Leseprobe Katrin Günther | Kunstverein Eislingen e.V.

Page 1

KATRIN GÜNTHER Aufstieg zum oberen Holzweg · Climbing to the Upper Wild-Goose Trail

1


2


KATRIN GÜNTHER Aufstieg zum oberen Holzweg · Climbing to the Upper Wild-Goose Trail

Ausstellungskatalog · Exhibition catalogue

Kunstverein Eislingen 10.9. – 9.10.2016

3


4


8

Altdorfer und Piranesi auf der Großbaustelle Altdorfer and Piranesi at the Giant Construction Site Heinz Stahlhut Kunstmuseum Luzern

50

Eine sich selbst bewohnende Landschaft A Self-Inhabiting Landscape Lucía Rey Orrego Centro de Investigaciones en Estéticas Latinoamericanas Universidad de Chile, Santiago de Chile

91

Katrin Günther Vita · Curriculum vitae Ausstellungen · Exhibitions

5


6


7

Atelier · Studio, Berlin · 2016


Altdorfer und Piranesi auf der GroĂ&#x;baustelle Altdorfer and Piranesi at the Giant Construction Site

Heinz Stahlhut

8


Das ist wirklich kaum zu fassen: Ein undurchdringliches

French Holiday von 2015 hingegen markieren den Über-

Gewirr von Stangen, Röhren und Platten breitet sich vor

gang zu einem freieren Schaffen: Vom Format her noch

uns aus und öffnet sich in eine schier unendliche Weite,

ähnlich sind hier alle Formen, wenngleich mit derselben

vor der uns schwindelt. Schrägen reißen unseren Blick

Akribie ausgeführt wie ihre Vorgänger, ungeheuer dyna-

jäh in die Höhe, in der auf leichtem Gestänge windschiefe

misiert. Große Linien führen in eine unmessbare Weite

Hütten balancieren. Weder die räumliche Ausdehnung

und Tiefe, werden in dieser Bewegung von gegenlau-

noch der Reichtum an Details sind in Katrin Günthers

fenden Linien konterkariert; größere Flächen setzen

monumentaler Zeichnung Zum Boden am See von 2015

weiße Akzente im dichten Lineament; das Konstruiert-

zu fassen.

Gebaute findet seinen Gegenpol in fließenden Geländezügen einer engen und hohen Gebirgsschlucht im

Seit ihrer Ausbildung zur Architektin, in Plastischem

Hintergrund, der wiederum eine ausgesparte, vermut-

Gestalten und Zeichnen hat sich Katrin Günther der

lich architektonische Silhouette im rechten Vordergrund

Zeichnung verschrieben. Ihre Zeichnungen kommen auf

antwortet. Hier findet sich auch die so fruchtbare Ver-

den ersten Blick so präzise und akribisch daher, wie man

kehrung der Landschaftsdarstellung von der gewohnten

es von einer Entwerferin erwartet; schließlich garan-

Horizontale in die Vertikale, die im weitaus schlankeren,

tiert die Genauigkeit die Statik des von ihr entworfenen

gestreckteren Format von Zum Boden am See noch

Gebäudes. Doch sollte man sich von dieser Erwartung

forciert wird. Man fühlt sich in mehreren Punkten an

nicht täuschen lassen. Denn gerade in den jüngsten

Albrecht Altdorfers magistrales Gemälde Alexander-

Zeichnungen hat sich Günther von der Überschaubarkeit

schlacht von 1528/29 erinnert, dem die Zeichnungen

befreit, mit der diese Präzision ihre Werke zuvor noch

Günthers sowohl in Hochformat als auch im wimmelnden

beengte. In Zeichnungen wie Waldmeisterbad von 2011

Detailreichtum gleichen. Auch die Überschauperspektive

oder Klotzenmoor aus dem Folgejahr waren zwar schon

von Altdorfers Weltlandschaft, die den Blick über eine

Bauten und Pflanzen zu finden, bei denen Fantastik und

sich endlos dehnende Weite erst ermöglicht, haben

Detailtreue fruchtbar kollidierten. Aber die Bildmotive

jene mit dieser gemein. Überhaupt gehen mit der

wuchsen brav bildflächenparallel aus einem sauber waag-

formalen Befreiung in Günthers Werken auch größere

rechten Grund empor und verstellten so wie Theater-

Dimensionen einher; hatten schon die zuvor erwähnten

kulissen den Blick in die Raumtiefe. Zeichnungen wie

Zeichnungen Waldmeisterbad und Klotzenmoor mit

9


110 x 153 cm bzw. 89 x 145 cm nicht eben Kabinett-

wie bei Piranesi oft, im nächsten Moment als architektur-

format, so werden sie von den jüngsten, oftmals um

gebundene Monumentalskulpturen entpuppen, was

250 x 150 cm messenden Blättern noch übertroffen.

die Größenverhältnisse wiederum schlagartig ändert.

Das führt zusammen mit dem schon angesprochenen

Piranesis albtraumhafte Visionen, die neben anderen

Detailreichtum dazu, dass zwei Betrachtungsweisen der

Deutungen als Äußerung eines profunden Zweifels

Werke miteinander konkurrieren: Den ausgreifenden

an einer göttlichen Weltordnung verstanden werden,

Schwung der fantastischen Konstruktionen sieht man

geben mehr noch als Altdorfers Schlachtengemälde,

nur aus einer größeren Distanz; die Details hingegen

das sich auf einen allwissenden Betrachter bezieht

nur aus der Nähe, wodurch sich der Blick im Formen-

und eine Zusammenschau von irdischem und himmli-

gewirr verliert und der Zug in die Raumtiefe umso dra-

schem Geschehen bietet, eine Interpretationshilfe für

matischer wird. Denn erst durch den Blick auf das Detail

Katrin Günthers Zeichnungen an die Hand: Ihre jüngsten

kann man die Größenverhältnisse und damit die Erha-

Werke sind Bilder einer globalisierten, immer komplexer

benheit der wilden Konstruktionen erkennen. So erklärt

erscheinenden Welt mit ungeplant und unplanbar

sich das Unbehagen mancher Betrachterinnen und

wuchernden Mega-Citys, deren Entwicklung bedrohlich

Betrachter vor Günthers Zeichnungen. Denn sie werden

und dynamisch zugleich wirkt.

plötzlich der unermesslichen Tiefe gewahr, in welche der Blick abstürzt, oder der schieren Masse, die wie ein Damoklesschwert über ihnen hängt und angesichts der dynamischen Schwünge auf sie hinabzustürzen droht. Diese Merkmale, die konkurrierenden Sichtweisen sowie den Eindruck von Gefährdung und Erhabenheit, haben Günthers jüngste Werke mit Giovanni Battista Piranesis

Carceri von 1745–1750 gemein. Die Folge von 16 Kupferstichen zeigt düstere, verwinkelte, unterirdische Kerkerarchitekturen, deren Dimensionen sich oftmals erst dann erschließen, wenn man eine der in ihnen verteilten menschlichen Figuren entdeckt. Diese können sich aber,

10


It’s all but baffling. An impenetrable tangle of beams,

In contrast, drawings like French Holiday (2015) mark

pipes, and slabs extends away from us, opening into a

her transition to more liberated work. All the shapes

nearly infinite, vertiginous expanse. Steep diagonals tug

retain a similar format, but although they are executed

our gaze upward towards crooked cabins balancing on

with the same meticulousness as their precursors,

fragile rods. We can fathom neither the spatial immensity

they are immensely dynamized. Vast lines lead into

nor the rich detail of Katrin Günther’s monumental 2015

an immeasurable breadth and depth, their motion

drawing Zum Boden am See (To the Ground by the Lake).

controverted by other lines running in the opposite direction; larger blanks add white accents to the dense

Since completing her training in architecture, sculptural

lineament; the built world finds its antithesis in the flowing

design, and drafting, Katrin Günther has devoted herself

mountainous terrain of a tall and narrow canyon in the

to her drawings, which appear at first glance as precise

background, echoed in a recessed, probably architectural

and meticulous as one might expect from a trained

silhouette in the foreground on the right.

drafter; indeed, this exactitude ensures the stability of the buildings she has dreamt up.

We also see the very fruitful reframing of the landscape from the usual horizontal to the vertical axis, which

But we should not let this expectation fool us. In her

is accentuated in the much slimmer, more stretched

latest drawings especially, Günther has liberated

format of Zum Boden am See. In several respects, it is

herself from the comprehensibility that had previously

reminiscent of Albrecht Altdorfer’s magisterial painting

made her precision a limitation of her work. Drawings

The Battle of Alexander at Issus from 1528–29, which

such as Waldmeisterbad (Woodruff Springs) from 2011

Günther’s drawings emulate in their portrait orientation

or Klotzenmoor (Stump Swamp) from the following year

and their swarmingly rich detail. The painting and the

already featured buildings and plants in which fantasy

drawings also share the bird’s-eye perspective of

and faithful detail fruitfully collided. But the images’

Altdorfer’s world-landscape, which enables the view over

subjects grew industriously, parallel to the picture

an infinitely outstretched expanse in the first place.

plane, from pristinely horizontal ground: like theatrical scenery, they blocked our view into the depths of the

The formal liberation of Günther’s work goes funda-

drawn space.

mentally hand in hand with its larger dimensions. If the

11


aforementioned drawings Waldmeisterbad (110 x 153 cm)

subterranean dungeon structures whose dimensions are

and Klotzenmoor (89 x 145 cm) were no cabinet cards,

revealed only when one discovers the human figures

the latest sheets, often measuring 250 x 150 cm, have

sprinkled within them. As with Piranesi, these often

surpassed them still. In conjunction with the richness

can turn out in the next moment to be monumental

of detail already addressed, this creates two competing

architectural statues, abruptly changing the dimensions

ways to view the artworks. The expansive sweep of the

once more.

fantastic constructions can only be taken in at a greater remove, while the details can only be discerned up close,

Piranesi’s nightmarish visions, which among other inter-

at which point the viewer’s gaze is lost in the tangle of

pretations are understood as expressions of profound

shapes, and the sense of suction into the space’s depths

doubt over a divine world order, offer an even better key

grows even more dramatic.

to interpreting Katrin Günther’s most recent drawings than Altdorfer’s battle painting, which relies on an omniscient

Only after regarding the details does one recognize

viewer and offers a synthesis of earthly and heavenly

the dimensions and thus the sublimity of the wild

events. Her latest works are images of a globalized,

constructions. This explains the discomfort of some

ever more complex-seeming world with unplanned and

viewers when faced with Günther’s drawings, as they

unplannable mushrooming megacities whose evolution

suddenly grow aware of the immeasurable depth into

seems simultaneously menacing and dynamic.

which their gaze is plummeting or the sheer weight hanging over them like a sword of Damocles, threatening to fall on them with the force of the pieces’ dynamic sweeping motions. Günther’s latest work shares these traits—these competing ways of seeing and the sense of danger and sublimity— with Giovanni Battista Piranesi’s Carceri d’invenzione (The Prisons) from 1745–1750. His series of sixteen copperplate engravings portrays gloomy, labyrinthine

12


13


La Piscina · The Pool · 2016 Tusche, Acryl auf Papier · India ink, acrylic on paper · 200 × 150 cm

14


15


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.