Mies van der Rohe - Das gebaute Werk

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Mies Van der Rohe das gebaute werk

Mies van der rohe das Gebaute Werk Carsten Krohn



Mies Van der Rohe das gebaute werk Carsten Krohn

Birkh채user Basel


Layout, Covergestaltung und Satz: Annette Kern, Hamburg Lektorat und Projektkoordination: Henriette Mueller-Stahl, Berlin Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the ­Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Buch ist auch in einer englischen Sprachausgabe (ISBN 978-3-0346-0740-7) erschienen.

© 2014 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz Ein Unternehmen von De Gruyter Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Germany ISBN 978-3-0346-0739-1 9 8 76 5 4 3 21 www.birkhauser.com

Wir danken dem Unternehmen FSB Franz Schneider Brakel GmbH +Co KG­für die freundliche Unterstützung.


Inhalt

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Einleitung

16

Haus Riehl Neubabelsberg, Deutschland, 1908

20

Haus Perls Berlin-Zehlendorf, Deutschland, 1911–12

24

Haus Kröller-Müller, Fassadenmodell Wassenaar, Niederlande, 1912–13

28

Haus Werner Berlin-Zehlendorf, Deutschland, 1912–13

32

Haus Warnholtz Berlin-Charlottenburg, Deutschland, 1914–15

33

Haus Urbig Neubabelsberg, Deutschland, 1915–17

35

Grabstein Laura Perls Berlin-Weißensee, Deutschland, 1919

36

Haus Kempner Berlin-Charlottenburg, Deutschland, 1921–23

40

Haus Eichstaedt Berlin-Nikolassee, Deutschland, 1921– 23

41

Haus Feldmann Berlin-Grunewald, Deutschland, 1921– 23

42

Haus Ryder Wiesbaden, Deutschland, 1923– 27

43

Turnhalle Lyzeum Butte Potsdam, Deutschland, 1924– 25

44

Haus Mosler Neubabelsberg, Deutschland, 1924 –26

49

Haus Urban, Umbau Berlin-Charlottenburg, Deutschland, 1924–26

50

Siedlung Afrikanische Straße Berlin-Wedding, Deutschland, 1925– 27

56

Haus Wolf Guben, Polen, 1925– 27

57

Denkmal für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg Berlin-Lichtenberg, Deutschland, 1926

58

Wohnblock Weißenhofsiedlung Stuttgart, Deutschland, 1926– 27

62

Glasraum, Werkbundausstellung „Die Wohnung“ Stuttgart, Deutschland, 1927

63

Café Samt und Seide, Modeausstellung Berlin-Charlottenburg, Deutschland, 1927

64

Galerie Fuchs, Anbau an Haus Perls Berlin-Zehlendorf, Deutschland, 1927– 28


68

Haus Lange und Haus Esters Krefeld, Deutschland, 1927–30

128

Crown Hall Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1950–56

76

Barcelona-Pavillon Weltausstellung, Barcelona, Spanien, 1928–29

134

IIT Wohnbauten Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1951–55

81

Pavillon der Elektrizitätsindustrie Weltausstellung, Barcelona, Spanien, 1928–29

136

Association of American Railroads Mechanical Laboratory Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1952–53

82

Haus Tugendhat Brünn, Tschechien, 1928–30

137

Commons Building Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1952–54

88

Haus Henke, Anbau Essen, Deutschland, 1930

138

Electrical Engineering and Physics Building Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1954–56

89

Verseidag-Fabrik Krefeld, Deutschland, 1930–31, 1935

139

Association of American Railroads Engineering Laboratory Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1955–57

94

Haus auf der Bauausstellung Berlin-Charlottenburg, Deutschland, 1931

140

Siegel Hall Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1955–58

95

Trinkhalle Dessau, Deutschland, 1932

142

Farnsworth House Plano, Illinois, USA, 1945–51

96

Haus Lemke Berlin-Hohenschönhausen, Deutschland, 1932–33

148

Promontory Apartments Chicago, Illinois, USA, 1946–49

102

Illinois Institute of Technology Chicago, USA, 1941–58

152

Algonquin Apartments Chicago, Illinois, USA, 1948–50

106

Minerals and Metals Research Building Illinois Institute of Technology Chicago, USA, 1941–43, 1956–58

153

Arts Club of Chicago Chicago, Illinois, USA, 1948–51

111

Engineering Research Building Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1943–46

154

860–880 Lake Shore Drive Chicago, Illinois, USA, 1948–51

112

Perlstein Hall Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1944–47

159

Haus McCormick Elmhurst, Illinois, USA 1951–52

114

Alumni Memorial Hall Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1945–46

160

Haus Greenwald Weston, Connecticut, USA, 1951–56

118

Wishnick Hall Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1945–46

161

Commonwealth Promenade Apartments Chicago, Illinois, USA, 1953–57

120

Central Vault Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1946

162

Esplanade Apartments Chicago, Illinois, USA, 1953–57

121

Institute of Gas Technology Building Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1947–50

166

Seagram Building New York, USA, 1954–58

122

Association of American Railroads Research Laboratory Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1948–50

172

Lafayette Park Detroit, Michigan, USA, 1955–58

123

Boiler Plant Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1948–50

178

Colonnade and Pavilion Apartments Newark, New Jersey, USA, 1958–60

124

Kapelle Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1949–52

182

Bacardi-Verwaltungsgebäude Mexiko-Stadt, Mexiko, 1958–61

126

Test Cell Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1950–52

184

One Charles Center Baltimore, Maryland, USA, 1958–62

127

Mechanics Research Building Illinois Institute of Technology, Chicago, USA, 1950–52

186

Lafayette Towers Detroit, Michigan, USA, 1959–63

6


188

Federal Center Chicago, Illinois, USA, 1959–74

192

Home Federal Savings and Loan Association Des Moines, Iowa, USA, 1960–63

194

2400 Lakeview Chicago, Illinois, USA, 1962–63

196

Highfield House Baltimore, Maryland, USA, 1962– 64

202

Social Service Administration University of Chicago, Illinois, USA, 1962–64

204

Meredith Hall Drake University, Des Moines, Iowa, USA, 1962–65

206

Science Center Duquesne University, Pittsburgh, Pennsylvania, USA, 1962–68

208

Neue Nationalgalerie Berlin-Tiergarten, Deutschland, 1962–68

216

Toronto-Dominion Centre Toronto, Kanada, 1963–69

220

Westmount Square Montreal, Kanada, 1964–68

224

Martin Luther King Jr. Memorial Bibliothek Washington, D.C., USA, 1965–72

226

Museum of Fine Arts Houston, Texas, USA, 1954–58, 1965–74

228

Nuns’ Island Apartments Montreal, Kanada, 1966–69

230

IBM-Gebäude Chicago, USA, 1966–72

232

111 East Wacker Drive Chicago, Illinois, USA, 1967–70

234

Tankstelle Montreal, Kanada, 1968

236 237

Sachregister Bildnachweis

238

Chronologisches Literaturverzeichnis

240

Über den Autor

7


Haus Riehl Neubabelsberg, Deutschland, 1908

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Obwohl das Haus für einen Philosophieprofessor im heutigen Potsdam in einer Villenkolonie liegt, sagte Mies: „Es war keine Villa. Es war eigentlich so im märkischen Charakter, wie die märkischen Häuser in Werder, ganz schlichte Dachformen mit Giebel und ein paar Dachhauben, meistens geschweifter Art.“1 Doch so unscheinbar der Bau zunächst auftritt, so sehr ist das Gewöhn­liche auch abgeändert und uminterpretiert. Während ein derartiger Gebäude­typ sonst immer längs zur Straße steht, ist er hier um 90 Grad gedreht und wendet sich vom öffentlichen Straßenraum ab, eine Geste, die durch eine vorgelagerte Mauer noch verstärkt wird. Auf dem steil abfallenden Grundstück oberhalb des Griebnitzsees wurde durch einen Erdaufwurf zunächst eine gewaltige Geländestufe geschaffen. Es ist ein Sockel entstanden, auf dem das eigentliche Haus steht; die beiden Elemente Haus und Sockel verschmelzen zu einer Einheit. So wird bereits beim Duchschreiten des Gartentores die Architektur betreten, denn der obere Terrassengarten kann als Bestandteil des Bauwerks betrachtet werden. Dieser mit einer Mauer umschlossene Garten erzeugt eine klösterliche Intimität, die sich im Inneren des Hauses noch fortsetzt. Mit dem zentralen Raum des Hauses (Abbildung S. 9) schuf Mies bereits zu Beginn seiner Karriere einen „Allgemeinraum“, ein Ausdruck, mit dem in einer damaligen Publikation ein Raum definiert wurde, dessen Programm unbestimmt ist.2 Dieser als Halle bezeichnete „Mittelraum eines Hauses“ wurde dort detailliert beschrieben. „Die Halle hat stets, auch im kleinen Hause, einen Kamin. Sie ist mit Möbeln besetzt und ihr Boden mit Teppichen belegt. Die Wände verkleidet man mit Vorliebe mit Holztäfelung, die als der eigentliche Wandschmuck [...] betrachtet wird. [...] Auf jeden Fall [...] vermeidet man es, sie durch zwei Stockwerke gehen zu lassen [...]. Der Fußbodenbelag besteht [...] aus hartem Holz. Durchgehenden Teppichbelag vermeidet man [...]. Dagegen fehlt nie ein [...] Mittelteppich und ein dicker Teppich vor dem Kamin [...]. Wo sich die Treppe aber anschließt, zeigt man nicht gern den ganzen Lauf offen, sondern begnügt sich damit, den Treppenanfang mit einigen Stufen in die Erscheinung treten zu lassen. [...] In dem [...] Landhause wird sie schon deshalb eher den Blicken entzogen, weil sie lediglich den Zugang zu den als privat betrachteten Schlafräumen vermittelt. [...] Es gibt aber einige Möbel, die in der Halle jeder Art wiederkehren. Dahin gehören der schwere Hallentisch und die Hallenbank. [...] Sehr beliebt ist [...] der [...] runde [...] Hallentisch [...]. In kleineren Hallen stehen lediglich mehrere Holzstühle und außer ihnen noch eine Holzbank.“3 Um so einen „Allgemeinraum“ aufzugreifen, den der Autor Hermann Muthesius hier beschrieben hatte, war die Kenntnis seines Textes nicht notwendig, da es sich nicht um eine persönliche Erfindung, sondern um etwas bereits Etabliertes handelt: um einen Typus. Dieser zentrale Raum mutet bei geschlossenen Türen zwar asketisch an, ist aber gleichzeitig durch eine Weitläufigkeit gekennzeichnet, einen Charakter, den Muthesius als wesentlich für den Raumtyp der Halle herausgestellt hat. Indem sich die Halle direkt zum Freiraum öffnet, mit einem Austritt auf eine Loggia und einem weiten Panoramablick über den See mit einem Wald am anderen Ufer, ist ein architektonisches Erlebnis inszeniert. Die in die Halle Eintretenden laufen zwar zunächst auf eine Treppe zu, doch wird ein Richtungswechsel der Bewegung zum Licht hin noch dadurch bewirkt, dass lediglich der Treppenanfang mit einigen Stufen in Erscheinung tritt. Eine Tür auf dem Treppenpodest macht unmissverständlich deutlich, dass dieser Weg dem privaten Bereich vorbehalten bleibt. Der Grundriss des Hauses ist so organisiert, dass sich vom Mittelpunkt der Halle bei geöffneten Türen Ausblicke in zahlreiche Richtungen ins Freie ergeben. Wenn eine Gruppe um den Esstisch versammelt war, bot sich jedem der Gäste bei geöffneten Türen ein Blick nach draußen, während sich alle Blickachsen sternförmig

Grundriss Erdgeschoss


StraĂ&#x;enansichten

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im Zentrum des Raumes schneiden. Dies verleiht der Architektur eine extreme Offenheit. Zwei an die Halle angegliederte Kojen können durch Vorhänge abgetrennt werden, so dass unterschiedliche Situationen entstehen: eine intime und eine offene. Ein derartiges Gegensatzpaar zeigt sich auch in den unterschiedlichen Gesichtern des Hauses: der introvertierten Seite zum öffentlichen Straßenraum und der extrovertierten Seite zum privaten Garten. Bauliche Veränderungen Das Haus wurde 2001 saniert.4 Bei der Gartenmauer, dem Balkon, der Biberschwanzdachdeckung und den Schornsteinen handelt es sich um Rekonstruktionen. Eine schon früh erfolgte Schließung der Loggia mit einer umlaufenden Verglasung wurde nicht wieder in den Originalzustand zurückgebaut. Die historische Innentreppe mit einem Speiseaufzug ist durch eine offene Treppenanlage ersetzt worden, und die Eingangstür wurde verändert. Die fest eingebaute Möblierung ist bis auf wenige Elemente im Dachgeschoss verloren. Da auch die Bauakte und die Ausführungspläne verschollen sind und die publizierten Grundrisse Idealisierungen darstellen, die von den Bauaufnahmen abweichen, lässt sich der ursprüngliche Grundriss im Untergeschoss und im Dachgeschoss nicht mehr eindeutig bestimmen. Der Bau aus heutiger Sicht Mit einem „Allgemeinraum“ oder Universalraum, wie er später bezeichnet wurde, konzipierte Mies gleich zu Beginn seiner Karriere eine Architektur, die unabhängig von einer spezifischen Funktion war. Er erklärte: „Ich habe immer gerne große Räume gehabt, wo ich drin machen konnte, was ich wollte. [...] Ich habe gesagt: ‚Menschenskind, mach doch die Bude groß genug, dann kannst du hin und her laufen und nicht bloß in einer vorgezeichneten Bewegung.’ [...] Wir wissen ja gar nicht, ob die Leute das so benutzen, wie wir es gerne möchten. Die Funktionen sind erstens mal nicht eindeutig, und dann sind sie nicht beständig, die wechseln viel schneller als der Bau.“5 Mies wollte offenbar genau diese räumliche Konstellation und genau diese Proportionierung. Das Verhältnis der Breite zur Länge der Halle beträgt 2:3, ebenso wie das Verhältnis der Höhe zur Breite. Von der gleichen Proportion sind auch die an die Halle angegliederten Kojen und der Vorraum sowie die Fenster- und Loggia­öffnungen. In Hinblick auf seine folgenden Bauten wissen wir, dass Mies die Proportionierung nicht dem Zufall überließ. Er erklärte: „Das Künstlerische drückt sich aus in den Proportionen.“6 Um diesen Grundriss zu erzielen, musste ein enormer konstruktiver Aufwand betrieben werden, denn die räumliche Organisation widersprach der Gebäudestruktur. Die stützenfreie Halle konnte in ihrer Dimensionierung und Ausrichtung nur mit Hilfe einer verborgenen Hilfskonstruktion erzielt werden. Versteckte Stützen und ein versteckter Unterzug aus Doppel-T-Trägern fangen die quer liegende Giebelwand des Dachgeschosses ab. Diese teure „Krückenkonstruktion“ zeigt, wie weit Mies hier von seinem späteren Ideal einer konstruktiven Klarheit entfernt war. Sie zeigt aber auch, dass er im Rahmen dieses schlichten typischen Baukörpers genau diesen Grundriss kompromisslos umsetzen wollte. Das Haus Riehl lässt sich auch mit Gottfried Sempers Theorie der vier Elemente analysieren. Mit dem Anspruch, das Wesen der Architektur zu bestimmen, hatte Semper im 19. Jahrhundert die Urarchitektur mit vier Elementen charakterisiert – der Feuerstätte, dem Dach, der Umfriedung und dem Erdaufwurf – und diese mit einer spezifischen Materialität in Verbindung gebracht. So wurde die Feuerstätte in Beziehung mit den Materialien Metall und Keramik gebracht, aus denen auch der „Kamin“ vom Haus Riehl besteht. Zwar handelte es sich tatsächlich nur um eine Heizkörperverkleidung, doch die altarartige Platzierung in der Halle mit dieser Materialität suggeriert eine Feuerstätte. In Hinblick auf die Umfriedung erklärte Semper: „Die Ausdrücke Wand und Gewand sind

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einer Wurzel entsprossen. Sie bezeichnen den gewebten oder gewirkten Stoff, der die Wand bildete.“7 Auch wenn Wände später gemauert, mit Holz vertäfelt oder mit Marmorplatten verkleidet wurden, so argumentierte Semper, sei der Ursprung dennoch ein textiles Gewebe: ein nichttragendes Element. Wenn auch nur im tektonischen Ausdruck und auch nur dezent angedeutet, so zeigt sich das Prinzip der Trennung von Tragstruktur und nichttragender Ausfachung in der fein profilierten Pilastergliederung der Fassade. Auf der Gartenseite sind diese Felder wie bei einem Fachwerkbau auch tatsächlich ausgespart. Der Ansatz einer elementaren Gestaltung zeigt sich besonders an seinem Umgang mit der Topografie. Durch einen gewaltigen Erdaufwurf ist der Bau fest mit dem Ort verankert. 1 Ludwig Mies van der Rohe im Gespräch in dem Dokumentarfilm „Mies van der Rohe“ von Georgia van der Rohe, 1986. 2 Hermann Muthesius, Das Englische Haus, Berlin 1904, Bd. 3. 3 Ebd., S. 170–173. 4 Das Haus wurde vom Architekten Heiko Folkerts saniert und von Jörg Limberg denkmalpflegerisch begleitet. Vgl. die Beiträge von Folkerts und Limberg in: Johannes Cramer und Dorothée Sack (Hrsg.), Mies van der Rohe: Frühe Bauten – Probleme der Erhaltung, Probleme der Bewertung, Petersberg 2004, S. 27–55. 5 Ludwig Mies van der Rohe im Gespräch mit Ulrich Conrads 1964, in: Bauwelt-Schallplatte „Mies in Berlin“, Berlin 1966. 6 Ludwig Mies van der Rohe, „Rundfunkrede“, Manuskript vom 17.08.1931, in: Fritz Neumeyer, Mies van der Rohe: Das kunstlose Wort – Gedanken zur Baukunst, Berlin 1986, S. 375. 7 Gottfried Semper, Die vier Elemente der Baukunst, Braunschweig 1851, S. 57.


Vogelperspektive

haus riehl

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Haus Perls Berlin-Zehlendorf, Deutschland, 1911–12

Auch wenn das Haus als ein äußerst kompakter Block erscheint, basiert der Entwurf auf einer engen Verbindung von Innenraum und Garten. Die Einfachheit und Selbstverständlichkeit, mit der sich der Bau zur Straßenseite präsentiert, lässt nicht die komplexe Wegeführung und das vielschichtige Blickachsensystem erahnen, die eine Verschmelzung von Innen und Außen anstreben. Durch ein gerundetes Element, eine Geste der Einbauchung des Gartenzauns, werden die Besucher in Empfang genommen und direkt auf die asymmetrisch platzierte Eingangstür umgeleitet. Obwohl sich das Vestibül in der Ecke des Hauses befindet – wie auch das Haus in der nördlichen Ecke des Grundstücks –, bieten sich von diesem ersten Raum dennoch Ausblicke in alle Himmelsrichtungen. Mehrere durchlaufende Blickachsen schneiden sich an jenem Punkt, an dem sich der Weg im Haus zum repräsentativen Bereich sowie der privaten Zone gabelt. Von dieser Position im Vorraum bietet sich bei geöffneten Türen ein Rundumblick durch das gesamte Erdgeschoss mit Fluchten ins Freie. An das Arbeitszimmer des Hausherrn, eines Juristen und Kunstsammlers, schließen sich das zentrale Speisezimmer und ein lang gestreckter, zum Musizieren bestimmter Raum an. Im Grundriss wirkt ein weiteres abgerundetes Element, die unterste Treppenstufe, ebenfalls als eine Geste, die auf die Bewegungsabläufe der Menschen Bezug nimmt. Der damals 25-jährige, noch im Architekturbüro von Peter Behrens arbeitende Mies erklärte dem gleichaltrigen Bauherrn – z­ itiert aus dessen Erinnerung: „Der Architekt müsse die Menschen kennenlernen, die das künftige Haus zu bewohnen haben. Aus ­ihren Bedürfnissen ergibt sich bald alles wie von selbst. Natürlich spielen Lage, Himmelsrichtung und Größe des Grundstücks neben den Wünschen des Bauherrn eine bedeutende Rolle für den schließlichen Grundriß des Hauses. Aus alledem zusammen folgt organisch das ‚Wo’ und das ‚Wie’ des Äußeren.“1 Da im Haus eine Kunstsammlung präsentiert wurde, sind die Erdgeschossräume von repräsentativem Charakter, während Schlafzimmer und Kinderzimmer sowie Bad, Ankleide- und Gästezimmer im Obergeschoss untergebracht sind. Im Untergeschoss, das sich allein zu einem schmalen Wirtschaftshof im Norden öffnet, liegen Küche, Waschküche und ein „Mädchenzimmer“. Durch eine tiefe Abböschung erscheint das ansonsten zweigeschossige Haus auf der Nordseite dreigeschossig. Die klare Proportionierung der Innenräume spiegelt sich in den Außenräumen wider. Das Verhältnis der Länge zur Breite des Hauses entspricht dem Goldenen Schnitt, wie bei Karl Friedrich Schinkels Altem Museum. Zwei unterschiedliche Gartenräume von der gleichen Breite des Hauses stehen in unmittelbarer Beziehung zum Gebauten. Ein geschützter, durch eine berankte Holzpergola dreiseitig umfasster Bereich steht in enger Verbindung mit der Loggia. Dieser tief ins Haus eingeschnittene Bereich stellt eine Übergangszone dar. Auch der zweite Gartenabschnitt, ein abgesenktes Feld, steht in unmittelbarer Beziehung zur Fassade, die sich hier durch fünf raumhohe Fenstertüren in einem extrovertierten Maße zur Landschaft öffnet und diese als ein Panorama präsentiert. Vom Haus führt eine Stufe in den Garten hinab und von dort eine kleine Treppe in das abgesenkte Gartenparterre. Dort war eine figurative Skulptur aufgestellt. Die Position des Sockels war im Gartenplan in der Hauptachse des Hauses eingezeichnet. Die Skulptur trägt als Fluchtpunkt dieser Achse dazu bei, dass der bescheidenen Dimension des Hauses eine maximale Großzügigkeit verliehen wird. Bauliche Veränderungen Das Haus stellt heute eine teilweise Rekonstruktion dar, nachdem es starke Veränderungen erfahren hatte. Die zerstörte Gartengestaltung hat der gegenwärtige Eigentümer, eine anthroposophische Schule, nicht wiederhergestellt. Bereits kurz nach Fertigstellung wechselte das Haus seinen Besitzer. Der Jurist, Kunsthistoriker und spätere Plato-Forscher Hugo Perls tauschte es gegen fünf

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Grundriss Obergeschoss Grundriss Erdgeschoss Gartenansicht


Gartenfassade

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Gartenansicht Loggia


Gemälde von Max Liebermann an Eduard Fuchs, Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei und ebenfalls Kunstsammler. Fuchs baute 1927–28 einen von Mies entworfenen Galerieflügel an, musste aber fünf Jahre später aus Deutschland fliehen, als sein Haus und seine bedeutende Sammlung erotischer Kunst von der SS beschlagnahmt wurden. Nach Jahren der Verwilderung wurde das Haus unter der Weisung von Albert Speer in eine geheime Produktionsstätte für Messinstrumente von V-Waffen umgebaut. Die florierende Firma stellte nach dem Krieg hier medizinisch-technische Apparate her und verließ Ende der 1970er Jahre diesen Ort. Fenster und Türen waren verändert und die Loggia zugebaut. Anbauten ummantelten das Alte als eine weitere Schicht. Es ist nur eine einzige fotografische Aufnahme des Hauses unmittelbar nach Fertigstellung überliefert, bei der es sich um eine Idealansicht handelt, denn die darin gewählte Perspektive gleicht sowohl Mies’ eigenen Präsentationszeichnungen als auch denen von Schinkel. Für den Architekten Dietrich von Beulwitz, der mit der Renovierung beauftragt wurde, waren die Auskünfte von Philip Johnson wichtig, der das Haus vor den Umbauten intensiv studiert hatte und die originalen Farbtöne beschreiben konnte.2 Bei der Rekonstruktion hatte von Beulwitz damit zu kämpfen, dass „die heutigen Putz- und Farbqualitäten, alles Industrieprodukte, sich wesentlich vom damaligen Standard unterschieden“. Ursprünglich wies das Bauwerk „einen Putz aus gelöschtem Kalk“ auf sowie „al fresco aufgebrachte Kalkfarbe, die sich mit dem Putz verbindet und im Laufe der Jahre einem natürlichen Abrieb unterliegt, der den Anstrich sehr lebendig macht“.3

dem Bewegungsfluss den Charakter eines deutlichen Hinabsteigens. Damit wird ein Podium, auf dem das eigentliche Haus aufsitzt, zumindest angedeutet. Auch in den späteren Werken werden Skulpturen im Außenraum so platziert, dass sie in einer Beziehung zum Innenraum stehen, der auf diese Weise weiträumiger wahrgenommen wird. 1 Hugo Perls, Warum ist Kamilla schön? Von Kunst, Künstlern und Kunsthandel, München 1962, S. 16. 2 Von Beulwitz stellte eine noch heute in seinem Besitz befindliche Sammlung aller auffindbaren Dokumente zusammen, die Aufschluss über den Originalzustand geben. Zur Renovierung siehe: Dietrich von Beulwitz, „The Perls House by Ludwig Mies van der Rohe“, in: Architectural Design, H. 11/12, 1983. 3 Dietrich von Beulwitz, „Das Haus Perls von Mies van der Rohe“, Schreibmaschinenmanuskript, Archiv von Beulwitz, Berlin. 4 Vgl. Philip Johnson 1947, S. 14; Blake 1960, S. 160; Spaeth 1985, S. 22. 5 Fritz Neumeyer, „Space for Reflection: Block versus Pavilion“, in: Franz Schulze (Hrsg.), Mies van der Rohe – Critical Essays, New York 1989, S. 164–165.

Der Bau aus heutiger Sicht Der Dreh- und Angelpunkt der Gesamtanlage ist die Position des Esstisches im geometrischen Mittelpunkt des Hauses. An dieser zentralen Stelle kreuzen sich nicht nur die beiden rechtwinklig verlaufenden Hauptachsen, die den Garten und das Haus zusammenbinden, sondern auch weitere, diagonal verlaufende Blickachsen, die ins Grüne fluchten. Der sternförmige Rundumblick in die umgebende Natur prägt die Atmosphäre der Architektur, die Innenund Außenräume als eine gestalterische Einheit zusammenbindet. Das kompakte Haus ist von einer Schlichtheit und geometrischen Strenge, die sich in den Proportionen der Räume fortsetzt. Der zentrale Raum um den Esstisch hat eine Proportion von 2 :3, und bei geöffneten Außentüren erweitert er sich zur Loggia hin zu einem annähernd quadratischen Grundriss. Dabei charakterisiert das Spannungsfeld zwischen geometrischer Klarheit und erlebbarer Weiträumigkeit den Bau. Nachdem das Haus von der Mies-Forschung lange unbeachtet geblieben war, abgesehen von den wiederholten Verweisen auf den Einfluss von Schinkel,4 wurde in ihm eine Ankündigung von Zügen des späteren Werks erkannt. Fritz Neumeyer sah in einem Detail einen Hinweis auf eines der zentralen Mies-Themen: das zum Ausdruckbringen einer klaren und vernünftigen Konstruktion. In die seitlichen Loggiawände sind Fugen von einem Zentimeter eingeschnitten, welche die Ecken visuell als tragende Pfeiler wirken lassen. „Dieses kleine Detail zeigt die Autonomie des tektonischen Skeletts“,5 argumentierte Neumeyer und zeigte eine weitere Lesart auf: Die Loggia könne auch als eine in das Haus eingeschobene Pergola begriffen werden. Die Loggia nimmt eine Scharnierfunktion ein. Als Übergangsraum verknüpft sie Innen- und Außenraum. Sie ist sowohl Teil des Hauses, wenn sie als eine Verlängerung des Innenraums begriffen wird, als auch Teil des Gartens, wenn sie als eine Fortführung der umlaufenden Pergola angesehen wird. Der Übergang zwischen Innen und Außen wird neben den exakt platzierten Öffnungen auch durch die durchlaufende Stufe vom Musikzimmer zum Garten gestaltet. Auch dieses Detail ist äußerst dezent, verleiht aber in Verbindung mit den weiteren Stufen hinab zum abgesenkten Gartenparterre mit der Skulptur

haus perls

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Haus Kröller-Müller, Fassadenmodell Wassenaar, Niederlande, 1912–13 zerstört

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1 Vestibül 2 Halle 3 Speisezimmer 4 Gang 5 Pergola 6 Wasserbassin 7 Zimmer der Dame 8 Bildersaal 9 Garten mit Teich 10 Gewächshaus

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Ansicht Grundriss Erdgeschoss


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Auf einem Grundstück an der holländischen Nordseeküste wurde im Winter 1912–13 zwischen Dünen und Wäldern das Modell eines Hauses im Maßstab 1:1 aus Holz und bemaltem Segeltuch errichtet. Als das einzige bekannte Foto der Installation 15 Jahre später in einer Zeitschrift veröffentlicht wurde, war dort zu lesen: „Mies hat durchaus Recht, wenn er von diesem Projekt sagt: man könne dieses Fassadendetail glatt wegstreichen, und dann hätte man einen Bau genau so, wie er ihn heute auch mache. Das heißt, einen Bau, in dem das Wohnen sich nicht nach der Hausanlage zu richten hat, sondern die Hausanlage nach dem Ablauf des Wohnprozesses.“1 Der Plan des Grundrisses gilt als verschollen, doch skizzierte Mies später einige Raumabfolgen aus seiner Erinnerung auf.2 Er hatte den Eingang an der Ecke des H-förmigen Gebäudegrundrisses angeordnet. Die Besucher sollten durch das Vestibül in eine repräsentative Halle gelangen, von der ein Weg zum Esszimmer und ein langer Gang zu einem weiteren Flügel mit einer großen Ausstellungshalle führen. Auch in diesem gegenüberliegenden Flügel dient eine Halle als Vorraum mit einer Verteilerfunktion. Die Hausherrin Helene Kröller-Müller hatte ihre Vorstellungen vom Landhaus als einem Monument detailliert beschrieben. Sie wünschte sich für die Ausstellung der Gemäldesammlung einen fensterlosen Saal, den sie in der Nähe ihres Zimmers angeordnet haben wollte. 3 Die Organisation des Raumprogramms war komplex, da funktional unterschiedliche Bereiche zwar voneinander getrennt, sich aber dennoch zu einer Gesamtheit verbinden sollten. Die Bereiche waren: die Abfolge der repräsentativen Räume, die privaten Wohnräume, der Wirtschaftstrakt für das Dienst­p ersonal sowie der halböffentliche Bereich der Kunstsammlung. Das Raumprogramm, das den Ablauf des Wohnprozesses abbildet, ist durch einen Entwurf von Peter Behrens überliefert, der zuvor mit diesem Projekt beauftragt war. Auch sein Entwurf wurde anhand eines Modells in Originalgröße an Ort und Stelle getestet, aber abgelehnt. Mies war als Assistent von Behrens mit dem Vorhaben vor Ort befasst und konnte einen guten Kontakt mit den Bauherren aufbauen. Als er gebeten wurde, einen eigenen Entwurf auszuarbeiten, war die Zusammenarbeit mit Behrens beendet. Schon im Behrens-Projekt (Grundriss S. 12) wären die Be­sucher über ein Vestibül in eine Halle gelangt, von der ein Gang zum gegenüber­liegenden Trakt mit dem fensterlosen Bilder­saal führt. Das Wohnzimmer, „in dem die Familie nach holländischer Sitte für gewöhnlich auch zu essen pflegt,“ 4 liegt in der Achse eines vorgelagerten Wasserbassins. Das Speisezimmer war lediglich für festliche Anlässe bestimmt. Der Flügel mit der Enfilade von Repräsentationsräumen ist in zwei lineare Zonen unterteilt, in eine mit den dienenden und eine mit den bedienten Räumen. Die Küche liegt im Obergeschoss. Über die Raumgruppe der Dame schrieb Fritz Hoeber: „Dem Viereck des Herrenzimmers auf der einen Seite entspricht auf der anderen ein großes Vorzimmer, das den ganz für sich separierten Wohnteil der Dame einleitet. Nur durch dieses kann man das mit besonderer Garderobe versehene Damenwohnzimmer betreten; vom Flur aus zeigt es keinen Eingang. Und um die Analogie der Klausur nun zu vollenden, besitzt der Wohnteil der Dame noch seinen privaten Garten, seinen ‚Giardino secreto’ in einem intimen Hof, dessen Schmalseiten freie Säulenstellungen begrenzen, so dass sich eine weite Aussicht von den Fenstern des Damenzimmers aus, bei aller Abgeschlossenheit, doch wieder ermöglicht.“5 Mies übertrug die Anlage dieses Gartens mit einem flankierenden Gewächshaus auf sein eigenes Projekt und wies diesen Ort ebenfalls als Bereich der Dame aus.6 Er verstärkte sogar den intimen Charakter, indem sich lediglich ein einziges Zimmer zum Gartenraum öffnet. Es ist überliefert, dass sich Helene Kröller-­Müller über eine mangelnde Intimität in Behrens’ Architektur beklagt hatte.7

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Ansicht Grundriss Obergeschoss


Über die Gründe, warum Mies’ Entwurf abgelehnt wurde, kann nur spekuliert werden. Parallel mit Mies war auch Hendrik­ Petrus Berlage mit einem Entwurf beauftragt. Der künstlerische Berater der Kröller-Müllers soll zu Berlages Projekt gesagt haben: „das ist Kunst“ und zu Mies’ Arbeit: „das nicht“, doch auch ­B erlages Entwurf wurde schließlich nicht umgesetzt. Mies holte sich eine eigene Begutachtung seines Entwurfs aus Paris vom Kunstkritiker Julius Meier-Graefe, der die „schön gegliederte ­A nlage von wohltuender Asymmetrie“ lobte und erklärte: „Nichts ist Stückwerk, alle Teile hängen organisch zusammen, entwickeln sich logisch.“8

8 Der Brief von Julius Meier-Graefe befindet sich im MoMA-Archiv. Zitiert in: Franz Schulze, Mies van der Rohe – Leben und Werk, Berlin 1985, S. 69. 9 Mies van der Rohe im Gespräch mit Henry Thomas Cadbury-Brown, in: Architectural Association Journal, Jul.-Aug. 1959, S. 29. 10 Rem Koolhaas, S,M,L,XL, Rotterdam 1995, S. 63. 11 Vgl. Anm. 9, S. 28. 12 Vgl. Anm. 2.

Bauliche Veränderungen Das 1:1-Modell des Hauses war auf einem Schienensystem montiert und so umbaubar. „Alles im Inneren – die Trennwände und Decken – waren hoch- und runterfahrbar,“9 erklärte Mies und sagte im Rückblick, dass es gefährlich sei, ein Haus als ein Modell zu errichten. Der Bau aus heutiger Sicht Mit „gefährlich“ meinte Mies möglicherweise, dass Bauen mehr bedeutet, als eine Gebäudeform in Originalgröße zu errichten. Auch wenn ein derartiges Objekt räumlich erlebbar ist, fehlen die Materialität und die spezifische Art der Fertigung sowie die Verbindung mit dem Ort. Rem Koolhaas schrieb hingegen in S,M,L,XL: „Plötzlich sah ich ihn im Innern des kolossalen Volumens, einem kubischen Zelt, das weitaus leichter und suggestiver war als die düstere und klassische Architektur, die es verkörpern sollte. Ich habe vermutet – fast neidisch –, dass diese merkwürdige ‚Aufführung’ eines zukünftigen Hauses ihn radikal veränderte: Waren das Weiß und die Schwerelosigkeit eine überwältigende Offenbarung von allem, an das er damals noch nicht glaubte? Eine Erleuchtung der Antimaterie? War diese Leinwandkathedrale ein blitzartiger Sprung zu einer anderen Architektur?“10 Mies’ Werk sollte sich allerdings noch eine lange Zeit in einer evolutionären Kontinuität weiterentwickeln. Unabhängig von der streng klassizistischen Fassadengliederung verweist die Art, wie sich die untergeordneten Baukörper „organisch“ an einen blockhaften Hauptbaukörper fügen, bereits auf das spätere Werk. In Bezug auf dieses Projekt erklärte Mies: „Ich war ganz sicher von Schinkel beeinflusst, aber der Grundriss ist in keiner Weise ein Schinkel‘scher.“11 Der weiträumigen Anlage sollte ein Wasserbecken vorgelagert sein, in dem sich die Architektur spiegelt, eine Situation, die mit dem Barcelona-Pavillon verglichen werden kann, da auch hier ein zweites kleines Becken in einem räumlich eingefassten intimen Hof geplant war, in dem sich eine figürliche Skulptur spiegeln sollte. Von Mies’ Projekt wurde auch ein kleineres Modell angefertigt, allerdings in veränderter Form. Der intime Hof mit dem kleinen Wasserbecken und einer Skulptur auf rundem Sockel öffnet sich nun zur gegenüberliegenden Seite. Und jener zen­ trale Raum, der in Behrens’ Projekt dem Zimmer der Dame entspricht, weist nicht mehr durch drei große Fenstertüren zum Garten, sondern ist als Kupferstichkabinett 12 nun rätselhafterweise komplett geschlossen. 1 Paul Westheim, „Mies van der Rohe – Entwicklung eines Architekten“, in: Das Kunstblatt, H. 2, 1927, S. 56. 2 Grundrissskizze des Erdgeschosses, um 1931. Veröffentlicht in: Barry Bergdoll und Terence Riley (Hrsg.), Mies in Berlin. Ludwig Mies van der Rohe. Die Berliner Jahre 1907–1938, München 2001, S. 166. 3 Wie vgl. Sergio Polano, „Rose-shaped, Like an Open Hand. Helene Kröller-Müller’s House“, in: Rassegna, Dez. 1993, S. 23. 4 Fritz Hoeber, Peter Behrens, München 1913, S. 201. 5 Ebd., S. 201– 202. 6 Vgl. Mies’ Beschriftung „Blumenhaus der Frau“. 7 Vgl. Anm. 3.

Haus Kröller - M ü ller, Fassadenmodell

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Haus Werner Berlin-Zehlendorf, Deutschland, 1912–13

In unmittelbarer Nachbarschaft des Hauses Perls schuf Mies ein ­L-förmiges Bauwerk, das sich aus verschiedenen Baukörpern zusammensetzt. Es ist am nördlichen Ende eines großen Areals platziert und schottet sich zur angrenzenden Bebauung nach Norden ab. Im südlichen Teil des Grundstücks lag ein Nutzgarten. Wie bei den vorherigen Häusern Riehl und Perls tritt der Bau von der Garten­seite offener und auch monumentaler in Erscheinung als von der Straßenseite. Ein vorspringender Mittelrisalit betont die Symmetrieachse der Gartenfassade. Wer auf die Anlage aus nördlicher Richtung zuläuft, wird hingegen mit einer Mauer konfrontiert, hinter der sich der Wirtschaftshof befand, und bei den am dichtesten zur Straße gelegenen Fensteröffnungen handelt es sich um die Küchen­fenster. Es ist eine Geste, die sich vom Straßen­raum abwendet und zum privaten Bereich öffnet. Stilistisch orientiert sich das verputzte Gebäude unter einem großen Mansarddach an einer regionalen Bauweise, wie sie etwa ­Alfred Messel für derartige Bauaufgaben aufgriff und Paul Mebes in seinem Buch Um 1800 beschrieb.1 Bei diesem Bezug wird eher das Einfache gesucht als das Repräsentative des Klassizismus. Der Grundriss des Hauses weist Ähnlichkeiten mit Peter Behrens‘ Haus Wiegand auf, insbesondere durch einen in den Garten­ausgreifenden Laubengang, doch ist der Charakter weniger monumental. Die Dimensionierung ist bescheidener und die Atmosphäre intimer. Der Weg von der Straße zum Hauseingang verläuft über ein paar Treppenstufen auf ein Podium hinauf. Diese Elemente – Weg, Treppe und Podium – sind mit Backstein gepflastert. Der Weg durch das Haus führt nicht in gerader Linie direkt in den Garten, sondern zunächst auf einen Heizkörper in der Eingangshalle zu, dessen Holzverkleidung gleich detailliert ist wie beim Haus Perls. Dabei wechseln sich eckige und runde Stäbe ab, welche die Entasis einer klassischen Säule aufweisen. Die sparsamen Verzierungen, wie die angedeuteten Kapitelle der Laubengangpfeiler oder das Traufgesims, sind stark abstrahiert. Beim Austritt in den Garten wird ein weiterer architektonisch artikulierter Raum betreten. Die Verschränkung von Bauwerk und Topografie ist hier noch weitreichender als bei Mies‘ bisherigen Bauten. Auch bei dieser L-förmigen Anlage bilden Architektur und Gartengestaltung eine Einheit. Wie beim benachbarten Haus Perls schließt sich dem Haus ein abgesenkter Gartenbereich an, der hier jedoch von einem Laubengang umklammert ist. Dabei handelt es sich um ein architektonisch ausgebildetes Pergola-Motiv. Mies hatte bereits die Wandelgänge beim Haus Kröller-Müller als „Pergola“ bezeichnet, obwohl es sich nicht um offene Strukturen handelte, sondern um überdachte Teile des Bauwerks selbst. Der Zugang zum hinteren Garten – eine aus groben Steinen terrassierte Anlage – erfolgt wie beim Haus Wiegand durch drei Fenstertüren des zentralen Raums in der Mittelachse sowie durch ein seitlich angegliedertes Esszimmer mit direkter Verbindung zum Laubengang. Ebenfalls wie beim Haus Wiegand ist der Garten in konzeptionell unterschiedliche Bereiche unterteilt, in einen streng geometrisch gegliederten, der in direkter Beziehung zur gebauten Struktur steht, sowie in einen landschaftlich gestalteten. Der inszenierte Weg durch die Architektur mit gerahmten Ausblicken führt beim Haus Werner über zwei Steintreppen schließlich zu einem bewaldeten Bereich empor, von dem sich die Gesamtanlage überblicken lässt. Bauliche Veränderungen Durch einen Anbau über dem einstigen Wirtschaftshof wurde das Gebäude verändert. Da der in den 1920er Jahren angefügte Bau die Formensprache des Hauses übernimmt, ist der Baukörper umgestaltet. Auch der Garten ist verändert, da die gerade verlaufende, abschließende Stützmauer durch eine halbrunde Exedra ersetzt wurde.2 Beim Wasserbecken im abgesenkten Bereich handelt es sich ebenfalls um eine spätere Ergänzung. Ursprünglich

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Grundriss Erdgeschoss


Garten Gartentreppe

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war diese Stelle mit einem Staudenbeet bepflanzt. Durch den Einbau einer Behindertenrampe ist auch der Laubengang verändert. Heute wird der Bau von einer Schule genutzt. Der Bau aus heutiger Sicht Auch wenn lediglich der mit der Geste eines ausgesteckten A ­ rmes umgriffene Gartenbereich rekonstruiert wurde, und auch nicht in der von Mies konzipierten ursprünglichen Form, ist hier dennoch wie bei keinem anderen frühen Mies-Bau die gestalterische Einheit von Bauwerk und Garten noch heute erlebbar. Es ist eine intime Atmosphäre erfahrbar. Während die Topografie durch die verschiedenen, mit Treppen verbundenen Plateaus „gebaut“ ist, ist das Bauwerk gleichermaßen bewachsen. Bevor Mies‘ folgender Bau, das Haus Warnholtz, von der Forschung entdeckt wurde, galt das Haus Werner als isoliert in seinem Œuvre, und sogar seine Autorschaft wurde in Frage gestellt.3 ­Allerdings sind nicht die Formensprache und das Stilistische des Hauses das Besondere, sondern die strukturelle Konzeption der Anlage. Mies griff bei diesem Haus einen etablierten Typus auf, und auch später erklärte er das Einfache und Selbstverständliche als ein Ideal, doch ist die hier erfolgte Raumbildung eines Baukörpers bedeutsam für sein Werk. Die winkelförmige Form schafft eine geschützte Hofsituation, ein Prinzip, nach dem Mies auch sein eigenes unrealisiertes Haus entwarf. Sogar das Haus Perls sollte er später in einen L-förmigen Bau umgestalten und so demonstrieren, dass sich der Ablauf des Wohnprozesses nicht nach der Haus­anlage zu richten habe, sondern umgekehrt. Doch aufgegeben hatte Mies den klar proportionierten, in seiner Einfachheit und Strenge bestechenden Rechteckgrundriss noch lange nicht. Mit den unterschiedlichen Grundrissformen der Häuser Perls und Werner waren vielmehr zwei konzeptionelle Pole markiert, zwischen denen er sich zukünftig bewegen sollte. Im Rückblick zeigt sich sein gesamtes europäisches Werk als ein Bemühen, gegenteilige Konzeptionen in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen. „Nachdem ich in Holland war, da habe ich so einen innerlichen Kampf mit mir ausgefochten, um von dem Schinkel‘schen Klassizismus loszukommen,“4 sagte er später über diese Zeit. Die Ursprünge der L-förmigen Anlage dieses Hauses gehen auf das Kröller-Müller-Vorhaben zurück. Schon bei Behrens‘ Projekt für jenen Bau, an dem Mies mitarbeitete, war das Zimmer der Dame mit einem intimen Garten verbunden, den Mies zunächst auf ­seinen eigenen Entwurf übertrug, um ihn schließlich beim Haus Werner in ähnlicher Form zu realisieren. 1 Paul Mebes, Um 1800, München 1908. Mies nannte Alfred Messels Berliner Villa Oppenheim als eines seiner Vorbilder im Gespräch mit Dirk Lohan, Manuskript im Mies-Archiv im MoMA, New York. 2 Zur Gartengestaltung siehe: Christiane Kruse, Garten, Natur und Landschaftsprospekt. Zur ästhetischen Inszenierung des Außenraums in den Landhausanlagen Mies van der Rohes, Dissertation, Freie Universität Berlin 1994. 3 Die Pläne des Hauses sind allein von Ferdinand Goebbels unterzeichnet, der als Partner von Mies auch an der Ausführung des Hauses Perls beteiligt war. Mittlerweile ist allerdings auch ein von Mies signierter Plan bekannt. Vgl. Christiane Kruse, „Haus Werner – ein ungeliebtes Frühwerk Mies van der Rohes“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 1993, S. 554–563. 4 Ludwig Mies von der Rohe im Gespräch mit Ulrich Conrads 1964, in: Bauwelt-Schallplatte „Mies in Berlin“, Berlin 1966.

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Pergola Zugangstreppe Heizkörperverkleidung


Gartenansicht

Haus Werner

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Haus Warnholtz Berlin-Charlottenburg, Deutschland, 1914–15 zerstört

Dieses Haus an der Heerstraße, dessen Autorschaft erst 2001 wiederentdeckt wurde,1 zeigt eine Fortführung der Formensprache des Hauses Werner. Die Besucher werden auf kürzestem Weg entlang der Mittelachse durch das Haus geführt. An den zentralen Salon schließen sich im Westen Musik- und Speisezimmer und im Osten Herrenzimmer und Bibliothek an. Die klaren Proportionen der Räume zeigen sich in exakten ganzzahligen Maßverhältnissen. Der Salon misst exakt 5 mal 7,50 Meter, der Vorraum 3 mal 4 Meter, die geschlossene westliche Veranda 4 mal 5 Meter und die Bibliothek 4 mal 3 Meter.2 Eine quer durchs Haus verlaufende zweite offene Blickachse erzeugt eine maximale Weitläufigkeit. Mies‘ erklärte Bewunderung für Alfred Messel und besonders für dessen Haus Oppenheim zeigt sich an den Detaillierungen der Fassade sowie der Gestaltung der offenen Veranda. Um 1960 wurde das Haus abgerissen und der Garten zerstört. 1 Markus Jager, „Das Haus Warnholtz von Mies van der Rohe (1914/15)“, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 2002, S. 123–136. Die Gartengestaltung konnte anhand historischer Luftbilder rekonstruiert werden. Ich danke dabei Markus Jager für wertvolle Hinweise. 2 Diese Maße entstammen der Bauakte im Landesarchiv Berlin.

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Ansicht Grundriss Erdgeschoss


Haus urbig Neubabelsberg, Deutschland, 1915–17

Bei der Konzeption dieser Villa wurde die Topografie des Hanggrundstücks am Griebnitzsee so ausgenutzt, dass der Bau auf einer Seite zweigeschossig und auf der anderen Seite dreigeschossig in Erscheinung tritt. Wie beim Haus Warnholtz führt eine Folge von Treppen von den Wohnräumen über eine Terrasse in den Garten hinab. Eine weitere Freitreppe neben dem Haus führt auf eine kleine Sitzbank zu. Die als ein Podium ausgebildete Terrasse suggeriert, dass sich diese durch das Haus zieht, denn auf der Straßenseite ist eine große Travertin-Stufe vorgelagert. So entsteht der Eindruck, das Haus sei auf einen Sockel gestellt. Der Travertin-Belag der Terrasse wurde mittlerweile rekonstruiert, ebenso wie Brüstungen, Fensterläden und der Gartenzaun. Verändert ist auch der Zugang zum Souterrain. Da durch den Garten die Berliner Mauer verlief, wurde das Bootshaus 1961 abgerissen.1 1 Zur Nutzungsgeschichte und Restaurierung siehe: Winfried Brenne, „Haus Urbig, Neubabelsberg. Baugeschichte und Wiederherstellung“, in: Johannes Cramer und Dorothée Sack (Hrsg.), Mies van der Rohe: Frühe Bauten – Probleme der Erhaltung, Probleme der Bewertung, Petersberg 2004, S. 62–70, sowie: Claudia Hain, Villa Urbig 1915–1917 – Zur Geschichte und Architektur des bürgerlichen Wohnhauses für den Bankdirektor Franz Urbig – Ein frühes Werk von Ludwig Mies van der Rohe in Potsdam-Babelsberg, Berlin 2009, Privatdruck. Darin abgebildet ist der von Mies signierte Plan des Bootshauses.

Grundriss Erdrgeschoss

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Haus Greenwald Weston, Connecticut, USA, 1951–56

Das Prinzip ist eine wie beim McCormick-Haus in die Landschaft gestellte Etage der Lake Shore Drive Apartments. Für die Fassaden wurden tatsächlich nicht verbaute Elemente dieser Türme verwendet. Betreten wird das Haus unmittelbar über das zentrale Wohnzimmer, dessen Raumbildung durch zwei sich gegenüberliegende holzvertäfelte Kerne erfolgt. Neben dem Eingang ist eine Abstellkammer wie ein Möbelstück frei in den Raum gestellt und dient als Raumteiler zum Schlafzimmer. Ein zweiter Zugang führt in die Küche. Mit einer Mauer aus Feldsteinen ist eine Geländestufe ausgebildet, so dass sich der umliegende Wald von einem Podium aus betrachten lässt. Dieses Haus für den Bruder von Mies‘ wichtig­stem Auftraggeber Herbert Greenwald wurde 1959–60 nach ­Plänen des Mies-Büros um zwei Achsen verlängert, und später kamen ein weiterer Anbau und Pavillons hinzu, die sich um den Bau gruppieren.1 Auch der Innenraum wurde verändert. 1 Zum Umbau siehe: Paul Goldberger, „Modifying Mies – Peter L. Gluck Rises to the Modernist’s Challenge“, in: Architectural Digest, H. 2, 1992, S. 72–82.

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Außenansicht Innenansicht Grundriss


Commonwealth Promenade Apartments Chicago, Illinois, USA, 1953–57

Von den ursprünglich vier geplanten Türmen wurden nur die beiden südlichen realisiert. Ein überdachter Gang verbindet die Türme miteinander und fluchtet in den angrenzenden Lincoln Park. Die Detaillierung der vorgehängten Aluminiumfassade ist identisch mit den parallel entstandenen Esplanade Apartments. Zur Belüftung dienen im unteren Bereich der Fenster Kippflügel mit einem Fliegengitter in der Ebene der Glaswand. Die Betonkonstruktion ermöglicht im Vergleich mit den Bauten von 860–880 Lake Shore Drive bei gleicher Gebäudehöhe ein Geschoss mehr. Im Gegensatz zu den vorgeblendeten Standard-Doppel-T-Trägern der Lake Shore Drive-Apartments wurden die Aluminiumprofile nun speziell für die Curtain-Wall-Fassade entwickelt. Die stärkere Ausdehnung von Aluminium macht allerdings Fugen nötig, welche die Kontinuität der vertikalen Linien in jedem Geschoss unterbrechen. In dem leichteren Metall erkannte Reyner Banham einen technischen Fortschritt. „Es ist ein Material, bei dem eine große Menge die Spezialanfertigung von Profilen ermöglicht“, erklärte er. „Eine Wahlmöglichkeit ist in Aluminium so selbstverständlich wie das Fehlen dieser Möglichkeit beim Stahl, da die Ökonomie der Walzwerke die Herstellung von ausgefallenen Profilen nach wie vor unmöglich macht.“1 Als jemand, der eine stärkere Nutzung der technischen Potentiale in der Architektur fordert, betrachtete Banham die Detaillierung in Aluminium als „ausgeklügelter“. 1 Reyner Banham, „Almost Nothing is Too Much“, in: Architectural Review, Aug. 1962, S. 128.

Lageplan Südansicht Fensterdetail

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Esplanade Apartments Chicago, Illinois, USA, 1953–57

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Die zwei Apartmentgebäude 900–910 Lake Shore Drive setzen Mies’ Bebauung des Uferstreifens fort. Neben den bisherigen Türmen 860–880 errichtete er auf dem nördlich angrenzenden Areal weitere Hochhäuser. Die städtebauliche Raumbildung wird in der gleichen Konzeption weitergeführt. Dabei stehen die Baukörper frei im Raum und fügen sich nicht in die Baumasse der historischen Stadttextur ein. Auch bei den Esplanade Apartments ist das Grundstück trapezförmig, doch sind die zwei Bauten nun nicht mehr gleich dimensioniert. Das südliche Gebäude ist als eine monumentale Scheibe ausgebildet. Auch sind die Gebäude dichter aneinandergerückt als die Türmen 860–880. Der Bauherr Herbert Greenwald zahlte die höchste Summe, die für ein Grundstück mit einer Wohnnutzung in Chicago ausgegeben wurde. 1 Der Drang zu einer optimierten Ausnutzung wurde neben einer deutlichen Vergrößerung des Bauvolumens auch durch eine Reduzierung der Geschosshöhen erfüllt. Durch eine neuartige Deckenkonstruktion konnte der Deckenaufbau ebenfalls verringert werden. So konnten drei zusätzliche Geschosse erzielt werden, bei einer etwas niedrigeren Gebäudehöhe. Auch wenn die Konzeption von rein kubischen, rundum verglasten Baukörpern mit den Vorgängerbauten gleich ist, haben sich die Konstruktion und die damit verbundene Materialität verändert, da in diesen wenigen Jahren sich der technische Standard stark weiterentwickelt hatte. Während die Gebäude 860–880 reine Prototypen darstellten, sind die Esplanade Apartments bautechnisch sowie wirtschaftlich optimiert. Den Problemen, die Prototypen allgemein mit sich bringen, wurde nicht nur durch Modifikationen im Detail begegnet, sondern auch durch eine andere Materialität. Zwar ist die Skelettkonstruktion wieder vollständig mit einer Glashaut überzogen, doch nun bestehen die Fassaden aus eloxiertem Aluminium und die Konstruktion aus Beton. Die Fassade ist als reiner Curtain Wall angehängt mit nun durchgehend gleich großen Fenstern. Aufgrund der Probleme des Raumklimas in den Vorgängerbauten wurden später getönte Scheiben verwendet und eine Klimaanlage installiert. Während sich die Konstruktion zuvor noch an der Fassade abzeichnete, sind die Stahlbetonstützen nun von der Gebäudekante zurückgesetzt, so dass zwischen den Stützen und der Außen­haut Platz für die Klimatisierung geschaffen wurde. Die Eigenschaft der Vorhangfassade als eigenständiges Element wird durch die dunkelgraue Tönung der Gläser noch betont, und die Körper­h aftigkeit des Bauvolumens wird so verstärkt. Bei den charakteris­tischen vertikalen Profilen, die an die Fassade appliziert sind und die bei den Türmen 860–880 noch als gewöhnliche Doppel-T-­Träger aneinandergeschweißt waren – so dass durch­ laufende Bänder entstanden –, handelt es sich nun nicht mehr um Standardelemente, sondern um speziell angefertigte Bauteile aus Aluminium. Da sich das Material aber stärker ausdehnt, sind diese Elemente nicht mehr zu einem kontinuierlichen Band zusammengefügt, sondern durch Fugen in jedem Geschoss voneinander getrennt. Für das Parken wurde ein Flachbau realisiert, dessen Dachterrasse als Sonnendeck gemeinschaftlich genutzt wird. Die ex­ treme Weitläufigkeit, die noch die Erdgeschossebene der Vorgängerbauten prägte, ist durch das Parkhaus beeinträchtigt. Auch konnte die Kontinuität von Innen- und Außenraum, die durch einen einheitlichen Travertin-Bodenbelag erzielt wurde, nicht wieder erreicht werden. Die Eingangslobbys sind nun mit einem Terrazzoboden versehen, während der Gebäudekern mit Marmor verkleidet ist. Die Verglasung des Erdgeschosses ist teilweise transparent und teilweise opak, so dass sich die Wände auch hier nachts in Lichtobjekte verwandeln. Im Unterschied zu den Bauten 860–880 treten unterhalb der ersten Decke Lamellen in Erscheinung, die der Klimatisierung dienen.

Lageplan


860–880 Lake Shore Drive und Esplanade Apartments

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Ansicht von Nordosten Verbindung beider Bauten


Bauliche Veränderungen Seitdem die Apartments Ende der 1970er Jahre in Eigentumswohnungen umgewandelt wurden, haben viele Bewohner begonnen, sie umzubauen und auch Wohnungen zusammenzulegen. Allerdings war die Flexibilität bereits Programm. Mittlerweile wurde der Bau grundlegend renoviert. Der Bau aus heutiger Sicht Die hier erprobte Curtain-Wall-Konstruktion, bei der die Vorhangfassade als ein eigenständiges Element vor die Tragkonstruktion gehängt wurde, war nicht nur für Mies’ Werk zukunftsweisend, sondern bestimmt bis heute den Hochhausbau. Die damals experimentelle Verwendung von Aluminium als Baumaterial ist mittlerweile Standard, insbesondere bei Hochhausfassaden. Auch wenn die beiden Gebäude nicht mehr die konzeptionelle Klarheit und den heroischen Geist der benachbarten Vorgängerbauten aufweisen und sie architekturgeschichtlich weniger bedeutend sind als die Türme 860–880, werden die Wohnungen teurer verkauft. Selbst wenn sich der minimalistische Charakter nicht mehr in der gleichen Klarheit zeigt, haben die spektakulären Panoramaausblicke über den Michigan-See in Kombination mit einem höheren technischen Standard, insbesondere bes­seren Aufzügen, nichts an Attraktivität verloren. 1 Dies war jedoch nicht der einzige Rekord. „Esplanade was the tallest concrete building yet constructed in Chicago, and the first with a flat-slab concrete frame. It boasted the city’s first central air-conditioning for a residential tower; one of the first unitized, anodized aluminium curtain walls; and Chicago’s first large-scale use of tinted, heat-absorbing glass.” Franz Schulze und Edward Windhorst, Mies van der Rohe – A Critical Biography, Chicago, London 2012, S. 294.

Außenansicht

Esplanade A partments

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Seagram Building New York, USA, 1954–58

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Grundriss Erdgeschoss


Ansicht von S端dwesten

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Das schlanke Bürohochhaus erhebt sich in der vornehmen New Yorker Park Avenue als ein Monument. Auch wenn sich der rein kubische Baukörper als eine Ansammlung von gleichartigen Fenster­öffnungen darstellt, ist er dennoch auf eine klassische Art drei­geteilt. Es ist eine Sockelzone ausgebildet, da der Bau aufgeständert ist und eine verglaste Eingangshalle überspannt, während der geschlossene obere Bereich mit der Gebäudetechnik ein bekrönendes Element darstellt. Das Bürohochhaus liegt etwa 30 Meter von der Straße zurückgesetzt, so dass ein städtischer Platz entsteht. Dieser Freiraum ist im dicht bebauten New York außergewöhnlich. Während die Bebauung Manhattans üblicherweise die Blocks mit einer durchlaufenden Bauflucht ganz ausfüllt, tritt der Turm von der Zugangsseite als Solitär in Erscheinung. Zwar ist auch dieses Bauwerk abgetreppt und in die bestehende Baumasse eingebunden, doch präsentiert es sich zunächst als ein freistehendes Objekt. Von der hinteren Seite zeigt sich hingegen ein zurückgestaffelter Komplex, der sich wie in New York üblich in die Blockstruktur einordnet. Sogar die Wahrzeichen in der Skyline wie das Empire State Building oder das Chrysler Building sind in die obligatorischen Blocks eingebunden. Als der Bauherr zwischenzeitlich erwog, den Freiraum mit einem Bankgebäude zu bebauen, sah Mies das gesamte Projekt gefährdet. 1 Der mit Granitplatten gepflasterte Platz mit zwei Wasser­becken und seitlich begrenzenden Marmorblöcken ist ein wesentlicher Bestandteil der Architektur, denn er fungiert als ein Podium, über das der Zugang durch Stützenreihen in die Eingangshalle führt. Wie bei einem griechischen Tempel führen ein paar Stufen auf ein erhöhtes Plateau, das sich als eine besondere Sphäre vom geschäftlichen Treiben der Gehwege unterscheidet. Während das Tragwerk aus Stahl konstruiert ist, besteht die vorgehängte Curtain-Wall-Fassade aus Bronze. Die ebenfalls bronzefarben getönten Scheiben betonen die Einheit der Gebäudehaut. Auch wenn das Prinzip von applizierten vertikalen Doppel-T-Trägern von Mies’ Chicagoer Hochhausfassaden übernommen ist, handelt es sich bei diesen Elementen wie auch den Gläsern um Sonderanfertigungen. In zahlreichen Versuchen hatte sich die H-Form der Profile schließlich behauptet, aufgrund des präzisen – wie es Mies formulierte – Spiels von „Kernschatten und Halbschatten“.2 Da die filigrane Gebäudehaut als ein Relief ausgebildet ist, verändert sie ihre Erscheinung mit jeder Wandlung der Lichtverhältnisse. Der Charakter des Gebäudes ist durch die besonders hochwertigen Materialien geprägt. Die Besucher kommen zunächst mit Blöcken aus grünem Marmor in Kontakt, bevor sie auf den vorgelagerten Platz emporsteigen. Auf die Frage, welche Materialien er möge, nannte der Bauherr Bronze. Und tatsächlich bot diese in der Bauindustrie unübliche Legierung aus Kupfer und Zink Vorteile gegenüber Stahl und Aluminium. Bronze ist korrosionsbeständig und weist bei Temperaturschwankungen weniger Bewegungen als Aluminium auf. Die Bronzefassade spiegelt die Skelettstruktur der Konstruktion wider, und in einigen Bereichen sind anstatt der Glasscheiben grüne Marmorplatten in das Fassadenraster eingelassen. Das Achsmaß beträgt 1,41 Meter und ergibt sich aus den als optimal geltenden Bürogrößen sowie aus einer New Yorker­ Verordnung, nach welcher der Turm nur maximal 25 Prozent der Grundstücksfläche einnehmen darf. Mies stellte fest: „Da es mein erster großer Bürobau war, holte ich für die Ausarbeitung der Pläne zweifachen Rat ein. Ich ließ mich vom besten Real-­EstateBüro über die Rentabilität verschiedener Raumtypen b ­ eraten und holte mir professionellen Rat hinsichtlich der New Yorker Bauordnung.“ 3 Mies kooperierte bei dem Bau mit Philip Johnson, über dessen Rolle die Planungsdirektorin Phyllis Lambert schrieb: „Wissend, dass Mies’ primäres Interesse in der Artikulierung der

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Ansichten des Vorplatzes Eckdetail


Ansicht von Nordosten Eingangslobby

Seagram B u ilding

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Struktur, Form und Materialität lag, begriff Philip sofort, dass das Seagram Building eine besondere Gelegenheit bot, die Standard­ elemente eines Bürogebäudes zu verbessern: Türen, Aufzugs­ kabinen, Gerätetechnik, Beleuchtung, Armaturen und Raumteiler sowie Beschriftung und Beschilderung [...] – erweitert auf den Entwurf von ganzen Büroetagen sowie auf die Lichtregie des gesamten Gebäudes. [...] Philip benutzte starke theatralische Effekte.“4 Er gestaltete die Innenräume wie das Restaurant „The Four Seasons“ und entwarf mit dem Lichtplaner Richard Kelly durchlaufende Lichtdecken, die den Bau nachts in ein leuchtendes Objekt verwandeln. Bauliche Veränderungen Die Anlage befindet sich noch immer im Originalzustand. Allerdings hatte sich die ursprüngliche Bepflanzung mit Trauerweiden nicht bewährt und wurde sehr bald durch Ginko-Bäume ersetzt. Umbaumaßnahmen wurden lediglich in den Innenräumen durchgeführt. Im Jahr 2000 gestalteten die Architekten Diller Scofidio + Renfro ein Restaurant. Der Bau aus heutiger Sicht Auch wenn der Bau heute nicht mehr wie ursprünglich aus einer niedrigeren Bebauungsstruktur deutlich herausragt, sondern mittler­weile von gleich hohen und ähnlich abstrakten Türmen umgeben ist, hat er dennoch nichts von seiner Monumentalität verloren. Als Mies den Bau zu konzipieren begann, hatte er für ­Chicago eine „Convention Hall“ in riesigen Dimensionen entworfen, von der er sagte, es sei seine erste Konstruktion von „wahrhaft monumentalem Charakter“.5 Obwohl seine Bauten immer – wie auch die von Peter Behrens – von einer immanenten Monumentalität geprägt waren, bezog Mies diesen Begriff allein auf die schiere Größe: „Aber tatsächlich stellt eine bestimmte Größe eine eigene Realität dar. Nehmen wir die Pyramiden in Ägypten und machen wir sie nur fünf Meter hoch. Das ist gar nichts. Es sind die enormen Dimensionen, die den ganzen Unterschied ausmachen.“6 „So schön das Seagram Building ist“, erklärte Philip Johnson 1978, „ist es immer noch eine oben abgeschnittene Glaskiste. Und so etwas begann uns zu langweilen.” 7 Doch im Rückblick zeigt sich die zeitlose Qualität dieses Gebäudes immer deutlicher, besonders im Unterschied zu den Bauten der letzten Jahrzehnte. Eine besondere Qualität des Seagram Building basiert auf der differenzierten Weise, mit der die gewaltige Größe auf den Maßstab der Fußgänger gebracht wurde. Im Gegensatz zu unzähligen, seitdem gebauten Hochhaustürmen, die keinerlei positiven Effekt auf den vorbeischreitenden Passanten haben, wurde hier ein städtischer Platz geschaffen, dessen Aufenthaltsqualität bis heute täglich beobachtet werden kann. 1 Phyllis Lambert, Building Seagram, New Haven, London 2013, S. 71. Als Tochter des Bauherrn Samuel Bronfman hatte Lambert Mies als Architekten vorgeschlagen und begleitete den Bau als Planungsdirektorin. 2 Lambert 2013, S. 62. 3 Ludwig Mies van der Rohe im Gespräch mit Cameron Alread u.a. am 11.05.1960, zitiert in: Lambert 2013, S. 46. 4 Lambert 2013, S. 122–123. 5 Ludwig Mies van der Rohe im Gespräch mit Katharine Kuh, in: The Saturday Review, 23.01.1965, S. 22. 6 Ludwig Mies van der Rohe in: John Peter, The Oral History of Modern Architecture. Interviews with the Greatest Architects of the Twentieth Century, New York 1994, S. 156, 171. 7 Philip Johnson im Gespräch mit Barbaralee Diamonstein-Spielvogel, in: library.duke.edu/digitalcollections/dsva.

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Fassadendetails Aufzugsdetail


Ansicht von S端dwesten

Seagram B u ilding

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Lafayette Park Detroit, Michigan, USA, 1955–58

Diese grundlegende und umfassende Mies-Monografie betrachtet sein Werk von einem entwurfsbezogenen Standpunkt der Architektur aus: Sie rekonstruiert die Bauten in ihrem realisierten Zustand und sieht sie gleichsam auf Augenhöhe des heutigen Betrachters: als qualitätvolle und nach wie vor inspirierende Architektur eines großen Meisters der Moderne. Das Buch präsentiert 80 realisierte Bauten in chronologischer Folge. Dabei werden 30 dieser Werke in drei Schritten ausführlich analysiert: Im ersten Schritt wird der Bau in seinem ausgeführten Zustand dokumentiert, im zweiten werden die baulichen Veränderungen dargelegt, und der dritte Schritt arbeitet die Ergebnisse dieser Untersuchung hinsichtlich ihrer Relevanz für den heutigen Blick auf Mies’ Schaffen heraus. Sämtliche Grundrisse und Pläne wurden durch den Autor Carsten Krohn neu gezeichnet und ebenso die Fotografien stammen von ihm.

www.birkhauser.com

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Grundriss Erdgeschoss


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