Jože Plečnik Für eine humanistische Architektur
Tomáš Valena
Jože Plečnik Für eine humanistische Architektur Vorwort von Jörg Stabenow
Birkhäuser Basel
Tomáš Valena Mit einem Vorwort von Jörg Stabenow, D-Marburg
Die vorliegende Publikation ist erstmalig 2013 in slowenischer Sprache erschienen: Originaltitel: Tomáš Valena, O PLEČNIKU Layoutkonzept: Anja Valena (geb. Maležič) Copyright © Celjska Mohorjeva družba und Tomáš Valena, 2013
Redaktion: Andrej Valena, D-Tirschenreuth Acquisitions Editor: David Marold, Birkhäuser Verlag, A-Wien Content & Production Editor: Katharina Holas, Birkhäuser Verlag, A-Wien Korrektorat: Thomas Lederer, A-Wien Layout, Covergestaltung und Satz: Ekke Wolf, A-Wien, nach einer Vorlage von Anja Valena (geb. Maležič), D-Tirschenreuth Litho: Pixelstorm Litho & Digital Imaging, A-Wien Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, D-Bad Langensalza
Library of Congress Control Number: 2021938524 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.
ISBN 978-3-0356-2406-9
© 2022 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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Inhaltsverzeichnis Vorwort Jörg Stabenow
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Einführung
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Gärten und Höfe Plečniks Eingriffe im Kontext der Prager Burg
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Plečnik, Masaryk und die Antike oder eine Architektur für die neue Demokratie
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Jenseits der Manifeste Der Fall Josef P. und die Prager Architektur
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Plečniks Paradiesgarten auf der Prager Burg Ideengeschichte des Entwurfs
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„Josip Plečnik – Architektur für die neue Demokratie“ Dokumentation der Ausstellung auf der Prager Burg 1996
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Plečniks Plan für Split Reflexionen über das Geschichtsverständnis eines Baukünstlers
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Inspiration Rom Italienische Motive bei Plečnik
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„… mir alles Verständnis mangelt …“ Plečniks Haltung zum Terrain
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Kontinuität der Baukunst und Innovation aus dem Ort Themen und Raumkonzepte der Kirchenumbauten bei Plečnik
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Plečniks L jubljana als humanistischer Stadtumbau
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Quellen
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Vorwort Jörg Stabenow In der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts gehört Jože Plečnik (1872–1957) zu den unübersehbaren Einzelgängern. Generationsgenosse von Frank Lloyd Wright, Peter Behrens, Auguste Perret und Adolf Loos, partizipierte er in den Jahren vor 1914 intensiv an der Grundlegung einer frühen Moderne. Seit den 1920er-Jahren verfolgte er dagegen zunehmend einen eigenen Weg, der nur noch partiell mit der internationalen Architekturentwicklung korrespondierte. In drei mitteleuropäischen Zentren fand der in Ljubljana geborene Plečnik – teils sukzessive, teils simultan – die wesentlichen Schauplätze seiner Arbeit. In Wien, bis 1918 Metropole der Donaumonarchie, empfing er als Schüler und Mitarbeiter Otto Wagners prägende Impulse. Zu Beginn des Jahrhunderts verwirklichte er dort zwei Schlüsselwerke der Epoche, das Zacherlhaus (1903–1905) als Baustein der Wiener City-Bildung und die Heilig-Geist-Kirche (1910–1913) als vorstäd tischen Sakralbau. 1911 ging Plečnik nach Prag, um eine Professur an der Kunstgewerbeschule zu übernehmen. In der neu gegründeten Tschechoslowakei erhielt er 1920 den überaus ehrenvollen Auftrag, die Prager Burg zum Sitz des Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk umzubauen. Im selben Jahr folgte er dem Ruf auf den Lehrstuhl für Architektur an der Universität seiner Vaterstadt Ljubljana, nunmehr Zentrum der slowenischen Volksgruppe im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. In Ljubljana wurde er zum tonangebenden Architekten und errichtete dort – parallel zu seiner Arbeit in Prag – signifikante Bauten wie das Gebäude der Vzajemna zavarovalnica (Wechselseitige Versicherungsanstalt, 1928–1930), die Universitätsbibliothek (1936–1941) und das Aussegnungsgelände des Stadtfriedhofs Žale (1938–1940). Neben solchen Bauprojekten realisierte er zahlreiche prägnante Interventionen im urbanen Raum, unter denen die A nlage des Tromostovje (Drei Brücken) am Flussknie der Ljubljanica (1929–1932) ikonische Berühmtheit erlangt hat. Hinzu kommen die Originalität und Vielfalt der Kirchenbauten, die er an verschiedenen Standorten zwischen Prag und Belgrad verwirk lichen konnte. Es sind somit Gemeinschaftsaufgaben im weitesten Sinne, denen Plečniks Interesse vor allem galt. Wohnbauten entwarf er gelegentlich, technisch-industrielle Bauaufgaben nur ausnahmsweise. Im Spektrum der Aufgaben spiegeln sich die für ihn bestimmenden Ideenwelten: zum einen die slawischen Nationalbewegungen im Kontext des tschechoslowakischen und jugoslawischen Nation-Building, zum anderen die Kultur und Glaubenspraxis des zeitgenössischen Katholizismus. Zentrales Kennzeichen seiner entwerferischen Arbeit ist das Festhalten an der architektonischen Tradition und am Schatz der historischen – insbesondere klassischen – Einzelformen. Allerdings verwendete er das klassische Formenrepertoire – anders als zeitgenössische Neoklassizisten – in freier, nicht selten bewusst verfremdender Weise. Stets galt für ihn der Primat des Künstlerischen gegenüber den konstruktiven und funktionalen Koordinaten des Bauens. Diese Haltung manifestiert sich in der Vielgestaltigkeit und im häufig pointierten Individualismus seiner Formfindungen. Ein hohes Bewusstsein für die Materialität und die plastischen Qualitäten architektonischer Formen begleitet seine Arbeit. Weiterer bestimmender Zug ist das Interesse für den Städtebau auf allen Maßstabsebenen. Sein Erfahrungsspektrum auf diesem Gebiet reicht von der Planung ausgedehnter Stadterweiterungen über die Modellierung innerstädtischer Raumsequenzen bis zur feinmaschigen städtebaulichen Einpassung seiner Bauten. Bezogen auf die Maßstäbe architektonischer Modernität, die sich im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts etablierten, lässt sich die solitäre Position Jože Plečniks als „antimodern“ beschreiben. Aus übergreifender Perspektive hat sie jedoch selbst Anteil an einer plural verstandenen Moderne, die eine Vielzahl konkurrierender und divergierender Ansätze umschließt. Dezidiert modern erscheinen heute besonders Plečniks kreativer Umgang mit dem Bestehenden und die Beweglichkeit seiner stadträumlichen Interventionen. Dieses spezifische und zukunftsweisende Potenzial der Arbeit Plečniks freigelegt zu haben, ist wesentliches Verdienst des Architekten, Architekturtheoretikers und Städtebau-Lehrers Tomáš Valena (1950–2019). Um 1980 stieß er zur kleinen Gruppe derjenigen,
Gärten und Höfe Plečniks Eingriffe im Kontext der Prager Burg
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Prager Burg, Plečniks Umbauten der Gärten und Höfe (Tomáš Valena).
A Hirschgraben B Pulverbrücke C Basteigarten 1 Doppelkegeltreppe 2 Portikus und Rampen zum Spanischen Saal 3 Pergola über den Ausgrabungen 4 Treppe in den Hirschgraben 5 Treppe und Steg zur Pulverbrücke D Erster Burghof 6 Löwensaal
7 Flaggenmaste vor dem Matthiastor 8 Säulenhalle E Zweiter Burghof 9 Zufahrt zur Präsidentenwohnung 10 Treppe und Aufzug zur Präsidenten wohnung 11 Wohnung des Präsidenten F Dritter Burghof 12 Obelisk 13 St.-Georgs-Brunnen
GÄRTEN UND HÖFE
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14 Überdachung der Ausgrabungen 15 Rampe zum Hof des Alten Königspalastes 16 Adlerbrunnen 17 Stiertreppe G Veitsdom H St.-Georgs-Basilika I Allerheiligenkirche J Paradiesgarten 18 Monumentaltreppe 19 Geplanter Obelisk
20 Treppe zur Halle unter der Monumentaltreppe 21 Parterre mit Granitschale 22 Ausgang aus der Präsidentenwohnung 23 Gang zur Matthias-Altane K Wallgarten 24 Barocker Brunnen 25 Kleine Aussichtsaltane 26 Halbrunde Aussichtsterrasse mit Pyramide 27 Slavata-Denkmal
28 Gartentor zum Alpinum 29 Bellevue 30 Herkulesbrunnen 31 Mährische Bastei L Neue Schlossstiege
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Westspitze des Paradiesgartens mit Resten der zweiarmigen Treppe, Dezember 1919.
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Prager Burg mit Paradiesgarten und Wällen nach einer Radierung von Folpert van OudenAllen, 1680.
Jože Plečnik auf der Prager Burg, das sind im Bewusstsein der Besucher in erster Linie Höfe und Gärten und darin verstreut Kleinarchitekturen ungewöhnlicher Formensprache: Flaggenmaste, St.-Georgs-Brunnen, der Baldachin der Stiertreppe, Pyramide oder Granitschale in den Gärten. Es überrascht also nicht, dass auch Plečniks Ankunft auf der Prager Burg mit der Umgestaltung der Außenanlagen zusammenhängt. 1 Der Burgarchitekt Jože Plečnik wurde als „Gartenarchitekt“ berufen und seine erste Aufgabe bestand in einem Lösungsvorschlag für die westliche Spitze des Paradiesgartens. Aus heutiger Sicht erscheint der Elan überraschend, mit dem sich die damalige Burgverwaltung gerade der Gärten angenommen hatte, waren doch nicht nur diese, sondern die ganze Burg nach der Gründung der Republik in einem bedauernswert verwahrlosten Zustand. Karel Fiala, der spätere Burgbaumeister, bot damals seine Dienste in erster Linie als Fachmann auf dem Gebiet des Gartenbaus an.1 Bereits im August 1919 wurde dann der Gartendirektor František Josef Thomayer2 als der wohl namhafteste Gartenbauexperte des Landes unter Vertrag genommen. Er legte bald darauf einen Plan zur Umgestaltung der südlichen Gärten von Westen bis zu dem sogenannten Vladislav-Flügel vor. Der Vorschlag ging radikal mit dem Baumbestand um und änderte die historische Achse des Paradiesgartens. Trotzdem wurde mit den Vorbereitungsarbeiten vermutlich sofort begonnen, denn Ende des Jahres wurden bei Erdarbeiten im westlichen Zipfel des Paradiesgartens Reste einer zweiarmigen Treppenanlage freigelegt.3 Und gerade diese Treppe sollte beim weiteren Schicksal der südlichen Gärten eine entscheidende Rolle übernehmen. 2 Das hinzugezogene Denkmalamt verlangte freilich die Erhaltung der Treppenreste, und die Präsidentenkanzlei – offensichtlich unzufrieden mit den radikalen Eingriffen Thomayers – nahm dies zum Anlass, von seinem Plan gänzlich Abstand zu nehmen. Nicht eine „gärtnerische“, sondern eine architektonische Lösung, mit Rücksicht auf die Umgebung und die Reste der „monumentalen“ Treppenanlage, wurde jetzt verlangt. Zum ersten Mal taucht in der Diskussion dieses Prädikat auf, das so grundsätzlich das Gartenkonzept Plečniks beeinflussen sollte. Auch das Grundthema seiner Umbaumaßnahmen der Prager Burg ist hier bereits angedeutet: das Neue im Dialog mit dem Ort und seiner historischen Sedimentation zu entwickeln. Unter diesen veränderten Umständen und vielleicht auch um den neuen demokratischen Gepflogenheiten Genüge zu tun, wurde am 27. Januar 1920 ein öffentlicher Wettbewerb für die Gestaltung des Paradies- und des Wallgartens ausgeschrieben. In die Wettbewerbsjury wurden Vertreter der drei Prager Architekturschulen berufen, nämlich Jan Kotěra4, Antonín Balšánek und Jože Plečnik, sowie der Kunsthistoriker Zdeněk Wirth. Die offensichtliche Ablehnung einer „gärtnerischen“ Lösung führte, ungeachtet der Proteste der Fachgremien, dazu, dass kein Gartenarchitekt in die Jury berufen und der Wettbewerb nicht einmal in den Verbandsorganen der Landschaftsarchitekten veröffentlicht wurde. Im März wurde der Wettbewerb entschieden und die Jury empfahl den ersten Preis (Architekten Julius Schmiedl und Miloš Fikr) oder den zweiten Preis (Gartenarchitekt Josef Kumpán) zur Ausführung. Die Kanzlei des Präsidenten (vertreten durch den Ab teilungsleiter František Blažek) beschloss als Grundlage für die endgültige Lösung den zweiten Preis zu nehmen, überraschenderweise also den Vorschlag eines Gartenarchi tekten und nicht, wie man nach dem bisherigen Lauf der Dinge erwarten würde, die modernere, architektonische Lösung, die mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Dürfen wir in dieser Entscheidung vielleicht schon einen taktischen Schachzug der Präsidentenkanzlei vermuten: mit der Rekonstruktion einen „Gärtner“ zu beauftragen, der bei der verlangten „architektonischen Lösung“ nicht ohne die Zusammenarbeit mit einem Architekten auskommt? Wie dem auch gewesen sei, die Fachkommission, die aus der Wettbewerbsjury hervorgegangen ist (und später zur Kunstkommission der Prager Burg wurde), kam zu dem Schluss, dass keiner der Wettbewerbsbeiträge den Hof in der westlichen Spitze des Gartens zufriedenstellend gelöst hatte und folglich „die Lösung dieser wichtigsten Stelle einem herausragenden Künstler-Architekten“ anzuvertrauen sei, und zwar nach einhelliger Meinung der Kommission „dem Herrn Professor Plečnik“5. Gleichzeitig wurde dieser gebeten, Pläne für die Zufahrt zu der Wohnung des Präsidenten, das angrenzende Vestibül sowie Vorschläge für die elektrische Beleuchtung der Burghöfe auszuarbeiten. Damit wurden bereits die Hauptbereiche seiner künftigen Tätigkeit auf der
GÄRTEN UND HÖFE
Prager Burg umrissen. Es ging also um Höfe und Gärten – um die klassische öffentliche Raumtypologie des Wohnsitzes eines kultivierten Edelmannes, wie wir sie seit der Renaissance kennen. Aus den Archivquellen geht hervor, dass sich Blažek, nachdem er Plečnik in der Wettbewerbsjury kennengelernt hatte, intensiv bemühte, diesen Architekten für die Prager Burg zu gewinnen. Dabei wurde er von Kanzler Přemysl Šámal nach Kräften unterstützt. Unmittelbar nach Abschluss des Wettbewerbs hatte Blažek Plečnik vorgeschlagen, beim Umbau der Burg mit dem renommierten Bildhauer Jan Štursa zusammenzuarbeiten.6 Der offizielle Vorschlag, Plečnik zu beauftragen, wurde Präsident Tomáš Garrigue Masaryk vorgelegt, der ihn am 28. April 1920 unterzeichnete. Bereits im Sommer hatte Plečnik intensiv mit der Bauverwaltung der Burg zusammengearbeitet, beschäftigte sich mit Gärten und Höfen, wurde immer wieder um Entscheidungen bei den verschiedensten Baumaßnahmen gebeten und fand sich nach und nach faktisch in der Rolle eines bevollmächtigten Burgarchitekten wieder. Und genau um diese Art der Formalisierung der Beziehung und damit auch der langfristigen Bindung Plečniks an die Prager Burg hat sich die Präsidentenkanzlei bemüht, spätestens seit in Prag die Kunde von der Berufung Plečniks an die Universität in Ljubljana verbreitet wurde.7 Als Ende Oktober die Künstlervereinigung „Mánes“ um eine Audienz beim Präsidenten der Republik ersuchte, um (wie früher bereits andere auch) vorzuschlagen, eine hervorragende Künstlerpersönlichkeit auf den Posten des Burgarchitekten zu berufen, und diese konkret vorgeschlagene Persönlichkeit offenbar Plečnik sein sollte, war diese Angelegenheit auf der Burg bereits entschieden.8 Am 5. November 1920 traf Plečnik zum ersten Mal mit Präsident Masaryk zusammen, der ihn dann am 19. November offiziell zum Architekten der Prager Burg bestellte.
Unerträgliche Leichtigkeit der südlichen Gärten Das südliche Vorfeld der Burg muss man sich ursprünglich kahl vorstellen. Von Wällen und Gräben durchzogen, diente es der Burg als bequeme Abfalldeponie. Der ganze Bauschutt wurde ebenfalls dorthin geschüttet, vor allem nach dem katastrophalen Brand von 1541. Dies führte langsam zur Abflachung des zunächst sehr steilen Hanges und mit der Zeit bildete sich hier eine Terrasse. Als sich Erzherzog Ferdinand Mitte des 16. Jahrhunderts an der Südseite der Burg einen neuen Palast baute, verspürte er – durchaus im Geiste der Renaissance – auch das Bedürfnis nach einem kleinen Privatgarten direkt vor dem Palast. Zu diesem Zweck wurde
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Alle nachfolgend erwähnten Dokumente ohne genauere Quellenangaben entstammen dem Archiv der Prager Burg. 1 Siehe Brief von Karel Fiala vom 6.12.1919, in dem er sich als Gartenarchitekt und Numismatiker vorstellt und konkret eine gründliche Bestandsaufnahme des Gartenzustandes anbietet. Fialas Herkunft aus dem Gartenbau erklärt wenigstens zum Teil seine später gespannte Beziehung zu Plečnik, der als Architekt (bis zu diesem Zeitpunkt) ohne spezifische Erfahrungen mit Gärten über diese die Planungshoheit übernommen hatte. 2 Nach der Meinung von Jan Kotěra war Thomayer von den „Gartenfachleuten der beste … Andere unsere Gärtner sind ihm nicht ebenbürtig …“ Protokoll der ersten Jurysitzung zum öffentlichen Wettbewerb …, 27.1.1920. 3 Bericht von Pavel Janák, dem Nachfolger Plečniks im Amt des Burgarchitekten, über die Bautätigkeit auf der Prager Burg im Jahr 1919. 4 Jan Kotěra verlässt nach der ersten Sitzung die Jury, weil er bei der gegebenen Aufgabe mit einem öffentlichen Wettbewerb nicht einverstanden ist (siehe Briefverkehr vom 27.1, 29.1. und 4.2.1920). Zu seinem Nachfolger wurde Antonín Engel bestimmt. 5 Protokoll der Sitzung der Fachkommission vom 13.5.1920. 6 Blažeks Bericht vom 19.4.1920. Auch aus späteren Briefen Blažeks an Plečnik sind sowohl seine innige Freundschaft als auch seine Bewunderung und sein absolutes Vertrauen in Plečniks künstlerische Fähigkeiten ersichtlich. 7 Plečnik wurde am 16.6.1920 als Professor für Architektur an die neu gegründete Universität in Ljubljana berufen, nachdem der Erstangefragte Max Fabiani abgesagt hatte. 8 Die Abordnung der Künstlervereinigung „Mánes“ übergab bei der Audienz am 30.10.1920 ein schriftliches Memorandum, in dem sie bedauert, dass der Dombaumeister Kamil Hilbert nach dem ihm angetanen Unrecht für eine weitere Zusammenarbeit mit der Burgverwaltung nicht mehr zur Verfügung steht. Plečnik wird in dem Schriftstück nicht erwähnt. Aus der Antwort der Präsidentenkanzlei vom 19.11.1920 geht aber hervor, dass während der Audienz konkret von Plečnik die Rede war, ob nun auf Initiative von „Mánes“ oder der Präsidentenkanzlei. Zum Ausschnitt aus der Tageszeitung Lidové noviny vom 30.11.1920, in dem die Künstlervereinigung „Mánes“ als Initiator der Berufung Plečniks in das Amt des Burgarchitekten dargestellt wird, vermerkt Blažek: „Oho! Dies ist nicht Verdienst von ‚Mánes‘, sondern das Ergebnis meiner ganzjährigen Bemühung, herzlich unterstützt vom Herrn Kanzler. ‚Mánes‘ kam mit dem Vorschlag, als alles schon fertig war.“
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Barocker Brunnen im Paradiesgarten, 1919.
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Prager Burg nach dem unter Nicolò Pacassi durchgeführten Umbau, Axonometrie von Daniel Huber aus dem Jahr 1769.
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Prager Burg, Vincenc Morstadt, ca. 1830.
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Eingang zum Paradiesgarten von der Neuen Schlossstiege, um 1920.
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Mauerdurchbruch zum Paradiesgarten beim Transport der Granitschale, 1924.
Kontinuität der Baukunst und Innovation aus dem Ort Themen und Raumkonzepte der Kirchenumbauten bei Plečnik
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„Noch nie habe ich abgebrochen, was unsere Väter gut gemacht hatten.“1 Diese Aussage Plečniks in einem Brief an den Auftraggeber der Bogojina-Kirche, den Pfarrer Ivan Baša, verweist auf seine grundsätzlich kontextuelle Haltung beim Entwerfen. Sie erinnert in frappanter Weise an eine Stelle aus einem anderen Brief, den Plečnik nicht kennen konnte: „Man will das, was bereits gebaut ist, verbessern, und jenes, was noch getan werden muss, nicht verderben.“ Dies schreibt der große Renaissancetheoretiker Leon Battista Alberti an den ausführenden Architekten, der sein Umbauprojekt San Francesco in Rimini betreut. Und Rudolf Wittkower bestätigt, dass es Albertis „professionelle Überzeugung [war] …, die Kontinuität zwischen alten und neuen Teilen zu wahren und gleichzeitig das Werk der Vorgänger zu verbessern“2. Man ist geneigt, dies auch für Plečnik, der die alten Architekturtheoretiker in hohen Ehren gehalten hatte, gelten zu lassen. Eine Fülle von Umbau- und Erweiterungsprojekten scheint dies zu bestätigen – allein auf dem Gebiet des Sakralbaus sind es etwa 15.3 Mehr noch, Plečnik scheint den vorgefundenen Baubestand als eine willkommene Quelle der Inspiration betrachtet und ihn als Herausforderung bewusst akzeptiert zu haben. Das Thema der Kirchenerweiterungen bei Plečnik ist relativ gut bearbeitet.4 Über die infrage kommenden Realisierungen und Projekte wurde aus der Sicht der Historiografie, der Gestaltung, der Ikonografie, der stilistischen und architekturgeschichtlichen Einordnung oder vom Standpunkt der Denkmalpflege bereits einiges veröffentlicht. Als entwerfenden Architekten interessieren mich aber vornehmlich andere Fragen: Welche Rolle spielt bei der Ideenproduktion bzw. Ideenfindung der vorgefundene Bestand, der konkrete Ort und welche die unabhängig von der gegebenen Situation entwickelten liturgischen Raumkonzepte? Wie werden also im kreativen Entwurfsprozess des Architekten die Aspekte des Topos und des Typus zu Lösungen im Spannungsfeld zwischen Innovation und Tradition verarbeitet? Die kontextuelle Sensibilität im Entwurfsprozess von Plečnik ist wohlbekannt, sie gehört zu meinen eigentlichen Forschungsschwerpunkten und ich habe sie an vielen Einzelbeispielen zu belegen versucht. Andererseits ahnen wir die Bedeutung Plečniks bei der Entwicklung von neuen liturgischen Raumkonzepten im katholischen Kirchenbau am Anfang des 20. Jahrhunderts, weg von den traditionellen Typologien der „langen“ oder der Zentralkirche, hin zum Typus des breiten, nahezu quadratischen Hallenraums mit integriertem Altarraum oder gar zu einer „breiten Kirche“. Dieser wichtige Beitrag Plečniks wurde im Kontext des europäischen Kirchenbaus noch nicht umfassend und schon gar nicht ausreichend bearbeitet, und es wäre ein Forschungsdesideratum, dies nachzuholen. Mit der vorliegenden Untersuchung kann diese Lücke nicht geschlossen werden, vielmehr möchte ich versuchen, anhand von einigen Einzelbauten bzw. zeitlich zusammenhängenden Projektgruppen die dynamische Wechselwirkung von Typus und Topos auf die Ideenfindung bei Raum- und Baukörperkonzepten der Kirchenumbauten Plečniks aufzuzeigen.
Projekt für die Kirchenerweiterung des Marienheiligtums in Trsat bei Rijeka
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Loreto: „Campanile, Arkaden und Kuppel“.
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Marienheiligtum in Trsat.
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Trsat, erste Entwurfsvariante, Erdgeschoss, Jože Plečnik, 1908.
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Trsat, Kirchenumbauplanung von Anselm Werner, Erdgeschoss, Juli 1908.
Bei dem Marienheiligtum und Wallfahrtsort Trsat bei Rijeka handelt es sich um ein natio nales Monument ersten Ranges – machten doch der Legende nach die müden Engel, die das Haus Mariens von Palästina nach Loreto transportiert haben, im Jahr 1291 für drei Jahre zunächst einen Zwischenstopp in Trsat. Plečnik nimmt den umgekehrten Weg. Auf seiner Studienreise nach Italien besucht er zunächst am 21. Januar 1899 Loreto. 1 Er berichtet von der Wirkung der Kuppel und des Campanile, erwähnt die Arkaden vor der Kirche und ist von der Casa Santa begeistert. Der kleinen Nichte Marija Matkovič berichtet er liebevoll von der Einbettung des Ortes in die Landschaft: „Die Kirche steht auf dem Hügel, rundherum Berge und eine schöne Landschaft, und hinten funkelt das Meer.“5 Trsat, das dieser Lagebeschreibung perfekt entspricht, und seine Casa Santa besucht er erst neun Jahre später. Wir werden aber auch dort der Kuppel, dem Campanile und den Arkaden begegnen. Die Franziskaner von Trsat 2 wollten die alte Kirche umbauen und vor allem vergrößern.6 Der Wiener Bauunternehmer Benno Brausewetter ist am 28. November 1908
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1 Aus einem Brief an Ivan Baša, in: Vilko Novak, „Izpovedi in pričevanja o Jožetu Plečniku“, in: Znamenje, 7, 1977, 1, S. 60. Zitiert nach: Peter Krečič, „Arhitekt Jože Plečnik v Prekmurju v luči zbirk Architekturnega muzeja“, in: Arhitekt Jože Plečnik v Prekmurju. Posvetovanje Slovenskega umetnostnozgodovinskega društva, 25. in 26. septembra 1997, M oravske Toplice, Ljubljana 1998, S. 56. 2 Rudolf Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism, New York 1971, S. 43 und 45. 3 Mit 13 ausgeführten Kirchenerweiterungen kommt ihm wohl nur noch Clemens Holzmeister nahe. 4 Siehe die Standardwerke über Plečnik von Peter Krečič und Damjan Prelovšek (siehe Anmerkung 1 in der Einleitung der vorliegenden Publikation) sowie Einzelmonografien wie Peter Krečič, Bogojina. Plečnikova cerkev Gospodovega vnebohoda, Murska Sobota 1997. 5 France Stelè, Arh. Jože Plečnik v Italiji 1898–99, Ljubljana 1967, S. 117–121. 6 Die ersten Pläne liefert bereits 1905 der Grazer Architekt Hans Pascher im neoromanischen Stil. Siehe Marina Vicelja, „Neobjavljeni nacrti pregradnje crkve Majke Božje na Trsatu početkom XX. stoljeća“, in: Prošlost i sadašnjost Trsatskog svetišta, Dometi, 1, 2, 3, Jahrgang 24, Rijeka 1991, S. 116.
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23 Die Kirche von Bogojina vom Westen. 24 Bogojina. Die modulare Ordnung der neuen Kirche bezieht sich auf die drei Joche der alten Kirche. 25 Die neue Kirche umschließt die alte. 26 Blick von der neuen Kirche zur alten. 27 Santo Stefano Rotondo in Rom. Eine Bogenwand auf zwei Säulen trägt eine flache Holzdecke.
gedreht. In der alten Kirchenachse wird hinter dem bestehenden Turm ein neuer, runder angefügt, der den Radius der romanischen Apsis wiederholt. Der alte Turm und die Apsis durchstoßen sichtbar und mit einer einheitlichen Höhe das neue Dach. Die alte Kirche wird von allen Seiten, auch von oben, von Raumschichten eingehüllt, sozusagen eingepackt oder, um mit Gottfried Semper zu sprechen: bekleidet. 24, 26 Der neue Kirchenraum entwickelt sein Maßsystem und seine Proportionen aus den drei Modulen der alten Kirchenjoche und aus der Breite des alten Turms.25 Die Gurtbögen des alten Tonnengewölbes mögen zu dem bestimmenden Bogenmotiv der neuen Kirche zusätzliche Inspiration geliefert haben. Der Anstieg des Bodens zwischen der alten und der neuen Kirche ist dem ansteigenden Gelände des Hügels geschuldet.26 Alles in allem also nicht wenig, was aus dem Ort, aus dem einverleibten Baubestand in den Kirchenentwurf eingeflossen ist. Obwohl der Hauptraum der Kirche prinzipiell dem Hallentypus zuzurechnen ist, überwiegen doch in Bogojina die dynamischen Elemente, die eindeutig der Auseinandersetzung mit der alten Kirche geschuldet sind, und das gleichermaßen außen wie innen. 25 Auch Friedrich Achleitner sieht den neuen Raum-
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gedanken aus dem Thema des Altbaus entwickelt. Für ihn ist Plečnik „ein Großmeister der Anwesenheit der Geschichte“. Unverhohlen ist seine Begeisterung über die Kirche in Bogojina, die für ihn ein „unbeschreibbares räumliches Kunstwerk“ darstellt. „Was Plečnik von allen anderen Architekten seiner Zeit abhebt, ist, dass er es nicht nötig hat, für neue Gedanken eine neue Sprache zu entwickeln. Obwohl scheinbar mit konventionellen Mitteln bauend, besitzt er im Architektonischen und Räumlichen einen unvorstellbaren Erfindungsreichtum.“27 Die konventionellen Motive der überkommenen Architektursprache in Freiheit, innovativ angewendet – diese Freiheit rührt bei Plečnik aus der Offenheit gegenüber der Ansprache des Ortes.28 Dies hatte er auf der Prager Burg, insbesondere in den Gärten, in den vergangenen vier Jahren erfolgreich eingeübt. In Bogojina lässt sich dies exemplarisch an der „Erfindung“ der zentralen Säule, die über vier Bögen die flache Holzdecke trägt, nachweisen. Das Motiv, die „konventionellen Mittel“, kommen aus Rom, wo sich Plečnik, wie bekannt, oft seine Inspiration holt.29 27, 28 In Santo Stefano Rotondo tragen zwei mitten in der Rotunde stehende Säulen eine Bogenwand mit Entlastungsöffnungen, die ebenfalls eine flache Holzdecke trägt. Dieses lineare, konstruktive, römisch-antike Motiv entwickelt Plečnik, bedingt durch die örtlichen Gegebenheiten der drei Joche der alten Kirche, zu einem asymmetrischen, auf eine einzige Säule bezogenen Raumkunstwerk. Das duale Prinzip des Entwerfens im Spannungsfeld zwischen Typus und Topos hört sich in Plečniks eigener Diktion dann so an: „Mich hatte zweierlei zur Arbeit getrieben: Das Problem der Kirche im Allgemeinen … [und] eine sonderbare, stille Liebe zu Prekmurje.“30
25 Zur Proportionierung der neuen Kirche siehe auch Tine Kurent, „Red in simbolizem v merah Plečnikove Bogojine“, in: Sinteza, 56–68, 1984. Im Detail gestaltete sich die Übernahme der modularen Struktur der alten Kirche schwierig. Die drei Joche variieren in der Breite zwischen 350 und 387 Zentimetern. Um die drei Öffnungen zur neuen Kirche trotzdem von beiden Seiten annähernd symmetrisch erscheinen zu lassen, wurden innerhalb der dicken Laibung teilweise zwei verschieden breite, zueinander verschobene und hintereinandergeschaltete Bögen angeordnet. Trotzdem weichen die tatsächlichen Maße von den Planmaßen zum Teil erheblich ab. 26 Und nicht, wie oft vermutet, irgendwelchen liturgischen Ideen. 27 Friedrich Achleitner, „Die Stellung der Kirche von Bogojina im Sakralbau der Zwischenkriegszeit oder von der Freiheit des architektonischen Denkens“, in: Arhitekt Jože Plečnik … (siehe Anmerkung 1), S. 34. 28 Siehe z. B. Tomáš Valena, Beziehungen. Über den Ortsbezug in der Architektur, Berlin 1994, S. 119–124. 29 „Wir haben eine eigene originelle Kraft, doch werden auch wir sie uns noch öfters in Rom holen müssen.“ Plečniks Brief aus Rom an Bruder Andrej vom 23.4.1899, AML. Auch in: Stelè 1967 (siehe Anmerkung 5), S. 175. 30 Aus einem Brief an Ivan Baša, in: Novak 1977 (siehe Anmerkung 1), S. 58 f. Zitiert nach: Krečič 1997 (siehe Anmerkung 4), S. 14.
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28 Das Raumkunstwerk der Kirche von Bogojina. 29 Erweiterung der Friedhofskirche sv. Krištof neben dem geplanten „Hram slave“ in Ljubljana, Jože Plečnik, 1933/34.
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Kirchenerweiterungen der 1930er-Jahre In der Zeit des Trsat-Projekts kämpfte Plečnik von Wien aus noch um die Anerkennung als Architekt. In den 1920er-Jahren, als er die Kirche in Bogojina konzipierte, stand er im Zenit seiner schöpferischen Kraft, wurde in Prag von Präsident Masaryk als „Meister“ umworben und war dabei, auch in seiner Heimat Fuß zu fassen. In den 1930er-Jahren war er dort bereits fest etabliert, mit vielfältigen Aufgaben gut beschäftigt und dabei, sich von seinen Verpflichtungen in Prag zu lösen. Die großen, programmatischen Kirchenprojekte, sein Beitrag zur Reform des katholischen Sakralbaus, waren gebaut oder befanden sich im Prozess der Fertigstellung. Plečnik war in seinen reifen Sechzigern, sein Kirchenraumrepertoire und die entsprechenden Motive waren weitgehend ausgebildet und erprobt. Es scheint, dass er an die vielen kleineren an ihn herangetragenen Kirchenumbauprojekte, gestützt auf zuverlässige Mitarbeiter aus den Reihen seiner Schüler, pragmatisch herangegangen ist. Bei den Eingriffen in die historische Bausubstanz deckte ihm sein treuer Freund, der slowenische Landeskonservator France Stelè, den Rücken, bei der Umgestaltung der Umgebung der von ihm bearbeiteten Kirchen in Ljubljana konnte er auf volle Unterstützung seines Freundes Matko Prelovšek, des Vorstehers des städtischen Bau amtes, rechnen.
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30 Sv. Krištof, Durchblick von der neuen zur alten Kirche über den dreieckigen Zwischenraum. 31 Erster Vorschlag zur Erweiterung von sv. Krištof, Jože Plečnik, 1919. 32 Sv. Krištof, Doppelkirchenfassade. 33 Erweiterung der alten Kirche in Rakek zur neuen Herz-Jesu-Pfarrkirche, Grundriss, Jože Plečnik, 1934–1938. 34 Die alte Kirche in Rakek. 35 Kirche in Rakek, Südansicht mit dem alten Turm. 36 Kirche in Rakek, Längsschnitt. 37 Palimpsest aus Alt und Neu: Kirche in Rakek, Detail der Südfassade.
In den 1930er-Jahren konnte Plečnik zwei Kirchenerweiterungen realisieren. Die barocke Friedhofskirche sv. Krištof in Ljubljana-Bežigrad sollte für die neu gegründete Pfarrei vergrößert werden. Ende der 1920er-Jahre arbeitete Plečnik an dem Regulierungsplan für den neuen Stadtteil Bežigrad31 („Svetokriški okraj“) und im Zusammenhang damit entwickelte er auch Ideen für die unmittelbare Umgebung der kleinen Friedhofskirche. Hier plante er eine monumentale Kirche, den „Hram slave“ (Ehrentempel). 29 Deswegen betrachtete er die 1933/34 realisierte Kirchenerweiterung lediglich als ein Provi sorium, das später als Pfarrsaal genutzt werden könnte. Vor diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, dass die Kirchenerweiterung relativ lapidar und pragmatisch erfolgte: Die neue Kirche wurde der alten an die Seite gestellt, allerdings in einem spitzen Winkel, wegen des geänderten Verlaufs der nun regulierten Straße, zu der sie sich im rechten Winkel stellte.32 31 Der neue Kirchenraum wiederholt mit seinen vier Raum modulen den ebenfalls vierteilig strukturierten Bestand. Der Neubau überlässt dem hohen alten Kirchenschiff mit seinem seitlichen Turm die dominante Position in der Baugruppe. 32 Das Resultat ist eine additive Lösung, eine Gesamtkomposition höherer Ordnung entsteht nicht. Lediglich der Zwickel zwischen den beiden Kirchenräumen lässt die Spannung eines Dialogs erahnen, indem die drei Raumzonen über die zwei mit Bogenreihen geöffneten Wände miteinander in Beziehung treten.33 30 Bei der Erweiterung der alten Kirche in dem kleinen Ort Rakek zur neuen Herz-JesuPfarrkirche, 1934–1938, 33, 34 verfuhr Plečnik ähnlich wie bei der Kirche in Bogojina: Er drehte die Hauptachse um 90 Grad, fügte nach Süden den neuen Kirchenraum und nach Norden eine geräumige Vorhalle an. Die alte Kirche, mitsamt dem Turm gänzlich erhalten, fand sich so inmitten des neuen Raumgefüges. Über dem alten Gewölbe wurde
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die Sängerempore angeordnet, ähnlich wie in Bogojina, jedoch so, dass sie hier nach beiden Seiten hin offen ist und so an das „Haus im Haus“- bzw. das Ziborium-Motiv erinnert. 36 Außen sind die Baumassen mit einer Steinrustika verkleidet, sodass Alt und Neu vereinheitlicht sind, nur der Fenstergaden hebt sich im glatten Putz ab. 35, 37 Der alte Turm behält seine dominante Position auch in der neuen Baukörperkomposition. Durch die prägenden Erfahrungen mit der Prager Burg, die eigentlich eine kleine Stadt ist, in der er nicht Einzelarchitekturen, sondern Systeme von Plätzen, Grünflächen und Innenräumen in einer Gesamtschau des Ortes entwickeln musste, wurde Plečniks Blick fürs Ganze geschärft, für die städtischen Zusammenhänge, für die Beziehungen zwischen Einzelbauwerk und Stadtraum. Auch in Ljubljana wendet er sich in den 1930er-Jahren zunehmend dem großen Ganzen zu, wagt sich sogar an Regulierungspläne für die ganze Stadt oder einzelne Quartiere, verliert dabei aber das stadträumliche Detail nicht aus den Augen. Intensiv bearbeitet er die Sequenz der Räume entlang des Flusses, ist an der „Kulturachse“ der Vega-Straße tätig unterwegs, entwickelt den Stadtraumzug von der ZoisStraße über den St.-Jakobs-Platz bis zum kleinen Weg zur Burg und gestaltet unzählige Stadträume und Orte in der Innenstadt. 38 So ist das entstanden, was wir heute ohne
31 Genaueres siehe Jörg Stabenow, Jože Plečnik. Städtebau im Schatten der Moderne, Braunschweig/ Wiesbaden 1996. 32 Einen ersten Vorschlag der Kirchenerweiterung lieferte Plečnik bereits 1919. Auch damals setzte er die wesentlich größere neue Kirche der alten mit einer Achsendrehung an die Seite, damals jedoch an die Südseite. Dabei wurden die Fassaden wie auch die Türme gedoppelt, ein beliebtes Motiv in Trsat, Ljubljana (sv. Jernej) oder Bogojina. 33 Die Kirche musste 1958 dem Ausbau des Messegeländes weichen, der neue Teil mit der Andeutung des Zwischenraums wurde an einer anderen Stelle wiederaufgebaut. Mit dem Verlust des Originalkontextes und des Zwiegesprächs mit dem alten Bau wurde die Kirche ihrer wesentlichen Entwurfsprämissen beraubt.
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38 Stadtraumsequenz: Zois-Straße, St.-JakobsPlatz, Ulica na Grad (Straße zur Burg), Ljubljana, Jože Plečnik, 1926–1933 (Tomáš Valena). 39 St.-Florians-Kirche vor der Umgestaltung der Umgebung. 40 St.-Florians-Kirche, Außentreppe mit Pollern, Jože Plečnik, 1933. 41 Sv. Jernej, umgeben von einer transparenten Raumzone, Jože Plečnik, 1933. 42 Sv. Jernej, Vorschlag eines Kirchenneubaus mit Campanile unter Einbeziehung der alten Kirche, Jože Plečnik, 1919. 43 Sv. Jernej, Treppenanlage mit Kandelaber, Jože Plečnik, 1934.
Übertreibung „Plečniks Ljubljana“ nennen oder einen humanistischen Stadtumbau nennen könnten. So dürfen im Zusammenhang mit dem Thema der Kirchenerweiterungen auch die Umgestaltungen an der Schnittstelle zwischen zwei Kirchen und dem umgebenden Stadtraum in Ljubljana vom Anfang der 1930er-Jahre erwähnt werden. Es handelt sich sozusagen um Kirchenerweiterungen in den umgebenden Stadtraum, um Verzahnungen der Kirchenbauten mit ihrer Umgebung. 1933–1934 gestaltet Plečnik das Umfeld der St.-Florians-Kirche unterhalb der Burg. 39, 40 Er verlegt den Haupteingang aus der engen Hauptstraße zur geräumigen Ecke an der Straßenkreuzung, wo er eine Außentreppe mit Pollern frei entfalten kann und so mit relativ bescheidenen Mitteln ein nahezu monumentales Gegengewicht zu der großen Masse des Pfarrhauses diagonal gegenüber aufbauen kann. In dem aufgelassenen Hauptportal bringt er eine im Kircheninneren unscheinbar aufgestellte Statue des heiligen Nepomuk zur vollen Wirkung und aktiviert so den Stadtraum.34 Eine noch intensivere Verzahnung zwischen einer Kirche und dem umgebenden Stadtraum können wir bei Plečniks Umgestaltung der Umgebung von sv. Jernej im Stadtteil Šiška von Ljubljana beobachten.35 Hier können wir tatsächlich von einer baulichen Erweiterung in den städtischen Umraum sprechen, die allerdings den Innenraum der Kirche
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nicht betrifft.36 42 Der Anlass war, wie so oft, ein pragmatischer: Der Chor der Kirche, gegen den Hang gerichtet, war durchfeuchtet. Die Bauschäden sollten dauerhaft saniert werden. Plečnik umgibt den Chor mit einem teilweise unterirdisch gelegenen Gang, auf den er eine Säulenkolonnade stellt. 41 Diese wiederholt er auch am Haupteingang um den Turm herum. Auf diese Weise umgibt er die alte Kirche mit einer transparenten Raumzone, die man im Semper’schen Sinne als Bekleidung interpretieren kann. Zwischen der Kirche und der angrenzenden Bebauung ordnet er einen Treppenplatz mit einem skurrilen Leuchter 43 an und verankert so die frei stehende Kirche fest im städtischen Gefüge. Die Treppenanlagen an beiden beschriebenen Kirchen kann man so als ihre Erweite rungen in den Außenraum begreifen, als Verzahnung des Kirchenraums mit dem Stadtraum.
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Umgang mit kriegszerstörten Kirchen Wie in Kriegszeiten bei vielen Architekten ohne konkrete Bauaufgaben üblich, zeichnete auch Plečnik Schubladenprojekte, meist großartige öffentliche Bauten als Bestandteil seiner Vision eines humanistischen Stadtumbaus von Ljubljana. Die Aufgaben, die sich ihm nach dem Krieg im hohen Alter boten, waren jedoch viel bescheidener. Viele Kirchen waren zerstört und Plečnik wurde in der wirtschaftlich und politisch schwierigen Nachkriegssituation gebeten, Wiederaufbau- und Umbauprojekte für die sich meist auf dem Lande befindenden Kirchenruinen zu liefern. 44 Nur zwei von vielen geplanten, die Kirchen in Zgornje Stranje und in Ponikve, konnten realisiert werden. Ich möchte hier als
34 Siehe Valena 1994 (siehe Anmerkung 28), S. 122. 35 Eine sehr genaue Studie der Umgestaltung siehe in: Stabenow 1996 (siehe Anmerkung 31), S. 124–133. 36 Plečnik beschäftigte sich mit diesem Ort bereits 1919, als er dem Bischof von Ljubljana einen Kirchenneubau und einen Campanile unter Einbeziehung der alten Kirche vorschlug, und später im Jahr 1928, als er einen Plan zur Regulierung der Umgebung der Kirche vorlegte. Ebenda.
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Seit 2011 wurde mit wechselhaftem Engagement verschiedener Akteure in Prag und Ljubljana ein internationaler, serieller Antrag auf Eintragung einiger Bauten und Stadtraumgestaltungen Plečniks in die Liste des Weltkulturerbes vorangetrieben. Das Projekt lief unter dem Titel The timeless, humanistic architecture of Jože Plečnik in Ljubljana and Prague. Nach langwierigen Absprachen zwischen den slowenischen und tschechischen Initiatoren wurden so verschiedene Schöpfungen Plečniks in den Antrag aufgenommen wie die Stadtraumgestaltungen am Fluss und entlang der Vega-Straße in Ljubljana inklusive der National- und Universitätsbibliothek, die dortige Friedhofsanlage Žale, die St.-Franziskus-Kirche und die Kirche sv. Mihael na Barju sowie, als einziger Bau in Prag, die Herz-Jesu-Kirche. Alles in allem also ein heterogenes Sammelsurium von thematisch unzusammenhängenden Stadtraumsystemen, Kirchen und Einzelobjekten. Zu einer klaren thematischen Abgrenzung konnten sich die Akteure nie durchringen. Starke Themen boten sich hingegen bei Plečnik mit seinen vielfältigen Beiträgen zur Reform des katholischen Kirchenraums (unter Einbeziehung der Kirchen in Wien, Prag, Ljubljana, Belgrad, Bogojina und der Kirche sv. Mihael im Ljubljanaer Moor) oder aber seinen Eingriffen in öffentliche urbane Räume, die man unter dem Begriff des humanistischen Stadtumbaus zusammenfassen könnte (hierzu würde neben Plečniks Ljubljana notwendigerweise auch die Umgestaltung der Prager Burg gehören). Seit Anfang des Jahres 2018 liegt nun beim Internationalen Rat für Denkmalpflege (ICOMOS) ein neuer Antrag unter dem alten Namen vor, der aber nur Plečniks Werke in Ljubljana aufführt und allein von der Republik Slowenien gestellt wird.1 Was aber ist das „Humanistische“ in Plečniks Architektur und in seinen Eingriffen in die Stadt? In der vorliegenden Untersuchung möchte ich der Frage nachgehen, ob diese Qualifikation seines Werkes gerechtfertigt ist. Dabei werde ich mich auf Plečniks Eingriffe in bestehende Stadträume und städtische Situationen in Ljubljana beschränken und fragen, inwiefern diese als humanistischer Stadtumbau bezeichnet werden können.
Bezug auf „humanistische“ Traditionen bei Plečnik? „Humanismus“ ist ein schillernder, unpräziser Begriff. Er weist viele Bedeutungen und Traditionen auf und sollte zunächst definiert werden, bevor er in der Diskussion verwendet wird. Hat sich Plečnik selbst auf irgendwelche „humanistischen“ Traditionen berufen? Umsonst würden wir in seinen wenigen schriftlichen Äußerungen nach diesem Begriff fahnden. Welche „Humanismen“ könnten als Vorbild für Plečnik überhaupt infrage kommen? Als Erstes denken wir natürlich an den Renaissance-Humanismus. Plečnik kannte und las nicht nur Vitruv, sondern auch Leon Battista Alberti2. Seit seiner Italienreise im Jahr 1899 war er von antiker und Renaissance-Architektur stark beeinflusst, ja sie ist zur Grundlage seiner eigenen Architekturphilosophie geworden. Das humanistische Bildungsideal der Renaissance, wie es am umfassendsten vielleicht Alberti ausformuliert hatte, war aber seines nicht. Heute apostrophieren wir einige städtebauliche Schöpfungen der Renaissance als „humanistische Stadt“ und denken dabei (ob gerechtfertigt oder nicht) vor allem an Pienza und Sabbioneta. Es handelt sich um idealtypische Stadträume und Architekturen, um bildungspolitische Bauprogramme. Letztendlich sind aber beide Städte egozentrische Denkmäler ihrer „humanistisch“ gebildeten und gesinnten Bauherren, Papst Pius II. (Enea Silvio Piccolomini) und Vespasiano Gonzaga. Plečnik hat auf seiner Italienreise die beiden Städte nicht besucht und vermutlich nicht einmal gekannt, war das Wissen um sie zu jener Zeit doch kaum in den Fundus der Architekturgeschichte eingewandert. Auf Plečniks späteren „humanistischen“ Stadtumbau in Ljubljana konnten sie jedenfalls keinen direkten Einfluss ausgeübt haben. Theoretisch käme auch der deutsche Neuhumanismus und die Aufklärung des 18. Jahrhunderts als Inspirationsquelle infrage. Denn natürlich kann nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden, dass Plečnik nicht einiges von Goethe, Schiller oder Lessing, weniger von Herder, Hölderlin oder Humboldt gelesen hätte. Vergessen wir aber nicht, dass Plečnik einer eher „bildungsfernen“ sozialen Schicht entstammte, keine gymnasiale oder gar akademische Ausbildung genoss, selbst eine handwerkliche Laufbahn einschlug
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und nur dank seiner außergewöhnlichen zeichnerischen Begabung in der Meisterklasse von Otto Wagner landete. Selbst wenn wir zu der Einsicht gelangen sollten, dass Plečniks Architektur als humanistisch zu bezeichnende Elemente aufweist, werden wir diese schwerlich auf die Ideale des Bildungsbürgertums zurückführen können, wie sie der deutsche Neuhumanismus begründet hatte. Als tiefreligiösem Menschen wäre Plečnik vermutlich der christliche Humanismus, wie er 1891 in der Enzyklika Rerum Novarum von Leo XIII.3 entworfen wurde (Soziallehre zwischen Liberalismus und Sozialismus) und in der Folgezeit in der katholischen Kirche vorsichtig vertreten wurde, recht nahe. Selbst einfachen sozialen Verhältnissen entstammend, besaß Plečnik ein feines Gespür für soziale Gerechtigkeit. Bekannt ist seine Affinität zu den Arbeitern und insbesondere den Handwerkern. Dass er die Enzyklika gelesen hat, ist nicht belegt und eher unwahrscheinlich. Der christliche Humanismus wurde erst 1936 durch das Buch Integraler Humanismus von Jaques Maritain4 theoretisch begründet. Dieser, als Kritik an dem anthropozentrischen Humanismus der Renaissance konzipierte theozentrische Humanismus entsprach durchaus der Haltung Plečniks, der dem Menschen in seiner Architektur nie die zentrale Position zugestand, sondern diese immer für etwas „Höheres“ freihielt. Das Buch hat Plečnik mit Sicherheit nicht gelesen. Das Bedürfnis, seine Architektur theoretisch zu begründen, lag ihm ohnehin fern.
Masaryks Humanismus Im philosophischen Denken und politischen Handeln von Tomáš Garrigue Masaryk, dem Mitbegründer und ersten Staatspräsidenten der Tschechoslowakischen Republik, waren Humanität und Demokratie Schlüsselbegriffe. Man könnte bei ihm gar von einer „humanitären Demokratie“5 sprechen, die auf Wertesystemen basiert, auf dem Glauben an den Menschen, auf seiner geistigen Dimension und seiner unsterblichen Seele. Ethisch ausgedrückt, gründete Masaryk seine Vorstellungen auf der Nächstenliebe, also eindeutig auf einem religiösen Fundament.6 Lange schon vor der Gründung eines selbstständigen tschechoslowakischen Staates hatte Masaryk damit begonnen, eine humanistisch- demokratische Tradition aus der tschechischen Geschichte herauszuarbeiten.7 Er sah Ursprünge in der Reformation, bei Jan Hus und anderen Reformern, in der hussitischen Bewegung, bei Jan Amos Komenský und den Böhmischen Brüdern, und in der tschechischen Wiedererweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts, die sich auf diese Tradi tion berufen hatte. Das „ethisch-humanitäre Ideal“ erkannte er als das angemessene „Nationalprogramm“ eines künftigen tschechischen Staates und aller kleineren Nationen. Spätestens seit Plečnik im Jahr 1920 begonnen hatte, die Prager Burg für Masaryk umzubauen, wurde er mit dessen humanistischen Idealen konfrontiert. Masaryks Begründung seiner humanistischen Sicht in der christlichen Ethik war für den tiefreligiösen Plečnik ein wichtiger Anknüpfungspunkt.
Plečniks „Humanismus“ Inwiefern ist es also gerechtfertigt, bei Plečniks Umgang mit der bestehenden Stadt Ljubljana vom „humanistischen Stadtumbau“ zu sprechen? Wir haben gesehen, dass es sich nicht um einen Humanismus handeln kann, der einem humanistischen Bildungsideal entstammt oder sich an irgendeinem humanistischen Stadtideal orientiert. Am ehesten könnte man von einem Humanismus sprechen, der unmittelbar vom Menschen ausgeht und ihn zum Maß (oder gar Maßstab) der Architektur nimmt. Es ist ein religiös und sozial begründeter Humanismus, der die Nähe zum „kleinen Mann“ sucht und ihn gleichzeitig aufs „Höhere“ verweist. Die Arbeit mit der Prager Burg in den 1920er-Jahren und die zeitgleiche Konfrontation mit Masaryks theoretischen Positionen zum Humanismus war dabei für Plečnik eine praktische und ideelle Lehrzeit für den späteren humanistischen Stadtumbau von Ljubljana. Diesen konkreten architektonischen Humanismus bei Plečnik möchte ich anhand von drei Themen aufzeigen: anthropomorphe Elemente (Säule) und Maßstab; „Aufenthalt bei den Dingen“ oder architektonische Gespräche,
1 https://whc.unesco.org/en/tentativelists/6295 (abgerufen 17.06.2021). Die gelisteten Werke sind diesmal thematisch etwas homogener, vermutlich aber immer noch nicht konsistent genug. Anmerkung des Redakteurs: Im Juli 2021 wurden die genannten Werke Plečniks in Ljubljana unter dem geänderten Titel The works of Jože Plečnik in Ljubljana – human-centred urban design in die Liste des UNESCOWeltkulturerbes eingetragen. 2 Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, Wien/Leipzig 1912. 3 Deutschen Text siehe unter www.iupax.at/dl/ OmnLJmoJnnmJqx4KJKJmMJMLMm/1891-leo-xiiirerum-novarum.pdf (abgerufen 11.7.2021). 4 Jacques Maritain, Humanisme intégral. Problèmes temporels et spirituels d’une nouvelle chrétienté, Paris 1936. 5 Siehe z. B. Tomáš Garrigue Masaryk, „Ideály humanitní“ (1901); ders., „Demokratismus v politice“ (1912), beide in: Tomáš Garrigue Masaryk, České myšlení, Band 1, Prag 1968. 6 Siehe z. B. Karel Čapek, Spisy XX. Hovory s T. G. Masarykem, Prag 1990, S. 327–330. 7 Siehe dazu den Beitrag „Plečnik, Masaryk und die Antike“ in der vorliegenden Publikation.
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Dialoge, Diskurse durch Einfügung architektonischer Elemente in urbane Räume; die Verwendung einer klassischen Architektursprache, die universelle Verständlichkeit garantiert. Diese drei Themen möchte ich zunächst anhand der Lehrbeispiele von der Prager Burg erläutern.
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Prager Burg, kleine Altane im Wallgarten. Prager Burg, zentraler Bereich des Wallgartens mit Pyramide und Slavata-Denkmal.
In einem undatierten Brief an Bruder Andrej vom Anfang der 1920er-Jahre vermisst Plečnik Säulen in seiner Heimatstadt Ljubljana, Säulen, die die Stadträume in Italien prägen.8 Die Säulen als die anthropomorphen Elemente der Architektur schlechthin, eingesetzt in den griechischen Wandelhallen, den römischen Foren und den Loggien der italienischen Renaissancestädte, werden für Plečnik nach seiner Italienerfahrung Sinnbilder einer humanistischen Stadt. Eine halbtransparente Wandelhalle vermittelt zwischen der Privatheit des Hauses und der Öffentlichkeit der Stadt und bildet ein Zwischenreich der Kommunikation, eine menschenfreundliche Lebenswelt in der Stadt. In Prag hat Plečnik an der Schnittstelle zwischen der Burg und den südlichen Gärten die Säulenhalle Bellevue in der Funktion einer Loggia mit Ausblick zur Stadt errichtet. Einzelne Säulen finden wir im Garten gleich mehrere – und immer nach Plečniks Art mittig in eine Öffnung gesetzt (erinnern wir uns: Die Mitte steht dem Menschen nicht zu, sie wird für jenes freigehalten, was uns übersteigt): Wir denken etwa an die Halbsäule im Eingangstor zum Paradiesgarten oder an die beiden „Fenstersäulen“ im Ausfalltor zu den unteren Gärten. Alle Eingriffe in den südlichen Gärten, die nicht dem stadträumlichen Kontext geschuldet sind – und dies sind insbesondere die Kleinarchitekturen entlang der Gartenmauer zur Stadt –, sind vom anthropomorphen Maßstab und von einer Detaildichte bestimmt, die dem wahrnehmungspsychologischen Bedürfnis nach der Beschäftigung möglichst vieler Sinne des Fußgängers entsprechen. Die Ausstattung der Räume ist somit „menschengerecht“, im wahrsten Sinne des Wortes „human“. Ein anschauliches Beispiel für diese Haltung ist die kleine Altane im Wallgarten. 1 Es ist eine Klein architektur wie aus einem Holzbaukasten. Das fein gearbeitete Eierstabkapitell in Greifentfernung und die eigenwillige Kannelierung der Säulen laden zum Betasten der Steinmetzarbeit ein. Das weit ausladende Gesims der Brüstungselemente ist zum Anlehnen gedacht und der halboffene und doch intime anthropomorphe Raum der Altane gewährt Schutz an der dramatischen Abbruchkante des Gartens hoch über der Stadt.
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Aufenthalt bei den Dingen Ich leihe mir dieses Wort bei Martin Heidegger, um die eigenartig „humane“ Art und Weise zu beschreiben, mit der Plečnik den Aufenthalt der Menschen im (Stadt-)Raum vorbereitet. „Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen“, sagt Heidegger. Dieses Wohnen ist aber „immer schon ein Aufenthalt bei den Dingen … Der Aufenthalt bei den Dingen ist die einzige Weise, wie man das ‚Geviert‘ schont.“9 In Heideggers Terminologie bedeutet es, als Sterblicher angemessen in der Welt sein, zu leben oder, wie er selbst sagt, zu wohnen. Humanitäre Demokratie ist Diskussion, sagt Masaryk, ist Mehrstimmigkeit, vielleicht auch Mehrsprachigkeit, sie heißt, Pluralität im Diskurs auszuhalten. Plečnik führt auf der Burg neue Themen und Erzählungen, neue Elemente ein. Diese sind dialogfähig, führen einen Diskurs mit dem Bestand und untereinander. Und sie treten meist in einem solchen Maßstab auf, dass sie den Menschen als gleichberechtigten Gesprächspartner in ihre Mitte aufnehmen können. Die Kleinarchitekturen, mit denen Plečnik den Stadtraum für die Kommunikation quasi „vorinstalliert“, laden den Menschen zum „Gespräch“ ein. Ganz eindringlich spüren wir diese Instrumentalisierung des Raumes für den Aufenthalt der Menschen im Zentralbereich des Wallgartens. Hier spannt Plečnik ein ganzes Netz von kleinmaßstäblichen Architekturelementen auf, um den Raum architektonisch zu „bevölkern“. Den bestehenden Elementen, dem Slavata-Obelisken und der Dachkuppel eines barocken Pavillons, fügt er die kleine Altane, eine schlanke Pyramide und einen liegenden Steinbalken vor dem Slavata-Denkmal hinzu. Beim Betreten der Fläche haben wir das Gefühl, bereits erwartet worden zu sein. 2 Andere Eingriffe sind nicht so raumgreifend, sondern im Gegenteil konzentriert, sammelnd, in sich ruhend. Zu diesen gehört der ehemalige „Schutzraum“ an der Mährischen Bastei. Der kleine Raum ist auf drei Seiten von Mauern umgeben, gegen den Himmel von einer Holzpergola auf vier Säulen geschützt und von einem Steintisch zentriert – ein idealer Raum zum intimen Zwiegespräch oder zum Meditieren. In diese Kategorie gehört auch
8 Den Brief unterschreibt er mit: „… Dein Josef – der so gerne durch das säulenreiche Italien reisen würde. Hier gibt es keine Säulen – wer soll hier leben können.“ Zitiert nach: Damjan Prelovšek, Josef Plečnik 1872–1957. Architectura perennis, Salzburg/Wien 1992, S. 279. 9 Martin Heidegger, „Bauen, Wohnen, Denken“, in: ders., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 155–161.
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der Eingangsbaldachin zur Stiertreppe im dritten Burghof. Mit seinem anthropomorphen Maßstab und seinen Erzählungen umfängt er uns und führt uns sachte in die mythologischen Tiefen der Geschichte dieses Ortes.10 Gleichzeitig verweist er uns aber auf die Realität der Stadt unter uns wie auch auf den fernen Vyšehrad, den sagenhaften Ursprung Prags. Vier Stiere tragen Holzbalken mit geschnitzten Figuren und wir werden ganz beiläufig in eine Erzählung verwickelt, beteiligen uns an ihr mit unseren eigenen Asso ziationen und Bilderwelten und spinnen auf verschiedenen Zeitebenen die Geschichte weiter. Das altehrwürdige Reiterstandbild des heiligen Georg im dritten Burghof hat Plečnik auf einen schlichten Sockel über unsere Köpfe erhoben und mit einem schwebenden Kupferring, wie mit einem Heiligenschein, umgeben. Wir werden von diesem „Gespräch“ der Grundformen magisch angezogen und damit auf zwei geometrische Bezugssysteme des dritten Burghofes verwiesen, in deren Zentrum der heilige Georg steht. 3 In der Nähe der Anlage bilden Besucher oft ihre eigenen „Gesprächskreise“.
Universelle Verständlichkeit 3
Jenseits der zeitbedingten Versuchungen, sei es einer Nationalarchitektur oder der funktionalistischen Zweckform, entwickelt Plečnik eine allgemein verständliche Universalsprache, die in der Tradition begründet und dennoch höchst individuell ist. Der Rückgriff auf antike Formen ist dabei offensichtlich. 4 Es sind aber nicht die einschüchternden Formen der Repräsentation, und sei es der demokratischen Staatsmacht, sondern eher die bescheidenen, diskursiven Formen in anthropomorphem Maßstab, die wir dem Menschenbild der griechischen Polis, dem antiken Humanismus zusprechen möchten. Aus diesen archaischen Quellen heraus entstehen Formen und Gestalten, entsteht eine Architektur, die universal ist, die alle Menschen verstehen. Seinem sozialen Gefühl gemäß verliert Plečnik dabei den Menschen nie aus den Augen. Dies macht ihn resistent gegenüber dem totalitären Aspekt einer universalistischen Architektur. Plečnik entwickelt so etwas wie eine „individuelle Universalsprache“ oder eine „Universalsprache von unten“, wie Friedrich Achleitner sagt, „die näher am ‚Volk‘ ist … [die] das imperialistische Gehabe ablehnt und das Verbindende aller Kulturen sucht“11.
„Plečniks Ljubljana“ als humanistischer Stadtumbau
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Dritter Burghof der Prager Burg, Josef Sudek, 1936.
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Säulenkapitell, Eingangstor zum Paradiesgarten der Prager Burg.
5
Lage von Emona im Stadtplan von Ljubljana, 1913.
Im Jahr 1920 wurde Plečnik etwa gleichzeitig als Professor an die Architekturfakultät der neu gegründeten Universität in Ljubljana berufen und übernahm den Posten des Burg architekten in Prag. Ab dem Schuljahr 1921/22 verbrachte er die Unterrichtszeit regelmäßig in Ljubljana. Ihm eilte der Ruf eines genialen, im Ausland erfolgreichen Künstlerarchitekten voraus. Trotz seines scheuen Charakters und zurückgezogenen Lebenswandels ergaben sich aus diesen Rahmenbedingungen bald erste Direktaufträge, zunächst seitens der Kirche und später auch von der Stadt. Einer mündlichen Überlieferung zufolge bildete sich bald ein kleines Triumvirat, bestehend aus Matko Prelovšek, dem Direktor des städtischen Bauamtes, Landeskonservator France Stelè, und Jože Plečnik, das sich jeden Samstag im Gasthaus „Pri kolovratu“ auf ein Gläschen Wein traf und über anstehende Probleme der Stadtgestaltung und -entwicklung beriet. Die kleinen oder auch größeren Baumaßnahmen, die Plečnik vorgeschlagen hatte, wurden von Prelovšek im Bauausschuss vertreten und von Stelè der Öffentlichkeit durch Zeitungsartikel vermittelt. Heute erstaunt es uns, wie der oft wankelmütige und seinen wechselnden Stimmungen folgende Plečnik über dreißig Jahre hinweg sehr konsistent (aber ohne einen überlieferten Gesamtplan) einige Stadtraumsequenzen zu dem entwickelte, was wir seit den späten 1930er-Jahren „Plečniks Ljubljana“ nennen. Ich kenne keine andere Stadt, die so großmaßstäblich und umfassend von einem einzigen Architekten geprägt wurde. Es war wohl diese geschichtliche Sondersituation im Ljubljana der Zwischenkriegszeit und die Koinzidenz weiterer Faktoren, die zu diesem aus heutiger Sicht glücklichen Ergebnis geführt haben, das später oder an einem anderen Ort so nicht mehr zu wiederholen war.