KATRIN GÜNTHER Aufstieg zum oberen Holzweg · Climbing to the Upper Wild-Goose Trail
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KATRIN GÜNTHER Aufstieg zum oberen Holzweg · Climbing to the Upper Wild-Goose Trail
Ausstellungskatalog · Exhibition catalogue
Kunstverein Eislingen 10.9. – 9.10.2016
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Altdorfer und Piranesi auf der Großbaustelle Altdorfer and Piranesi at the Giant Construction Site Heinz Stahlhut Kunstmuseum Luzern
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Eine sich selbst bewohnende Landschaft A Self-Inhabiting Landscape Lucía Rey Orrego Centro de Investigaciones en Estéticas Latinoamericanas Universidad de Chile, Santiago de Chile
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Katrin Günther Vita · Curriculum vitae Ausstellungen · Exhibitions
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Atelier · Studio, Berlin · 2016
Altdorfer und Piranesi auf der GroĂ&#x;baustelle Altdorfer and Piranesi at the Giant Construction Site
Heinz Stahlhut
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Das ist wirklich kaum zu fassen: Ein undurchdringliches
French Holiday von 2015 hingegen markieren den Über-
Gewirr von Stangen, Röhren und Platten breitet sich vor
gang zu einem freieren Schaffen: Vom Format her noch
uns aus und öffnet sich in eine schier unendliche Weite,
ähnlich sind hier alle Formen, wenngleich mit derselben
vor der uns schwindelt. Schrägen reißen unseren Blick
Akribie ausgeführt wie ihre Vorgänger, ungeheuer dyna-
jäh in die Höhe, in der auf leichtem Gestänge windschiefe
misiert. Große Linien führen in eine unmessbare Weite
Hütten balancieren. Weder die räumliche Ausdehnung
und Tiefe, werden in dieser Bewegung von gegenlau-
noch der Reichtum an Details sind in Katrin Günthers
fenden Linien konterkariert; größere Flächen setzen
monumentaler Zeichnung Zum Boden am See von 2015
weiße Akzente im dichten Lineament; das Konstruiert-
zu fassen.
Gebaute findet seinen Gegenpol in fließenden Geländezügen einer engen und hohen Gebirgsschlucht im
Seit ihrer Ausbildung zur Architektin, in Plastischem
Hintergrund, der wiederum eine ausgesparte, vermut-
Gestalten und Zeichnen hat sich Katrin Günther der
lich architektonische Silhouette im rechten Vordergrund
Zeichnung verschrieben. Ihre Zeichnungen kommen auf
antwortet. Hier findet sich auch die so fruchtbare Ver-
den ersten Blick so präzise und akribisch daher, wie man
kehrung der Landschaftsdarstellung von der gewohnten
es von einer Entwerferin erwartet; schließlich garan-
Horizontale in die Vertikale, die im weitaus schlankeren,
tiert die Genauigkeit die Statik des von ihr entworfenen
gestreckteren Format von Zum Boden am See noch
Gebäudes. Doch sollte man sich von dieser Erwartung
forciert wird. Man fühlt sich in mehreren Punkten an
nicht täuschen lassen. Denn gerade in den jüngsten
Albrecht Altdorfers magistrales Gemälde Alexander-
Zeichnungen hat sich Günther von der Überschaubarkeit
schlacht von 1528/29 erinnert, dem die Zeichnungen
befreit, mit der diese Präzision ihre Werke zuvor noch
Günthers sowohl in Hochformat als auch im wimmelnden
beengte. In Zeichnungen wie Waldmeisterbad von 2011
Detailreichtum gleichen. Auch die Überschauperspektive
oder Klotzenmoor aus dem Folgejahr waren zwar schon
von Altdorfers Weltlandschaft, die den Blick über eine
Bauten und Pflanzen zu finden, bei denen Fantastik und
sich endlos dehnende Weite erst ermöglicht, haben
Detailtreue fruchtbar kollidierten. Aber die Bildmotive
jene mit dieser gemein. Überhaupt gehen mit der
wuchsen brav bildflächenparallel aus einem sauber waag-
formalen Befreiung in Günthers Werken auch größere
rechten Grund empor und verstellten so wie Theater-
Dimensionen einher; hatten schon die zuvor erwähnten
kulissen den Blick in die Raumtiefe. Zeichnungen wie
Zeichnungen Waldmeisterbad und Klotzenmoor mit
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110 x 153 cm bzw. 89 x 145 cm nicht eben Kabinett-
wie bei Piranesi oft, im nächsten Moment als architektur-
format, so werden sie von den jüngsten, oftmals um
gebundene Monumentalskulpturen entpuppen, was
250 x 150 cm messenden Blättern noch übertroffen.
die Größenverhältnisse wiederum schlagartig ändert.
Das führt zusammen mit dem schon angesprochenen
Piranesis albtraumhafte Visionen, die neben anderen
Detailreichtum dazu, dass zwei Betrachtungsweisen der
Deutungen als Äußerung eines profunden Zweifels
Werke miteinander konkurrieren: Den ausgreifenden
an einer göttlichen Weltordnung verstanden werden,
Schwung der fantastischen Konstruktionen sieht man
geben mehr noch als Altdorfers Schlachtengemälde,
nur aus einer größeren Distanz; die Details hingegen
das sich auf einen allwissenden Betrachter bezieht
nur aus der Nähe, wodurch sich der Blick im Formen-
und eine Zusammenschau von irdischem und himmli-
gewirr verliert und der Zug in die Raumtiefe umso dra-
schem Geschehen bietet, eine Interpretationshilfe für
matischer wird. Denn erst durch den Blick auf das Detail
Katrin Günthers Zeichnungen an die Hand: Ihre jüngsten
kann man die Größenverhältnisse und damit die Erha-
Werke sind Bilder einer globalisierten, immer komplexer
benheit der wilden Konstruktionen erkennen. So erklärt
erscheinenden Welt mit ungeplant und unplanbar
sich das Unbehagen mancher Betrachterinnen und
wuchernden Mega-Citys, deren Entwicklung bedrohlich
Betrachter vor Günthers Zeichnungen. Denn sie werden
und dynamisch zugleich wirkt.
plötzlich der unermesslichen Tiefe gewahr, in welche der Blick abstürzt, oder der schieren Masse, die wie ein Damoklesschwert über ihnen hängt und angesichts der dynamischen Schwünge auf sie hinabzustürzen droht. Diese Merkmale, die konkurrierenden Sichtweisen sowie den Eindruck von Gefährdung und Erhabenheit, haben Günthers jüngste Werke mit Giovanni Battista Piranesis
Carceri von 1745–1750 gemein. Die Folge von 16 Kupferstichen zeigt düstere, verwinkelte, unterirdische Kerkerarchitekturen, deren Dimensionen sich oftmals erst dann erschließen, wenn man eine der in ihnen verteilten menschlichen Figuren entdeckt. Diese können sich aber,
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It’s all but baffling. An impenetrable tangle of beams,
In contrast, drawings like French Holiday (2015) mark
pipes, and slabs extends away from us, opening into a
her transition to more liberated work. All the shapes
nearly infinite, vertiginous expanse. Steep diagonals tug
retain a similar format, but although they are executed
our gaze upward towards crooked cabins balancing on
with the same meticulousness as their precursors,
fragile rods. We can fathom neither the spatial immensity
they are immensely dynamized. Vast lines lead into
nor the rich detail of Katrin Günther’s monumental 2015
an immeasurable breadth and depth, their motion
drawing Zum Boden am See (To the Ground by the Lake).
controverted by other lines running in the opposite direction; larger blanks add white accents to the dense
Since completing her training in architecture, sculptural
lineament; the built world finds its antithesis in the flowing
design, and drafting, Katrin Günther has devoted herself
mountainous terrain of a tall and narrow canyon in the
to her drawings, which appear at first glance as precise
background, echoed in a recessed, probably architectural
and meticulous as one might expect from a trained
silhouette in the foreground on the right.
drafter; indeed, this exactitude ensures the stability of the buildings she has dreamt up.
We also see the very fruitful reframing of the landscape from the usual horizontal to the vertical axis, which
But we should not let this expectation fool us. In her
is accentuated in the much slimmer, more stretched
latest drawings especially, Günther has liberated
format of Zum Boden am See. In several respects, it is
herself from the comprehensibility that had previously
reminiscent of Albrecht Altdorfer’s magisterial painting
made her precision a limitation of her work. Drawings
The Battle of Alexander at Issus from 1528–29, which
such as Waldmeisterbad (Woodruff Springs) from 2011
Günther’s drawings emulate in their portrait orientation
or Klotzenmoor (Stump Swamp) from the following year
and their swarmingly rich detail. The painting and the
already featured buildings and plants in which fantasy
drawings also share the bird’s-eye perspective of
and faithful detail fruitfully collided. But the images’
Altdorfer’s world-landscape, which enables the view over
subjects grew industriously, parallel to the picture
an infinitely outstretched expanse in the first place.
plane, from pristinely horizontal ground: like theatrical scenery, they blocked our view into the depths of the
The formal liberation of Günther’s work goes funda-
drawn space.
mentally hand in hand with its larger dimensions. If the
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aforementioned drawings Waldmeisterbad (110 x 153 cm)
subterranean dungeon structures whose dimensions are
and Klotzenmoor (89 x 145 cm) were no cabinet cards,
revealed only when one discovers the human figures
the latest sheets, often measuring 250 x 150 cm, have
sprinkled within them. As with Piranesi, these often
surpassed them still. In conjunction with the richness
can turn out in the next moment to be monumental
of detail already addressed, this creates two competing
architectural statues, abruptly changing the dimensions
ways to view the artworks. The expansive sweep of the
once more.
fantastic constructions can only be taken in at a greater remove, while the details can only be discerned up close,
Piranesi’s nightmarish visions, which among other inter-
at which point the viewer’s gaze is lost in the tangle of
pretations are understood as expressions of profound
shapes, and the sense of suction into the space’s depths
doubt over a divine world order, offer an even better key
grows even more dramatic.
to interpreting Katrin Günther’s most recent drawings than Altdorfer’s battle painting, which relies on an omniscient
Only after regarding the details does one recognize
viewer and offers a synthesis of earthly and heavenly
the dimensions and thus the sublimity of the wild
events. Her latest works are images of a globalized,
constructions. This explains the discomfort of some
ever more complex-seeming world with unplanned and
viewers when faced with Günther’s drawings, as they
unplannable mushrooming megacities whose evolution
suddenly grow aware of the immeasurable depth into
seems simultaneously menacing and dynamic.
which their gaze is plummeting or the sheer weight hanging over them like a sword of Damocles, threatening to fall on them with the force of the pieces’ dynamic sweeping motions. Günther’s latest work shares these traits—these competing ways of seeing and the sense of danger and sublimity— with Giovanni Battista Piranesi’s Carceri d’invenzione (The Prisons) from 1745–1750. His series of sixteen copperplate engravings portrays gloomy, labyrinthine
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La Piscina · The Pool · 2016 Tusche, Acryl auf Papier · India ink, acrylic on paper · 200 × 150 cm
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