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erzählt von Heiligen Bergen und Bäumen
Heilige Berge und Bäume
Geisterkirche, Hexenturm, Unholdenberg, aber eben auch Familienbäume – durch die Natur hervorgebrachte Gesteinsformationen oder Gewächse hatten für die Menschen im Bregenzerwald nicht nur praktische, sondern auch enorme spirituelle Bedeutung. Heute werden sie auch zeremoniell bestiegen und umarmt
Als vor ein paar Jahren ein Unternehmen in Erwägung zog, am Fuß des imposanten Gebirgsstocks der Kanisfluh Kies abzubauen, erhob sich inner- und außerhalb der Talschaft heftiger Protest. Schon bald ging es nicht mehr nur um Bedenken aus der Sicht des Natur- und Landschaftsschutzes, sondern um Blasphemie: Die Verwirklichung des Vorhabens würde nichts Geringeres bedeuten als die Schändung des „heiligen Berges“ der Bregenzerwälder – gleichsam ihres Kailash, freilich ohne Besteigungsverbot und Rundum-Pilgerfahrten. Um derlei auf Dauer zu unterbinden, erklärte die Vorarlberger Landesregierung das Kalksteinmassiv 2020 zum Landschaftsschutzgebiet.
Frühere Generationen hätte diese Deutung allerdings aufs Höchste befremdet: Berge dienten ihnen, soweit irgend möglich, als Wirtschaftsflächen für die sommerliche Viehweide und die Heuernte, zur gern ausgeübten Wilderei sowie für gelegentliche Bergbauversuche. Was hingegen zu schroff, zu unzugänglich, daher ökonomisch unnütz und aufgrund von Lawinen, Steinschlag, Muren zudem gefährlich war, galt als „unheimlich“ im magischen Sinn, als Sitz von Dämonen und Geistern – also das Gegenteil von verehrungswürdig, von „heilig“.
Paradebeispiel dafür war die Kanisfluh – oder genauer deren Nordwand. Von ihr hieß es, ein Papst habe alle Geister, die zuvor anderenorts ihr Unwesen getrieben, die Menschen erschreckt und nächtens geängstigt hatten, dorthin gebannt. Wie sehr solche Vorstellungen Gemeingut waren, lässt uns ein Gerichtsprotokoll aus dem Jahr 1767 wissen: Eine nach ihrem Tod als besonders hartnäckiges Gespenst im Rheintal umgehende Frau sei erst zur Ruhe gekommen, als ein magischer Spezialist – allem Anschein nach ein Kapuzinerpater – sie in die Kanisfluh bannte. Den Hauptsitz solcher dämonischer Wesen vermuteten die Talbewohner in einem markanten Felsenturm, den sie „Geisterkirche“, ‚‚Hexenturm“ oder „Wirmensul“ nannten. In manchen Nächten könne man dort die Lichter unerlöster Seelen aufleuchten sehen und sogar ein Glöcklein läuten hören.