3 minute read
NEU! MORALFRAGE
from Trail 3/2021
Was darf man sich auf Trails, als Läufer*in erlauben? Was ist okay, was geduldet und nicht gern gesehen. In dieser neuen Rubrik möchten wir den Werten Platz geben.
Liebe Redaktion, ich weiß nun wirklich nicht, wie ich mich da hätte korrekt verhalten sollen, aber irgendwie brannten in dieser Situation die Ehrgeiz-Zellen durch: Bei meinem zweiten Ultratrail-Wettkampf vor zwei Jahren über 80 Kilometer rannte ich über weite Teile der Distanz alleine, fand jedoch auf den letzten wirklich schweren 25 Kilometern eine schweigsame, aber dennoch nette Begleitung. Der junge Mann dürfte gut 20 Jahre jünger gewesen sein und hatte meinen stillen Respekt. Schulter an Schulter liefen wir dem Ziel entgegen. Wir lagen nicht an der Spitze des Feldes und bei weitem nicht am Ende. Ich würde sagen weit entfernt vom Cut-Off und im soliden Mittelfeld der 350 Starter*innen. Auf den letzten 2.000 Metern machte ein kleiner, aber steiler Schlussanstieg das Finale überraschend schwer und mein junger Begleiter bekam Krämpfe und reduzierte das Tempo. Im Ziel kam er rund 60 Sekunden nach mir an und ich hatte ein schlechtes Gewissen. Hätte ich auf ihn warten müssen und gemeinsam das Finish feiern müssen?
Einen Ultramarathon über eine solch lange Strecke zu laufen, ist eine gewaltige körperliche und mentale Leistung. Du hast vermutlich, nein ganz sicher, sehr viele Stunden, Tage, Wochen und Monate dafür trainiert. Meist ganz alleine. Bei Nacht. Bei schlechtem Wetter und in Situation, in denen es nicht immer nur einfach war. Du hattest bei jedem dieser Trainingsläufe immer ein Ziel vor Augen: Das Finish bei diesem einen Ultratrail. Bei deinem Ultratrail. Möglichst gut, möglichst schnell. In deinen Gedanken und Vorstellungen bist du viele Situationen durchgegangen. Dabei war auch der Zieleinlauf einige male dabei. Du hattest genaue Vorstellungen, wie du nach 80 Kilometern auf diesen letzten Metern ankommen würdest. Es wäre die Krönung von allem. Laufen ist etwas individuelles. Es ist etwas, das nur Dir selbst gehört. Darum machst Du es ja schließlich. Es ist Deine eigene, kleine große Welt und alle Erfolge, die das Laufen mit sich bringt, gehören nur Dir. Anders wie im Job, wo Du vieles teilen musst. Und nun passiert im Wettkampf etwas womit Du nicht unbedingt gerechnet hattest: Da bildet sich eine Art, eine Gemeinschaft. Für 25 von insgesamt 80 Kilometern. Du merkst, dass das hilft. Es läuft sich leichter mit dem jungen Mann an deiner Seite, auch wenn der Dich nicht schiebt und kaum mit Dir redet. Nein, schon klar - laufen musst Du noch immer selbst. Vom ersten bis zum letzten Meter dieser 80 Kilometer. Und nochmal: Du hast dich darauf vorbe- reitet. Ohne Hilfe. Nur Du. Die eigentliche Frage, ob es denn nun „okay“ war, dass Du ihn hast „stehen lassen“ und alleine über das Ziel gelaufen bist, kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Man muss ganz sicher einige Umstände in einer Beantwortung miteinbeziehen. Waren es gemeinschaftliche 25 Kilometer? Hattet ihr einen Bund? Hat sich die Zeit als Duo als ein gefühltes Team angefühlt? Und letztlich: Hast Du Kraft daraus gewonnen? Wenn dem so war, dann gibt es wirklich keinen erkennbaren Grund, dass Du ihn nur 2.000 Meter vor dem Ende mit Krämpfen zurückgelassen hast. Ich vermute, Du hast all das was ich dir hier erkläre schon gewusst, sonst wären deine Bedenken niemals aufgekommen. Ultralaufen ist ein Sport für Einzelkämpfer und Individualisten, aber eben auch für Leute mit Gemeinsinn und Solidarität. Gratulation übrigens zu deinem Finish bei einem Ultratrail. Es wäre vielleicht, nein ganz sicher, ein für Dich persönlich noch größerer Erfolg gewesen, wärst Du in der Rangliste genau ein Platz weiter hinten aufgeführt.