehört zu den wenigen Techniken, die drei Produktionsarten umfassen: Handarbeit, mechanische und digitale Fertigung. Die Übersetzung der handarbeitlichen Arbeitsweise in die mechanische Fertigung geschieht intuitiv und vorhersehbar. Der Sprung in die digitale Produktion wirft dann einen interessanten Blick auf die ursprüngliche Struktur des Webens, welche überraschend kompatibel mit digitalen Prozessen ist. Weben ist ein binärer Prozess, darin elektronischen Schaltungen ähnlich, bei dem Webkette und Schussfaden die fundamentale Struktur der Technik ausmachen. Tatsächlich dienten einige der frühen Muster-Lochkarten des Jacquardwebstuhls als Vorbild für die ersten FORTRAN-Lochkarten zur Computerprogrammierung. Auch Programmierprozesse sind dem Mustergestaltungsprozess beim Weben nicht unähnlich, beide teilen dieselbe mathematische Grundlage. Traditionelle Weber müssen das präzise Verhältnis zwischen dem flächigen Muster und der linearen Dimension des Garns verstehen. Sie müssen Kette und Schuss andauernd in der Struktur in ein Gleichgewicht bringen, um ein stabiles Gewebe zu erzeugen. Die Zusammenführung dieses ebenso intuitiven wie präzisen handwerklichen Wissens und Erfahrungsschatzes mit der Rechnerlogik und das damit einsetzende exponentielle Wachstum der Textilfabrikation führte schnell zur Entwicklung von Hochleistungsmaterialien. So erlaubte die Ähnlichkeit in den Sprachen des Webens und der digitalen Prozesse einen Sprung aus der mechanischen in die digitale Produktion. In der neuen Generation von Textilien ist der Herstellungsprozess präziser, die Komposition ist kalkulierter, und die Einsatzmöglichkeiten sind enorm. Mit diesen verschiedenen Produktionsmethoden bietet die Textilherstellung eine hervorragende Flexibilität in Bezug auf 76

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Das Einfangen des Ephemeren James Carpenter James Carpenter Design Associates, Refracted Light Field, Salt Lake Courthouse, Salt Lake City, Utah, USA, 2003-2011. Die extrudierten Glasröhren mit prismatischen Innenprofilen sammeln und konzentrieren das Umgebungslicht und geben es wieder, während sie zugleich die Sicht und Reflexionen ablenken.

James Carpenter Design Associates, Refracted Light Field. Das Feld von Glaszylindern mit prismatischen Innenprofilen konzentriert Licht in seinen vertikalen Kannelierungen und verteilt es horizontal. James Carpenter Design Associates, 7 World Trade Center, New York, New York, USA, 2006, Podiums- und Vorhangfassade.

Der Versuch, das Ephemere in der Architektur einzufangen, scheint auf den ersten Blick keine Beziehung zu Materialien zu haben, und doch existieren alle Phänomene, einschließlich der hier behandelten Lichtphänomene, nur in der materiellen Welt. Lichtphänomene sind für uns mit der sorgfältigen Beobachtung der materiellen Welt verbunden. In gewisser Weise betrachten wir die Materialien der natürlichen Welt als untrennbar von den Lichtphänomenen – Wolken, die Farben des Himmels, einen Regenbogen. Lichtphänomene begleiten jeden Schritt, den wir tun – es sind die Ablenkungen unserer urbanen Umwelt, die unsere Fähigkeiten einschränken, diese wahrzunehmen. Dabei hat die gebaute Umwelt das Potenzial, uns die natürliche wahrnehmen zu lassen, und der sensible Einsatz von Materialien kann unsere Fähigkeit, das Ephemere umfassender zu erfahren, erweitern. Um dies zu erreichen, haben wir einen Ansatz entwickelt, mit dem unsere Beobachtungen des Ephemeren in die gebaute Umwelt übertragen werden können. Dieser Ansatz basiert auf über 40 Jahren Erfahrung, angefangen mit künstlerischen Arbeiten mit dem Medium Glas, über Filminstallationen und Lichtphänomene, um dann mit Materialforschern und Herstellern und schließlich mit Ingenieuren und Architekten zusammenzuarbeiten, so dass wir heute die ganze Bandbreite unserer interdisziplinären Erfahrungen auf Architekturprojekte anwenden können. Das Fachgebiet des Künstlers basiert auf Beobachtung, und diese erzählt uns von der Welt, in der wir leben. Volumetrisches Licht Licht ist mit der Besonderheit seines Ortes verbunden. Es beinhaltet einen Großteil der „Information“ über unsere unmittelbare Umgebung. Jeder Moment flüchtigen Lichts trägt zu unseren bewussten und unbewussten Beobachtungen bei. Wenn Licht mit der materiellen Welt in Wechselwirkung tritt, wird es sichtbar. Im Zusammenspiel mit jedwedem Material transportiert es die Information, die unsere unmittelbare Umgebung definiert. Wir versuchen, diese Beobachtungen durch die Erforschung von Materialien im Allgemeinen und Glas im Speziellen zu synthetisieren und dann diese Synthese in einem Maßstab oder Zusammenhang wiederzugeben, der uns nicht vertraut ist und dadurch die Lichtphänomene in eine beobachtbare Erfahrung verwandelt. Dem architektonischen Entwurf nähern wir uns auf dem Weg über die „Architektur“ von volumetrischem Licht. In den

Materialeigenschaften von Glas liegt das größte Potenzial zur Erzeugung volumetrischer Lichtqualitäten. Licht erscheint simultan auf zahlreichen Oberflächen, so dass eine räumliche Tiefe entsteht. Dies ist ein Schlüsselkonzept: Die Sensibilisierung der Oberflächen für Licht ermöglicht dem Betrachter eine neue Lesart der Besonderheit seines Ortes. Zentral für diese Auffassung ist die Idee des reaktiven Feldes – Beobachtung, die Synthese der Beobachtung und das Testen von Materialien und Ideen führen zu einem Verständnis davon, auf welche Weise Glas und andere Materialien die ursprüngliche Beobachtung verkörpern können. Wir verstehen Materialien jenseits ihrer typischen Position auf der für Architekten verfügbaren Palette. Wir erforschen sie, um Eigenschaften auf die Spur zu kommen, die nur flüchtig in der Natur beobachtet werden können und die eine einzigartige Verbindung mit ihrem Ort definieren. Dank der unterschiedlichen Charakteristiken dieser Materialien können Oberflächen optisch durchlässig und dimensional flexibel wirken. Das Verständnis der Eigenschaften von Glas ist im Allgemeinen immer noch sehr begrenzt. Viele Materialien bestehen aus Glas, wie bestimmte Metalle, Keramiken und Polymere. Ein Fenster ist für viele das A und O von Glas, obwohl doch Glas ein Zustand ist, in dem sich viele Materialien befinden können – eine unterkühlte Flüssigkeit, deren Elemente lokalisierte und unstetige strukturelle Felder dynamischer Heterogenität ausbilden. Seine veränderbaren Eigenschaften sind ein Fenster zu einer Welt unbeschränkter Möglichkeiten. Transparenz ist nur eine von zahlreichen Eigenschaften, welche Glas als Material zur Verfügung stehen. So können zum Beispiel lichtempfindliche Gläser als latent erinnerungsfähig beschrieben werden. Information kann im Glas durch die Belichtung mit bestimmten Wellenlängen aufgezeichnet und in Reaktion auf bestimmte Temperaturen sichtbar werden, während das Glas ansonsten transparent bleibt. Glas ist ein sehr formbares Material, aber leider bestimmt der Hersteller seine Eigenschaften und der Entwerfer hat im Normalfall nur sehr wenige Möglichkeiten, das Material jenseits der vom Hersteller gemachten Vorgaben zu beeinflussen. Wir haben aber die Möglichkeit, eng mit den Herstellern zusammenzuarbeiten, um Glas speziell für unsere Zwecke zu entwickeln. Diese besondere Herangehensweise an Materialien eröffnet für die Architektur eine Reihe von neuen Möglichkeiten. Was bedeutet es beispielsweise, mit einem Material zu arbeiten, das generell als eine unterkühlte Flüssigkeit oder ein nicht-kristalliner, 106

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Hajime Tanaka, Glasübergang und -stauung in einem bewegten granularen System.

Takeshi Kawasaki, Takeaki Araki und Hajime Tanaka, Glasübergang in einem polydispersen kolloidalen System.

fester Werkstoff bezeichnet wird? Was bedeutet es, dass dieses Material druckfest und wie ein Feststoff handhabbar ist, wenn es doch molekular besser als Flüssigkeit beschrieben werden kann? Die bloße Definition von Glas war und ist noch immer ein Forschungsthema in den Wissenschaften. Wir wissen, dass es den glasartigen Zustand bei vielen Materialien gibt, bei Metallen, Keramiken, Kunststoffen und kolloidalen Lösungen. Der in diesem Zusammenhang verwendete Ausdruck des „Stauens“ basiert auf sehr dicht gepackten Molekülen, welche mit zunehmender Dichte sich so weit verlangsamen, dass sie als Festkörper wahrgenommen werden, ohne die mit Festkörpern üblicherweise assoziierte organisierte Struktur aufzuweisen. Im Bereich der Physik, der sich mit granularen Materialien beschäftigt, haben Forscher wie Sidney Nagel, Heinrich Jaeger und Hajime Tanaka diese Vorstellungen in Modelle übersetzt (Abb.). Latenz Eine andere besondere Qualität von Glas und anderen konzeptionell faszinierenden Materialien ist Latenz. Der Begriff wird im Zusammenhang mit auf Licht reagierendem oder lichtempfindlichem Glas verwendet. Glas ist aus chemischen Elementen aufgebaut, die kombiniert und in eine Lösung verwandelt werden. Unter Zuführung bestimmter Metalle wie Silberhalogenid, Goldchlorid, Manganoxid oder Selenoxid, alles Metalle, die historisch bei der Herstellung von lichtempfindlichem Papier zur Verwendung kamen, und bei der darauf folgenden Verbindung mit anderen Chemikalien wie Fluoriden erscheint das resultierende Material als gewöhnliches Glas, es hat jedoch die Eigenschaft, durch Licht beeinflussbar zu sein. Dies kann so direkt geschehen wie durch die Entwicklung eines Fotos im Glas, doch ist dabei interessant, dass das Bild in drei Dimensionen existiert, da es die gesamte Tiefe des Glases einnimmt. Die Verwendung bestimmter Chemikalien erlaubt es, selektiv Teile des Glases bestimmten Wellenlängen auszusetzen, was im Glas zur Abbildung von komplexen dreidimensionalen Formen führt. Bei der Herstellung von Glas im Brennofen verschmilzt man Chemikalien miteinander, um das Glas zu formen und danach abzukühlen. Bei Raumtemperatur wird das Material ultravioletten oder infraroten Lasern oder durch ein Fotonegativ hindurch dem Sonnenlicht ausgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt trägt das Glas sein latentes „Erinnerungsvermögen“ in sich. Es erscheint klar, aber sobald es wieder erhitzt wird und Temperaturen nahe dem Schmelzpunkt erreicht, wird das Bild wieder sichtbar. Durch dieses Verfahren entsteht eine örtlich

Hajime Tanaka, Zwei-OrdnungsparameterBeschreibung des Übergangs von Glas von fest zu zerbrechlich.

begrenzte kristalline Struktur innerhalb eines nicht-kristallinen Feldes, eine Matrix aus gestauten Elementen, fotografisch organisiert in Bereichen innerhalb dieses Feldes. Ein festes Feld wird in ein nicht-festes Feld sozusagen „eingehängt“. Man kann noch weiter gehen – unter bestimmten Voraussetzungen ist der unbelichtete Bereich immer noch säureempfindlich, so dass man die Glasscheibe in Säure tauchen und dadurch den gläsernen Bereich wegätzen kann, was nur den keramischen Bereich zurücklässt und somit eine systematische Methode der chemischen Bearbeitung des Materials darstellt. Latenz und latentes Erinnerungsvermögen erlauben die Gestaltung von extrem komplexen dreidimensionalen Strukturen, welche in vielen Funktionen, von der Kommunikationstechnik bis hin zu keramischen Filtrationssystemen, eingesetzt werden können. Eine andere Anwendung dieses Prozesses, die bei der Arbeit mit fotografischem Glas für die Hong Kong and Shanghai Bank von Norman Foster entwickelt wurde, diente zur Herstellung fester, im Glas integrierter Lamellen. Diese Art von Lamellenglas wurde nicht weiterentwickelt, aber heute umfasst diese Glasgattung auf Licht reagierende Gläser und Glasfilter. Die anfängliche Forschungsarbeit, welche Glas gleichzeitig als ein fotografisches Medium und als ein leistungsstarkes System für den Umgang mit Tageslicht erforschte, zeigt Glas als ein letztendlich formbares Material. Gleich einem Chamäleon kann es beinahe jede Eigenschaft, Funktion oder Rolle annehmen. Wenn ich über Licht als Information spreche, meine ich damit, dass Licht unsichtbar ist, bis es auf etwas, sei es Wasser, Staub oder ein Oberflächenmaterial, sei es reflektierend oder absorbierend, trifft und sich manifestiert. Jeder Untergrund oder Gegenstand, auf den es trifft, teilt uns Informationen über seine Gegenwart in unserer Welt mit. Licht zeigt sich paradoxerweise erst dann, wenn es durch die materielle Welt „gestört“ wird. Für uns ist nur schwer zu begreifen, dass Licht, wenn es auf ein Objekt trifft, von uns weg reflektiert wird. Licht enthält die Information der reflektierenden Oberflächen und jede dieser Oberflächen wird wiederum durch die angesammelte Information des Lichts beeinflusst. Jedes Photon ist ein Beleg für seine Reisen und Interaktionen und wir versuchen, diesen Informationsgehalt zu verstehen und sichtbar zu machen – eine höchst komplexe Aufgabe. Man kann das übertragene und reflektierte Licht zwar beeinflussen, aber dabei gilt es zu bedenken, was innerhalb des Glases vor sich geht. Glas ist auch insofern ein bemerkenswertes Material, als Licht, welches durch das Glas scheint, auf molekularer Ebene verlangsamt und durch dessen Brechungsindizes gekrümmt wird. Das Volumen und 108

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James Carpenter Design Associates, 7 World Trade Center.

Das Schnittdiagramm zeigt, wie das lineare überlappende Detail und der BogenzwickelTageslichtreflektor auf Tageslicht reagieren. Dieses Plandiagramm zeigt, wie das Tageslicht durch die prismatische Ausrichtung der Außenhülle gesteuert wird. Dieses Plandiagramm zeigt, wie das Licht von in der Wand integrierten LED-Beleuchtungselementen auf die prismatische Ausrichtung der Außenhülle reagiert.

Podiums- und Vorhangfassade: Zwischen den beiden Schichten eines prismatischen Drahtgitters wurde eine LED-Beleuchtung eingesetzt. Das lineare überlappende Detail und der Bogenzwickel-Tageslichtreflektor verwandeln die ganze Vorhangfassade in eine reaktive Membran.

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Kodierung Digitale und analoge Taxonavigation

Lee-Su Huang und Gregory Thomas Spaw, Osnap!, Installation an der Harvard University Graduate School of Design, Cambridge, Massachusetts, USA, 2009. Vakuum-geformtes PETG-Plastik mit lasergravierter dichroitischer Folie (3M Radiant Light Film), Detail.

Liat Margolis

In der gegenwärtigen Flut des Hyper-Materialismus finden wir uns hin- und hergeworfen zwischen unseren Bekenntnissen zu Hochleistungs- und Umweltbewusstsein und unserer Faszination an waghalsigen Materialverformungen, unwahrscheinlichen Morphologien und einem sensorischen Extremismus des Luxus und der Effekte. Welcher Strömung wir auch folgen, immer wieder finden wir uns in einem Wirbel neuer Materialien wieder – von selbstreinigendem Glas, elektrolumineszierenden Folien, fotokatalytischem, duktilem, selbstheilendem, porösem Zement bis hin zu ultra-wärmeisolierendem geschäumtem Aluminium und superabsorbierenden Polymeren, die ausgelaufene giftige Flüssigkeiten im Nu aufsaugen können. Wir sehen uns vor eine „Hyper-Auswahl“1 gestellt und finden uns in einen unendlichen Materialdiskurs verwickelt. Die Erfindungen auf der molekularen Ebene der Materialkomposition sowie der Zustrom neuer Technologien, welche neue ästhetische und leistungsbezogene Möglichkeiten eröffnen, haben die Materialien der Gegenwart in ein immerwährendes Futur gesetzt. Die Gier nach Materialoptionen und das Verlangen nach Neuheiten haben die zeitgenössischen Spielarten von Material­ sammlungen und Klassifikationssystemen entstehen lassen. Obgleich großenteils auf technischer Expertise beruhend, sind diese neuen Mechanismen der Materialforschung auch zutiefst in den Prozess des technologischen Wissenstransfers involviert – einen fachübergreifenden Austausch zwischen oft nicht zusammenhängenden Arbeitsfeldern. Beides zusammen bildet die Basis für den Inhalt, den Content von Materialsammlungen, beides fordert aber auch neue Leitlinien und neue Wege der Informationsverknüpfung, um die Beschränkungen, die durch die konventionellen Grenzen der Disziplinen geschaffen wurden, weiter aufzuheben. Dem Überfluss an Materialien und deren häufige Anpassungs­­­ prozesse an immer andere Industrien setzen Klassifizierungssysteme aus Architektur und Bauwesen einen gewissen Widerstand entgegen, wie etwa dem US-amerikanischen Construction Specification Institute (CSI), das sich an vorge­ gebenen architektonischen Anwendungen orientiert. Wenn Innovation im Entwurf mit den angesprochenen Phänomenen der Hyper-Auswahl und des Technologietransfers umgehen muss, dann muss die Materialklassifizierung mittels einer flexiblen Kodierungsstruktur erfolgen, welche die spezifischen Materialeigenschaften mit einer Vielfalt möglicher Anwendungen in Beziehung setzt und auf diese Weise die klassifikatorischen „Ablagefächer“2 architektonischer Konventionen überwinden kann. Wie organisieren wir ein vereinheitlichtes

körperliches Archiv aktueller Materialmuster aus Mode, Bauingenieurwesen, Automobil- und biomedi­zinischem Design? Wie verknüpfen wir Taxonomien aus Metallurgie, Polymerwissenschaften und Botanik so, dass die Fachbereiche sich wechselseitig befruchten können? Und welche Bedeutung hat die Materialklassifizierung für den Entwurfsprozess und für die Entwurfslehre? Neusein Ein illustriertes Wörterbuch der heutigen Praxis, das Metapolis Dictionary of Advanced Architecture von 2003, vertritt den Standpunkt, dass sich die Architektur im heutigen Kontext einer Informationstechnologie, die neue Herangehensweisen an die Konzeption von Bauten und Städten fordert und fördert, nicht nur auf die fachlichen Standards verlassen könne, sondern auch auf Innovationen im Entwurf und Anwendungen neuer Techniken und Materialien zugreifen müsse.3 Die Autoren rufen nach einem relationalen, nicht-linearen Format für ihr Wörterbuch, um unterschiedliche konzeptionelle Rahmenwerke zu verlinken: „… eine Matrix von Begriffen, ein Netzwerk von Kodes“, das nicht nur offen für Querverweise ist, sondern auch einen Wandel in der Baukultur zulässt. Sie erklären: „Wenn in der Tat das Aufkommen des Neuen fast ausnahmslos Ungewissheit schafft (eben deshalb, weil wir nicht wissen, wie wir es benennen sollen, und es dadurch schwerfällt, seine Merkmale abzugrenzen und ihr Verhältnis zum Bestehenden zu erkennen), dann ist die Neubelebung und Neubestimmung der Sprache in konzeptioneller Hinsicht zwingend erforderlich für ein prospektives Handeln, das nicht bei der Anlage einer Sammlung unveränderlicher und alles abdeckender Etiketten stehenbleibt.“5 Das Metapolis Dictionary selbst kodiert zum Beispiel unsere zeitgenössische Verbindung des Begriffs „blur“ (Unschärfe) mit dem Blur Building von Diller + Scofidio für die Schweizer Expo 2002 in Yverdon. Vergleichbar mit den Praktiken des tagging, labeling, blogging und wikiing, ist die Taxonavigation ein selbstverständlicher Teil von Design und Architektur in Praxis und Lehre geworden. Die Gründer der in Paris ansässigen Materialbibliothek matériO, Daniel Kula und Élodie Ternaux, haben das Interesse an einer synthetischen, relationalen Datenstruktur bekräftigt und nennen als einen der ersten Kampfschauplätze (zugleich als Hauptmotivation hinter ihrer eigenen Arbeit) die Polysemie, die Mehrdeutigkeit in der Materialnomenklatur. In ihrem Buch Materiology von 2008 gestehen sie mit Ungeduld ein: „Eine der größten Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung mit 148

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Harvard University Graduate School of Design, Materials Collection. Beispiel für Suchmöglichkeiten der Onlinedatenbank: Form (Gewebe) und Eigenschaft (korrosionsresistent).

dem Materialkonzept ist die Tatsache, dass dieses sich zahlreicher Hilfsmittel bedient, die sich nicht alle auf der gleichen sprachlichen Ebene bewegen… Sensorische Wahrnehmung, technische Beschreibung, wissenschaftliche Theorie und philosophischer Ansatz sind verschiedene Herangehensweisen, die bei einer Definition ineinandergreifen...“6 Im Titel dieses Buches, Material Design, verweist „Material“ zugleich auf Materie, auf die Alchemie des Periodensystems, und auf sein Bezugswort Design, Entwurf, das es mit einer Bedeutung entsprechend dessen wechselnden empirischen oder theoretischen Handlungsfeldern auflädt. So bezeichnet „Materialität“ in unserem Zusammenhang auch nicht nur konstruktive und ästhetische Kategorien, sondern ebenso Standpunkte zu den tatsächlichen oder möglichen Rollen von Materialien in der heutigen Kultur. Sensorisch, ideologisch (z. B. Nachhaltigkeit), konstruktiv, performancebezogen (z. B. biologische Sanierung, Selbstheilung), ökonomisch sinnvoll, neu oder veraltet – die Bedeutung von Materialien ist vielfältig. Dieser Sachlage entsprechend wurde das Format heutiger Materialsammlungen so strukturiert, dass es permanent Feedback-Schlaufen zwischen der Einführung neuer Materialien und der Neudefinition von Entwurfsformen, Prozessen und Kultur gibt. Die techno-kulturelle Feedback-Schlaufe lässt sich zum Beispiel in Kulas und Ternaux’ Beschreibung der parallelen Entwicklung von polymerer Elastizität mit der Faszination an Weichheit ablesen: „Häufig vielmehr als ‚nicht hart’ definiert, wird das Weiche zu einer beliebten Qualität: ‚Weich’ im Griff – von der Tastatur über andere Bedienelemente, Kosmetik, Schuhe bis hin zum Interieur von Autos setzen sich weiche, lockere Formen und reaktive Materialien wie Schaumstoffe mit Verzögerungseffekt, aber auch Gele im Medikamentenbereich durch. Weder fest noch flüssig, stellt das Weiche somit das Zwischenstadium par excellence dar, erregte jedoch nie die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler, die sich vielmehr für Materialeigenschaften interessieren, die als durch und durch nobel galten. Heute eröffnet die Weichheit neue Horizonte, bietet als Übergang zwischen den einzelnen Phasen zahlreiche Möglichkeiten und kann vielleicht gar als vierter Materialzustand angesehen werden. Allerdings handelt es sich um einen äußerst zwiespältigen, sowohl attraktiven als auch abstoßenden Zustand, von dem eine unbändige Berührungslust ausgeht und der eine ungeahnte Tiefe aufweist. Angenehm oder gefährlich? Weichheit fasziniert, weil sie an etwas Lebendiges erinnert.“7

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Material ConneXion, New York, New York, USA, Materialarchive und Muster.

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Über den Autor und die Beiträger

Thomas Schröpfer Thomas Schröpfer ist Mitbegründer von Schröpfer + Hee, einem in Cambridge, Massachusetts ansässigen interdisziplinären Architektur- und Designbüro und Associate Professor of Architecture an der Graduate School of Design (GSD) der Harvard University, wo er Architekturentwurf, Material und Baukonstruktion unterrichtet. Davor praktizierte er als Architekt in Deutschland und leitete u.a. Bauforschungs- und Entwicklungsvorhaben bei Hochtief. Schwerpunkte in seiner Forschung und Praxis sind Materialperformance, Entwurfsstrategien und Nachhaltigkeit in der Architektur. Seine Arbeiten wurden vielfach publiziert, unter anderem in Journal of Architectural Education, Journal of Green Building und DETAIL Green. Schröpfers Projekte wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem von der Union Internationale des Architectes (UIA) und zuletzt von der Gwangju Design Biennale, und international ausgestellt.

Erwin Viray Erwin Viray ist Mitherausgeber der in Tokio erscheinenden Zeitschrift A+U (Architecture and Urbanism) und Professor und Chair in Architecture and Design an der Graduate School of Science and Technology des Kyoto Institute of Technology. Zuvor war er Assistant Professor am Department of Architecture der National University of Singapore und Design Critic an der Graduate School of Design (GSD) der Harvard University. Viray ist der Autor von Beauty of Materials: When Surfaces Start to Move (Tokyo: Kyoritsu Publishing, 2002), Kurator der Ausstellung Exotic More or Less im AEDES Architekturforum in Berlin und einer der zehn an der Publikation 10x10_2 (London: Phaidon Press, 2006) beteiligten Kritiker. Viray war Jurymitglied in vielen internationalen Designwettbewerben.

Nader Tehrani Nader Tehrani ist Mitbegründer des in Boston, Massachusetts ansässigen Office dA, einem für seine Innovation und Weiterentwicklung neuer Formen des Wissens international anerkannten Architektur- und Designbüro. Er ist Professor und Leiter des Department of Architecture an der School of Architecture and Planning des Massachusetts Institute of Technology (MIT). Schwerpunkte der auf interdisziplinären Plattformen basierenden Forschung sind die Transformation der Bauindustrie, innovative Materialapplikationen und die Entwicklung neuer Fertigungstechniken und -methoden für die Baukonstruktion. Office dA wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Honor Award des American Institute of Architects (AIA), dem AIA/ALA Library Building Award, dem Harleston Parker Award sowie zwölf Progressive Architecture Awards; die Projekte wurden vielfach international publiziert und ausgestellt. Justin Fowler Justin Fowler ist Master of Architecture Candidate an der Graduate School of Design (GSD) der Harvard University. Elizabeth Lovett Elizabeth Lovett graduierte im Master of Architecture Programm an der Graduate School of Design (GSD) der Harvard University. Sie ist als Designerin für die in Kansas City, Missouri ansässige Firma Zahner tätig, ein international aktives Metallverarbeitungsund -fabrikationsunternehmen, das insbesondere für seine Arbeit in den Bereichen Kunst und Architektur bekannt ist. Toshiko Mori Toshiko Mori ist die Gründerin von Toshiko Mori Architect, einem in New York ansässigen Büro, welches für seinen intelligenten Umgang mit historischen Kontexten, innovativen Einsatz von Materialien und ökologisch sensible Strategien bekannt ist. Mori ist Professor in the Practice of Architecture an der Graduate School of Design (GSD) der Harvard University, wo sie von 2002 bis 2006 das Department of Architecture leitete. Bevor sie nach Harvard berufen wurde, unterrichtete Mori von 1983 bis 1995 an der Cooper Union School of Architecture in New York. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Cooper Union Inaugural John Hejduk Award, dem Academy Award in Architecture der American Academy of Arts and Letters, und der Medal of Honor vom New York City Chapter des American Institute of Architects (AIA). Ihre Arbeiten wurden vielfach international publiziert und ausgestellt.

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James Carpenter James Carpenter ist der Leiter von James Carpenter Design Associates (JCDA), einem kooperativen, den Gedankenaustausch fördernden Arbeitsumfeld von Architekten, Werkstoff-, Bau- und Umweltingenieuren sowie Herstellern. Das Büro hat Architektur- und Ingenieurbauprojekte mit Glas, Stahl, Holz und Verbundwerkstoffen für Museen, Universitätsgebäude, Bürobauten und Kultureinrichtungen u.a. entwickelt. Carpenter hat zahlreiche Preise erhalten, darunter der National Environmental Design Award der Smithsonian Institution, der Honor Award des American Institute of Architects (AIA) und ein MacArthur Foundation Fellowship; seine Arbeiten wurden vielfach international publiziert und ausgestellt. Sheila Kennedy Sheila Kennedy ist Mitbegründerin der in Boston, Massachusetts ansässigen Firma Kennedy & Violich Architecture (KVA) und Professor of the Practice of Architecture am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Kennedy hat ein neues Modell interdisziplinärer Entwurfspraxis für Architektur, digitale Technologie und neue gesellschaftliche Bedürfnisse etabliert. Die im Rahmen von KVA im Jahr 2000 eingerichtete Gruppe MATx betreibt Materialforschung und anwendungsorientierte Fertigung für Design, Elektronik, Architektur und Materialwissenschaften. MATx arbeitet zusammen mit führenden Firmen, Kultureinrichtungen und öffentlichen Einrichtungen an der Verbreitung nachhaltiger digitaler Materialien. Kennedy erhielt eine Vielzahl von Anerkennungen und Auszeichnungen, unter anderem den Congressional Award des Amerikanischen Kongresses, den Energy Globe Award und den Tech Museum Laureate Award für Technologie im Dienst der Menschheit. Ihre Arbeiten wurden vielfach international publiziert und ausgestellt.

Peter Yeadon Peter Yeadon ist Mitbegründer von Decker Yeadon, einem in New York ansässigen, forschungsorientierten Büro für Architektur und Design, und Associate Professor an der Rhode Island School of Design (RISD). Yeadons Arbeiten untersuchen, auf welche Weise neue Materialtechnologien im Zusammenhang mit wichtigen Fragen unserer Zeit eingesetzt werden können. Im Mittelpunkt stehen Anwendungen von Smart Materials und Nanotechnologie für innovative Entwurfslösungen für eine Vielzahl von Aufgaben wie Wasserqualität, Energie, Gesundheit und Sicherheit. Yeadons Arbeiten wurden vielfach international publiziert und ausgestellt, er erhielt Auszeichnungen und Anerkennungen und wurde für den World Technology Award nominiert. Liat Margolis Liat Margolis ist Landschaftsarchitektin und Assistant Professor of Landscape Architecture an der John H. Daniels Faculty of Architecture, Landscape and Design der University of Toronto. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht der interdisziplinäre Wissenstransfer von Multi-Performance-Materialien und -Technologien. Margolis ist Mitbegründerin und früherer Director of Materials Research an der Graduate School of Design (GSD) der Harvard University und war ebenfalls Director of Material Research bei Material ConneXion, wo sie entscheidend an der Entwicklung einer interdisziplinären Materialdatenbank und der Erforschung von Umwelteinflüssen industrieller Fertigung beteiligt war. Ihre Arbeiten wurden vielfach international publiziert und ausgestellt. Margolis ist die Autorin von Living Systems: Innovative Materialien und Technologien für die Landschaftsarchitektur (mit Alexander Robinson, Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 2007).

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