BV 477 - Hoos de Jokisch, Die geistige Klangvorstellung

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Franziska Martienßen-Lohmann (1887–1971) prägte die deutsche Gesangspädagogik des 20. Jahrhunderts durch ihre langjährige praktische Lehrtätigkeit. Deren theoretische Grundlagen erörterte sie gleichzeitig in ihrem fachschriftstellerischen Werk. Die sechs richtungsweisenden Bücher Martienßen-Lohmanns werden hier erstmals analysiert und als Schwelle zur modernen Gesangspädagogik gekennzeichnet.

Barbara Hoos de Jokisch gestaltet ihre Darstellung des Wirkens von Franziska Martienßen-Lohmann als Kaleidoskop aus Biographie, Werk und Zeitgeschichte. MartienßenLohmanns Arbeit entspringt der klangorientierten Tradition des Belcanto im 19. Jahrhundert. Durch ihr frühes Interesse für die physiologische Stimmforschung kommt eine funktionsorientierte Perspektive hinzu. In der Balance zwischen diesen beiden gegensätzlichen pädagogischen Herangehensweisen gelang es Martienßen-Lohmann, eine Brücke zwischen Erfahrungswissen und neuer Forschung, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu schlagen. Darin liegt die Aktualität ihres Ansatzes. Mit der Aufarbeitung des Werkes von Martienßen-Lohmann gewinnt das Buch Kriterien für den theoretischen Vergleich verschiedener methodischer Ansätze der Gesangspädagogik. Zugleich bringt es Gewinn für das Selbstverständnis heutiger Gesangslehrender und kann so in die praktische Unterrichtssituation hinein wirken. Die CD-ROM enthält neben ausführlichen Verzeichnissen bislang unveröffentlichte Texte, Briefe, Selbstzeugnisse sowie Ton- und Filmdokumente.

Die geistige Klangvorstellung

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Barbara Hoos de Jokisch

Die geistige Klangvorstellung

Eine unerhört vielgestaltige Landschaft der Kunst, Pädagogik und

der Darstellung sowie der Differenziertheit und Bündigkeit der Erörterung findet man kaum irgendwo in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gesangspädagogik. Ulrich Mahlert

Barbara Hoos de Jokisch Studium der Schulmusik, Germanistik, Instrumental- und Vokalpädagogik an der Universität der Künste Berlin, Sängerin und Gesangspädagogin, u. a. an den Musikhochschulen von Berlin und Mexiko-Stadt. Wissenschaftliche Forschung, Vorträge und Publikationen zur Gesangspädagogik. Promotion 2011. Mitglied im Vorstand des Bundes Deutscher Gesangspädagogen 2010–2014. Seit 2012 Dozentin für Gesang und Methodik an der Universität der Künste Berlin.

Barbara Hoos de Jokisch

Wissenschaft des Gesangs wird sichtbar. Eine vergleichbare Qualität

Franziska Martienßen-Lohmann Gesangstheorie und Gesangspädagogik

ISBN 978-3-7651-0477-0

9 783765 104770 BV 477

mit CD-ROM

Breitkopf & Härtel



Barbara Hoos de Jokisch

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Die geistige Klangvorstellung


Dem Andenken meiner Eltern Marilies und Heinrich Hoos


Barbara Hoos de Jokisch

Die geistige Klangvorstellung Wieland Ziegenrücker Franziska Martienßen-Lohmann Gesangstheorie und Gesangspädagogik

ABC Musik · Allgemeine Musiklehre 446 Lehr- und Lernsätze

neufassung 2009

Breitkopf & HärteL BREITKOPF & HÄRTEL WiesBAden · LeipZig · pAris


Zur Nutzung der CD-ROM Systemvoraussetzungen: mind. 512 MB RAM Windows®: ab Windows® XP / Mac®: Power Mac® ab G3, ab OS X® v10.5 / neuere Linux®-Systeme Browser: Internet Explorer® ab Version 9, Firefox®, Chrome® oder Safari® Zum Anzeigen der PDF-Dokumente ist der Adobe® Reader® oder eine gleichwertige Anwendung erforderlich. Anwendung unter Windows® Startet das Programm nicht automatisch nach dem Einlegen, öffnen Sie das Stammverzeichnis der CD über den Windows Explorer® und öffnen Sie die Datei „START.HTML“. Falls die Dokumente im Browser nicht korrekt angezeigt werden, öffnen Sie die einzelnen Dateien mit dem Windows Explorer®. Anwendung unter Mac OS X® und unter Linux® Öffnen Sie das CD-ROM-Verzeichnis und öffnen Sie die Datei „START.HTML“. Falls die Dokumente im Browser nicht korrekt angezeigt werden, öffnen Sie die einzelnen Dateien mit dem Finder. Adobe® und Reader® sind Marken oder eingetragene Marken von Adobe Systems Incorporated, Windows® und Windows Explorer® der Microsoft® Corporation, Power Mac®, Safari®, OS X® der Apple Inc., Chrome® von Google. Inc., Firefox® von Mozilla.org, Linux® von Linus Torvalds.

Wir danken allen im Buch genannten Archiven und Privatpersonen für die freundlichen Genehmigungen zur Veröffentlichung der Bild-, Ton-, Film- und Textdokumente. Zur Dissertation an der Universität der Künste Berlin angenommen.

BV 477 ISBN 978-3-7651-0477-0 © 2015 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Marion Schröder, Wiesbaden (Foto: StBPK) Layout: Marion Schröder, Wiesbaden Satz und Druck: Hubert & Co, Göttingen Printed in Germany CD-ROM: Programmierung und Multimediadesign: Rainer Licht, Hamburg www.rainerlicht.de Herstellung: B&B Media Service, Olpe www.breitkopf.de


Leitlinien „Geistige Klangvorstellung“: „[…] die Töne waren für ihn [Messchaert] Manifestationen des inneren Sinns, klare, bis ins Letzte geistig durchgestaltete Darstellungen seiner Klangvorstellung, seines unendlich verfeinerten, unendlich liebevoll heranerzogenen inneren Hörens. […] Ihm war das Geistige der Technik – die Klangvorstellung – alles.“1 Franziska Martienßen

„Aufstieg und Abstieg“: „… Bildung bezeichnet selbst die Spannung oder Brücke […] zwischen tradierten Idealen und aktuellem Kompetenzbedarf, zwischen philosophischer Selbstvergewis­ serung und praktischer Selbsterhaltung der Gesellschaft. Ich hätte auch – mit Pla­ tons großem Gleichnis – sagen können: Bildung ist beides – Aufstieg ans Sonnenlicht und Abstieg in die Höhle. Das eine ist ohne das andere sinnlos und unbekömm­ lich.“2 Hartmut von Hentig

„Wendung nach innen“: „Der deutsche Geist unterscheidet sich von dem griechischen dadurch, daß er den Idealismus in die Innerlichkeit des Subjekts versenkt, dass er im Gemüte, im Selbst und nicht am überhimmlischen Orte die Ideen wahrnimmt, oder dadurch, daß er nicht die Ideen, sondern das Bewußtsein der Ideen zum letzten Prinzip alles Erken­ nens macht.“3 Richard Kroner

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FM 1922b, siehe Anhang 3.7 (PDF 3, S. 47). von Hentig 1996, S. 58. Kroner 21961 (original: 1921/1924), S. 35f.


Bild 1: Franziska MartienĂ&#x;en-Lohmann 1952 Quelle: RP


Inhaltsübersicht Diese Inhaltsübersicht soll den großen Duktus der Arbeit sichtbar machen. Das ab Seite 592 abgedruckte Ausführliche Inhaltsverzeichnis dient neben dem detaillierten Gesamtüberblick auch dem Auffinden von Unterthemen.

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen und allgemeine Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zugangswege zur Arbeit: „Einfühlung“, „Konstellation“ und „Denkraum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. „Einfühlung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Konstellation“ und „Denkraum“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„Zukunft braucht Herkunft“: Historische und biographische Ausgangssituationen bis 1911 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Interdisziplinarität und „Kreisgang“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35 35

2. „Polarität und Synthese“. Zur Problematik der „deutschen Gesangspädagogik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. „Auf den Schultern von Giganten“. Julius Stockhausen als historischer Vorläufer Franziska Martienßen-Lohmanns . . . . . . . . . . . . . .

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I.

4. Vorbereitung auf Kunst, Pädagogik und Wissenschaft. Zur Biographie Franziska Martienßens, geb. Meyer-Estorf, von 1887 bis 1911 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vom Blumengärtner zum Sänger und Gesangspädagogen. Zur Biographie Johannes Martinus Messchaerts von 1857 bis 1911 . . . . 6. „Stimme und Geige“. Zur Situation der Gesangsausbildung an der Königlich-akademischen Hochschule für Musik zu Berlin von 1869 bis 1911 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Franziska Martienßen und Johannes Messchaert: Begegnung in Berlin, 1911–1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Johannes Messchaert als Hochschullehrer in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Franziska Martienßens Gesangsunterricht bei Johannes Messchaert . . . 3. 1914: „Jahr des Umbruchs“ für Franziska Martienßen . . . . . . . . . . . . . . . .

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69 115


III. Die echte Gesangskunst. Grundlegung der Gesangstheorie Franziska Martienßens, 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. „Vom Meister zum Handwerk“: Johannes Messchaert. Ein Beitrag zum Verständnis echter Gesangskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Methodische Einführung in die Betrachtung von Die echte Gesangskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Annäherung an Die echte Gesangskunst in vier Hauptthemen: Didaktik, Position, Klangideal, Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Versuch einer Auswertung von Die echte Gesangskunst . . . . . . . . . . . . . .

IV. Franziska Martienßen und Johannes Messchaert: Eine Verbindung in Schriften, 1914–1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205 205 205 210 213 350

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Zusammenfassung des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nachklänge zu Die echte Gesangskunst: Der Briefwechsel zwischen Franziska Martienßen und Johannes Messchaert, Zeitungsrezensionen und Gedenkschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

358

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2. Vorbereitungen zur zweiten Veröffentlichung: Das bewußte Singen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Briefe und Gedenkschriften Franziska Martienßens zu Messchaerts 65. Geburtstag, 1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

379

4. Johannes Messchaerts Tod, 1922 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

384

V. „Die geistige Klangvorstellung“: Ausbau der Gesangstheorie Franziska Martienßens, 1922–1927 . . . . . . . . . . . . .

386

Zusammenfassung des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

386

1. Nachrufe und Aufsätze zu Johannes Messchaert, 1922/23 . . . . . . . . . . . . 2. Das bewußte Singen. Grundlegung des Gesangstudiums, 1923 . . . . . . . . 3. Biographische Krise und Lösung, 1924–1929. Franziska Martienßen und Paul Lohmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. 1927: „Jahr der Konsequenzen und Ergebnisse“ für Franziska Martienßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Stimme und Gestaltung. Die Grundprobleme des Liedgesangs, 1927 . . .

386 402

452 457

6. Die drei Grundschriften Franziska Martienßens – ein Entwicklungsweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

463

7. Eine Gesangstunde, 1927 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

477

424


VI. „Ideal und Verwirklichung“: Ausbau und Ausbreitung der Gesangspädagogik Franziska Martienßens, 1928–1949 . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beginn der Meisterkurse für Gesang mit Paul Lohmann, 1928 . . . . . . . . . 2. Enthüllung des Messchaert-Denkmals in Hoorn am 24.5.1930 . . . . . . . .

484 485 489

3. Individuelle Gesangspädagogik in Zeiten einer Ideologie der Massen, 1930–1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausbildung der menschlichen Stimme, 1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

495 503

5. Berufung und Bewährung des Opernsängers, 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Nachkriegsjahre und Neuanfang, 1945–1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Letzte Spuren Johannes Messchaerts in Franziska Martienßen-Lohmanns Schriften, 1950–1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vortrag über Johannes Messchaert, Amsterdam 1950 . . . . . . . . . . . . . . .

519 519

2. 3. 4. 5.

528 540 549

Der wissende Sänger, 1956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Messchaert Herdacht und Johannes Messchaert, 1957 . . . . . . Brief an Dr. med. Julius Parow, 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stiftung der Briefe Johannes Messchaerts durch Franziska Martienßen-Lohmann, 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Epilog: Franziska Martienßen und Johannes Messchaert – im Ideal verbunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

551

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Primärquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

561

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Übersicht über die CD-ROM . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ausführliches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis einer langjährigen Auseinandersetzung mit Leben und Werk der deutschen Gesangspädagogin Franziska Martienßen-Lohmann. Die Arbeit ist vorrangig ausgerichtet auf den theoretischen Kern von MartienßenLohmanns Gesangsauffassung. Diese Gesangsauffassung entwickelte sich, begin­ nend mit Johannes Messchaert. Ein Beitrag zum Verständnis echter Gesangskunst (1914)4, Martienßen-Lohmanns erster Veröffentlichung über ihren Lehrer Johannes Messchaert, kontinuierlich in ihren zahlreichen Schriften zur Gesangspädagogik wei­ ter bis hin zu ihrer letzten Veröffentlichung Der wissende Sänger (FML 1956)5. Der Begriff „geistige Klangvorstellung“ geht inhaltlich auf Johannes Messchaert zurück; er wurde von Franziska Martienßen-Lohmann ursprünglich zur Kennzeichnung der besonderen Gesangsauffassung ihres Lehrers geprägt, stellt jedoch mit gleichem Recht schließlich auch das zentrale Schlüsselwort für ihre eigene Gesangstheorie dar. Diese Theorie äußerte sich in einer methodischen Grundhaltung, die sich unmit­ telbar in der gesangspädagogischen Praxis der Autorin auswirkte. Es war gerade das besondere Ineinandergreifen von Theorie und Praxis, mit dem Franziska Martien­ ßen-Lohmann die Gesangspädagogik des 20. Jahrhunderts in Deutschland derart nachhaltig beinflussen konnte. So versteht sich die vorliegende Arbeit unter dem Titel Die geistige Klangvorstellung. Franziska Martienßen-Lohmann. Gesangstheorie und Gesangspädagogik in erster Linie als ein Beitrag zu Theorie und Methodik des Gesangs. Meine erste Begegnung mit den Schriften Franziska Martienßen-Lohmanns fand bereits während des Schulmusikstudiums statt; sie wurde vertieft im anschließen­ den Gesangspädagogikstudium. In verschiedenen Abschnitten meiner Gesangsaus­ bildung konnte ich „am eigenen Leib“ die Nachwirkung und Weiterentwicklung der pädagogischen Arbeit Martienßen-Lohmanns zunächst in der „Enkel-Generation“ erleben. So waren meine Gesangslehrerinnen Jutta Schlegel (†) und Inge Uibel selbst Schülerinnen Hanne-Lore Kuhses bzw. Gerda Altenburgers. Die beiden letz­ teren zählten zu den Teilnehmerinnen der Luzerner Meisterkurse, die Franziska Martienßen-Lohmann mit ihrem zweiten Ehemann Paul Lohmann alljährlich durch vier Jahrzehnte hindurch durchgeführt hatte. Besonders aufschlussreich hinsichtlich der gesangspädagogischen Tradition von Franziska Martienßen-Lohmann wurde für mich jedoch die Unterrichtserfahrung, die ich unerwarteterweise noch im letzten

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FM 1914 (DEG), FM 1920 (2DeG). FML 1956 (DwS).

Vorwort

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Jahr vor Abschluss meiner Arbeit bei Prof. Reinhard Becker gewinnen durfte. Dieser hatte nach dem Abschluss seines Klavierstudiums bei Max Martin Stein, dem Assis­ tenten von Martienßen-Lohmanns erstem Ehemann Carl Adolf Martienssen, als Gesangsschüler Franziska Martienßen-Lohmanns selbst an den Luzerner Meister­ kursen teilgenommen. Durch Professor Becker lernte ich die grundlegende und umfassende Systematik der Martienßen-Lohmann-Arbeit in der Praxis kennen.6 Meine Entscheidung für eine Dissertation über die deutsche Gesangspädagogin Franziska Martienßen-Lohmann fiel nach eigener langjähriger Lehr- und Konzerttä­ tigkeit im Sommer 1997 – in Mexiko. Mein insgesamt neunjähriger Aufenthalt in diesem lateinamerikanischen Land, die Begegnung mit dem dort nachwirkenden Klangideal des italienischen Belcanto und die Konfrontation mit einer gänzlich ande­ ren Auffassung von Gesangspädagogik schufen einen wertvollen Kontrast zu mei­ nen bisherigen sängerischen und gesangspädagogischen Erfahrungen. In meinem Gesangsunterricht bei Maestro Manuel Peña (*1922) öffnete sich mir ein Zugang zu der italienischen Klangvorstellung, wie sie auch den historischen Gesangsschulen von Tosi, García, Marchesi etc. zugrundegelegen haben mochte. Die Suche Johannes Messchaerts und seiner Schülerin Franziska Martienßen-Lohmann nach einer Syn­ these zwischen dem italienischen Klangideal und den deutschen Sprachelementen wurde mir dadurch aus eigener Erfahrung nachvollziehbar. In der Arbeit mit meinen Gesangsstudenten an der Escuela Nacional de Música in Mexiko-Stadt stellte sich für mich die Frage nach der Gestaltung des pädagogi­ schen Dialogs zwischen Gesangslehrer und Gesangsschüler und der daraus resultie­ renden selbstverantwortlichen Mitbeteiligung des Gesangsschülers ganz neu. Fran­ ziska Martienßen-Lohmanns Ausgangssituation zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ihr Anliegen, Gesangsausbildung zu einem bewussten, individuellen Erfahrungsweg für den Gesangsschüler zu machen, und ihr Versuch, Interesse für naturwissenschaftli­ che Stimmforschung mit gesangspädagogischer Intuition zu verbinden, wurden für mich aus dem konkreten Alltag heraus in einer fremden kulturellen Umgebung als Aufgabenstellung anders verständlich. Diese grundsätzlichen, kontrastierenden Erfahrungen wirkten sich auch auf meine gedankliche Auseinandersetzung mit den Veröffentlichungen MartienßenLohmanns aus. Die schriftliche Auswertung konnte, auch durch die Verfügbarkeit entsprechender Quellen, schließlich erst nach meiner endgültigen Rückkehr nach Deutschland erfolgen. Die Aufgeschlossenheit und das lebhafte Interesse für einen bewussten Umgang mit dem komplexen Thema „Gesang“, das meine Berliner Gesangspädagogikstudenten im Unterricht in Methodik und Lehrpraxis des Gesangs

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Eine praxisbezogene Dokumentation der systematischen Gesangsübungen von FML, vermit­ telt durch Reinhard Becker und in langjähriger Unterrichtspraxis von ihm erprobt, ist in Vor­ bereitung und wird ebenfalls bei Breitkopf & Härtel erscheinen.

Vorwort


an der Universität der Künste zeigten, haben mir erneut die Zeitlosigkeit und Aktua­ lität der Schriften Franziska Martienßen-Lohmanns bestätigt. Ihnen verdanke ich vielfältige Anregungen, die ebenfalls in meine Arbeit eingeflossen sind. So unterschiedliche Faktoren wie die historische Entwicklung der Gesangspäda­ gogik, Zeitgeschichte, philosophische Fragestellungen und persönliche Lebensum­ stände wirken sich auf Franziska Martienßen-Lohmanns Schriften aus. Jeder dieser Themenkomplexe hat seinen eigenen Gedanken- und Schreibstil, der sich auch in den entsprechenden Abschnitten meiner Arbeit widerspiegelt. Von Anfang an inte­ ressierte mich neben den theoretischen Elementen von Martienßen-Lohmanns Gesangsauffassung auch die Dynamik zwischen der Biographie der Autorin und ihren Veröffentlichungen. Meine persönlichen Nachforschungen im Nachlass Fran­ ziska Martienßen-Lohmanns und Paul Lohmanns im Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, von 1997 an regelmäßig, wenn auch zunächst in größeren Abständen angestellt, führten dazu, dass ich 2007 von der Leitung des Archivs gemeinsam mit Ruth Grünhagen, der langjährigen Assistentin und Biogra­ phin Martienßen-Lohmanns, und Dieter Gloede, dem Enkel Martienßen-Lohmanns, offiziell mit der systematischen Ordnung beider Nachlässe betraut wurde. Diese besondere Form der Zusammenarbeit fand durch den Tod Ruth Grünhagens im Fe­ bruar 2009 ein unerwartetes Ende. Der große Umfang der Dokumente erlaubte bis­ her nur eine thematische Ordnung und eine erste systematische Kennzeichnung, für die sich in erster Linie Dieter Gloede eingesetzt hat und die von ihm weitergeführt wird. Erste Veröffentlichungen zum Thema meiner Dissertation, verschiedene Vor­ träge auf gesangspädagogischen Fachkongressen und nicht zuletzt mein Lehrauftrag für Gesangsmethodik an der Universität der Künste Berlin brachten mich in Verbin­ dung mit einem sich ständig erweiternden Kreis von Sängern und Gesangspädago­ gen, für deren berufliche Entwicklung Martienßen-Lohmann eine besondere Bedeu­ tung hatte. Dazu gehörten verschiedene noch lebende Schüler Franziska Martien­ ßen-Lohmanns und Paul Lohmanns, die mir als Zeitzeugen wertvolle Hinweise und Eindrücke aus dem Unterricht bei beiden Pädagogen vermittelten: nach der bereits erwähnten Ruth Grünhagen vor allem Prof. Reinhard Becker, des Weiteren Prof. Roland Hermann, Prof. Ingeborg Reichelt, Johanna Rutishauser, Karin Schefold und Ortrun Wenkel, die ich eingehend nach ihren Unterrichtserfahrungen bei Franziska Martienßen-Lohmann bzw. Paul Lohmann befragen konnte. Einige der Genannten stellten mir persönliche Fotos, Unterrichtshefte, Briefe, Noten und Erinnerungsstü­ cke zur Verfügung. Zahlreiche, zum Teil auch fachfremde Gesprächspartner regten mich durch Fragen und Kommentare zu einzelnen Abschnitten der Arbeit an. So haben viele Menschen das Zustandekommen dieser Arbeit begleitet. Ihnen ist eine Danksagung am Ende dieses Buches gewidmet. Ich wünsche diesem Buch, dass es nicht nur die Entwicklung Franziska Martien­ ßen-Lohmanns zur historischen Leitfigur der deutschen Gesangspädagogik, sondern vor allem auch ihre Bedeutung als gesangswissenschaftliche Vordenkerin veran­ Vorwort

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schaulichen möge. Wohl vermittelt Franziska Martienßen-Lohmann, die in ihren Schriften „logisch und gründlich über Singen und Unterricht Auskunft“7 gibt, durch den weiten Horizont ihrer „dynamischen Ganzheitserfassung“8 zeitlose Erkennt­ nisse über den Gesang. Gleichzeitig jedoch gibt sie den heutigen Lesern durch ihre klare, gedankliche Systematik und ihren stets auf das übergeordnete Prinzip ausge­ richteten Blick einen Weg vor, auf dem eigene praktische Erfahrungen mit der Stimme in bleibende Erkenntnisse verwandelt werden können. Auf diese Weise macht sie aus gesangspädagogischen Praktikern neugierig staunende, lebenslang lernende Stimmforscher. In der methodischen Anleitung zu diesem besonderen Schulungsprozess liegen die eigentliche, nachhaltige Wirkung und der kontinuierli­ che Transfer, den die Beschäftigung mit Franziska Martienßen-Lohmann und ihren Schriften uns heutigen Lesern ermöglicht. Berlin, im Herbst 2014

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Piernay 2012, S. 62. FM 1923a, Vorwort zur 3. Auflage 1951.

Vorwort

Barbara Hoos de Jokisch




Einleitung

Franziska Martienßen-Lohmann9 (1887–1971) nimmt in der Geschichte der Gesangspädagogik in Deutschland einen besonderen Platz ein. Über ein halbes Jahr­ hundert hindurch war sie als Gesangspädagogin und Fachschriftstellerin tätig. Sie wirkte in dieser Zeit an vier Musikhochschulen, bildete zahlreiche renommierte Sän­ ger und Gesangspädagogen aus und veröffentlichte sechs gesangspädagogische Fachbücher10. Darin stellte sie vor dem historischen Hintergrund des europäischen Kunstgesangs – in Kenntnis stimmphysiologischer Tatsachen und auf der Basis ihres philosophischen Interesses – folgende grundlegende Fragen: Was ist Gesang und wie ist Gesang im einzelnen Sänger möglich? Oder: Wie verbindet sich die Universa­ lität des Gesangs mit der Individualität des Sängers? Wie kommen Stimmtechnik und Gesangsinterpretation im Sänger zu einer Ausgewogenheit? Und weiter: Wel­ chen methodischen Richtlinien folgt eine zeitgemäße, bewusste Gesangspädagogik? Mit ihrem Wirken prägte Franziska Martienßen-Lohmann das Verständnis für ihr Fach und das Selbstverständnis ihres Berufsstands im 20. Jahrhundert neu. Die herausragende Bedeutung Franziska Martienßen-Lohmanns kommt aus heu­ tiger Sicht durch die seltene Verbindung zwischen ihrer umfangreichen gesangs­ pädagogischen Praxis und ihrer vertiefenden fachschriftstellerisch-theoretischen Reflexion zustande. Letztere reicht in Form und Gehalt weit über die schriftlichen Äußerungen von Gesangspädagogen hinaus, welche etwa gegen Ende einer langen

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In dieser Arbeit wird die Schreibweise des Nachnamens verwendet, die FM seit etwa 1914 selbst verwendete. Die uneinheitliche Schreibweise des Nachnamens bei FM mit „ß“ und CAM mit „ss“ kommt durch die Umstellung von Sütterlinschrift auf lateinische Schrift zustande. In der Sütterlinschrift wurde der Name mit „s“ und „z“ geschrieben, das FM später folgerichtig in ein lateinisches „ß“ übertrug. CAM bevorzugte dagegen ein doppeltes „s“, wie es der Herkunft des Namens aus dem Dänischen entspricht: „Martiens-sen“ = „Martiens Sohn“. Die Schreibweise „Franziska Martienssen“ in der Biographie von Gloede und Grünha­ gen kann zum einen aus dem Fehlen eines „ß“ im Schweizerdeutschen und zum anderen aus der Tatsache erklärt werden, dass der Schweizer Atlantis Verlag sich für eine einheitliche Schreibweise aller Namen entschied: Franziska, Carl Adolf, Ekkehard Martienssen. In der vorliegenden Arbeit wird die Fassung des Nachnamens der Autorin ihrer jeweiligen familiä­ ren Situation entsprechend verwendet. Vor ihrer ersten Heirat 1912 hieß sie Meyer-Estorf, danach Martienßen, nach ihrer zweiten Heirat 1929 nannte sie sich Martienßen-Lohmann. In der Sekundärliteratur existieren beide Schreibweisen, Martienßen und Martienssen, nebeneinander. Bei einem siebten Buch – dem vierten in der Reihenfolge – war sie als Herausgeberin tätig. Dieses rechne ich fortan zum dritten hinzu. Zu den Buchveröffentlichungen kommen zahlrei­ che Artikel in Fachzeitschriften.

Einleitung

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Berufslaufbahn die Essenz ihrer persönlichen Erfahrungen der Nachwelt zu Nutze in einem Band zusammenfassen. Franziska Martienßen beginnt mit dem Schreiben noch vor dem Einsetzen ihrer eigentlichen gesangspädagogischen Tätigkeit – bei ihr geht die Reflexion der pädagogischen Tat voraus. In ihrer ersten Veröffentlichung über Gesang baut Franziska Martienßen allein auf den Erfahrungen und Anregun­ gen auf, die sie als Gesangsstudentin in ihrer eben erst abgeschlossenen Ausbildung bei ihrem Lehrer, dem großen Sänger Johannes Messchaert, gewinnen konnte. Von hier ausgehend begleitet die Verschriftlichung von Gesang und Gesangser­ fahrung Franziska Martienßen-Lohmanns gesamte pädagogische Tätigkeit. Praxis und Theorie erweisen sich bei ihr auf einzigartige Weise als ebenbürtig. Bei einer Betrachtung ihrer Veröffentlichungen ist deshalb immer zu bedenken, dass Fran­ ziska Martienßen-Lohmann nicht ausschließlich Schriftstellerin war, sondern gleich­ zeitig als Gesangspädagogin arbeitete. Wohl überschreitet ihr Schriftwerk an Umfang und inhaltlicher Tiefe die Schriften anderer Gesangskollegen bei weitem. Dennoch bleibt bei ihr die Beschreibung einer Anwendung ihrer Gesangsauffassung auf die Praxis bewusst unvollständig. Martienßen-Lohmann gibt in ihren Schriften so gut wie keine konkreten Übungsanleitungen.11 Es ging der Autorin in erster Linie um das Freilegen der Grundmaximen methodischen Vorgehens, nicht aber um deren Verfolgung bis in die letzten praktischen Konsequenzen hinein. So nehmen die Schriften Martienßen-Lohmanns eine seltene Sonderstellung ein. Für praxisinteressierte Gesangspädagogen sind sie auf den ersten Blick zu wenig anwendungsbezogen, von einem rein philosophischen Standpunkt aus wären sie vermutlich zu handwerksgebunden – sofern sie dort entdeckt würden. Hier zeigt sich die Notwendigkeit der Aufarbeitung von einem interdisziplinär orientierten Standpunkt aus, wie ihn die Kunsttheorie für Malerei und Bildhauerei, so auch die Gesangstheorie für den Gesang darstellt. Von diesem Standpunkt aus sollte ver­ sucht werden, sowohl dem in den Schriften enthaltenen philosophischen Ansatz als auch der besonderen, auf die Praxis ausgerichteten Fachthematik gerecht zu wer­ den. Die Auswirkungen von Franziska Martienßen-Lohmanns praktischer Arbeit zei­ gen sich in der gesangspädagogischen Tätigkeit ihrer Schüler und Enkelschüler, und dies bis heute. Trotz allen Respektes, der Martienßen-Lohmanns Veröffentlichungen bis in aktuellste Publikationen gezollt wird, gibt es indes bisher noch keinen Ver­ such, ihren theoretischen Ansatz als Ganzen zu betrachten und als solchen aufzuar­ beiten.

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Einzige Ausnahme bildet die zunächst als Aufsatz unter dem Titel Ausbildung der menschli­ chen Stimme (FML 1937) herausgegebene Schrift Ausbildung der Gesangsstimme (FML 1949a).

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Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein erster Schritt in diese Richtung. Um es gleich zu Beginn deutlich zu machen: Mein Interesse gilt an dieser Stelle weniger Franziska Martienßen-Lohmanns praktischem, gesangspädagogischem Vorgehen, dessen Rekonstruktion in Form eines anwendungsorientierten Schulwerkes mit notierten Übungen eine überaus lohnende Aufgabe wäre. Stattdessen wende ich mich hier nun Martienßen-Lohmanns Grundauffassung des Gesangs zu, die als ein­ heitliche theoretische Basis in allen ihren Veröffentlichungen zum Tragen kommt. Franziska Martienßen-Lohmanns umfassendes und tiefgründiges Gesangsver­ ständnis erschließt sich nicht durch ein „Blättern in ihren Büchern“12 oder durch ein ausschnittweises Zitieren daraus. Die Gedankenführung und der Sprachstil Martien­ ßen-Lohmanns erfordern ein für gesangspädagogische Veröffentlichungen unge­ wöhnlich intensives Lesen und eine konzentrierte Vertiefung. Auch kann die Ausei­ nandersetzung mit einzelnen ihrer Werke nur einen Ausschnitt ihrer Auffassung freilegen. Erst der Zusammenhang aller ihrer Veröffentlichungen miteinander kann das homogene gesangspädagogische Weltbild, das sich in ihnen seinen Ausdruck zu verschaffen sucht, annähernd zur Erscheinung bringen. Dem Blick von den Anfängen ihrer fachschriftstellerischen Tätigkeit aus steht der Blick von deren Ende her gegenüber. Dort leuchtet die Komplexität von Fran­ ziska Martienßen-Lohmanns Gesangsauffassung in ihrem Alterswerk Der wissende Sänger auf, hier allerdings zu einzelnen, ausgewählten Stichpunkten verdichtet, die der Zufälligkeit alphabetischer Reihenfolge unterworfen sind. Dieses Werk aus dem Jahr 1956 gehört bis heute zum Grundstock der gesangspädagogischen Fachlitera­ tur in Deutschland. Die ersten drei Bücher Martienßen-Lohmanns sind am wenigs­ ten bekannt, das folgende wird seiner praktischen Anwendbarkeit wegen noch am ehesten, dann jedoch oft nur ausschnittweise herangezogen. Die vorliegende Arbeit ist maßgeblich bestimmt durch den Versuch, die Entste­ hung von Franziska Martienßen-Lohmanns Gesangsauffassung zu begleiten, den theoretischen Gehalt ihrer Schriften in der chronologischen Reihenfolge ihrer Buch­ veröffentlichungen zutage zu fördern und in ihrer Entwicklung darzustellen. Dabei gehe ich schwerpunktmäßig von der ersten Veröffentlichung aus. Darauf folgend betrachte ich die drei ersten Veröffentlichungen und zeige den Zusammenhang auf, der zwischen ihnen besteht. Das Aufdecken theoretischer Elemente in diesen Schriften bedeutet für mich zunächst nicht, dass die Autorin vorsätzlich beabsichtigt habe, eine Theorie zu ent­ wickeln. Ich verstehe unter Theorie vielmehr bestimmte, auch latent bleibende Grundformen des Denkens, die durch ihre stetige Wiederkehr in einem Werk eine

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In diesem Sinne schreibt etwa Ank Reinders über FML: „Wenn man in ihren Büchern […] blättert, so scheint es nicht einfach, eine regelrechte Methodik Franziska Martienssen-Loh­ manns zu entdecken.“, Reinders 1997, S. 194f.

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bestimmte Struktur schaffen und damit Einheit bewirken. Diese einheitsstiftende Grundstruktur nenne ich die Theorie eines Werkes. Aufgrund zahlreicher theorie­ trächtiger Aussagen in den Veröffentlichungen Franziska Martienßen-Lohmanns und der Tatsache, dass sie selbst den Begriff „Gesangstheorie“ explizit verwendet, kann bei dem Schriftwerk Martienßen-Lohmanns nicht nur von der Existenz einer Theorie ausgegangen werden, sondern auch davon, dass sich die Autorin der theo­ retischen Dimension ihrer Äußerungen bewusst war. Setzt man bei Franziska Martienßen-Lohmanns Schriften deshalb eine fassbare Gesangstheorie voraus, so kann man weiter fragen: Warum ist diese Theorie im Laufe der vergangenen knapp 100 Jahre seit Erscheinen ihres ersten Buches (1914) nicht bereits längst Gegenstand der Diskussion geworden? Eine mögliche Antwort wäre darin zu finden, dass Gesangspädagogik zunächst primär ein anwendungsbe­ zogenes Interesse hat. Die Veröffentlichungen einer Gesangspädagogin unter einem philosophischen oder theoretischen Gesichtspunkt zu untersuchen, scheint deshalb keinen unmittelbaren Gewinn für den Unterricht zu versprechen. Dessen ungeach­ tet stellen Martienßen-Lohmanns Schriften durch die darin enthaltenen wertvollen Hinweise auch ohne einen komplexen theoretischen Hintergrund bereits eine aus­ reichende, nachhaltig willkommene Fundgrube für gesangspädagogische Fragestel­ lungen im Unterricht dar. Fachrichtungen sind eigenen Entwicklungen unterworfen. So folgte auf die Absetzung spezieller Wissenschaftszweige von ihren Mutterdisziplinen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, bei der sich z. B. Pädagogik und Psychologie von der Philoso­ phie ablösten und verselbständigten, eine Zeit der Ausdifferenzierung und Konsoli­ dierung in der Praxis, die sich weit ins 20. Jahrhundert hinein erstreckte.13 Die in den letzten Jahrzehnten sich verstärkende Theoriediskussion versucht in verschie­ denen Wissenschaftsbereichen, den jeweiligen Vorsprung der Praxis durch eine ent­ sprechende theoretische Aufarbeitung aufzuholen. Auf diese Weise kann Wissen­ schaft aus Empirie entstehen. Franziska Martienßen-Lohmanns Ansatz, gesangspä­ dagogische Praxis durch eine Blickrichtung aufzuwerten, die auf die übergeordneten ideellen Ziele ausgerichtet ist, stellt meines Erachtens eine frühe Form theoretischer Verarbeitung von Gesangspädagogik dar, mit der Martienßen-Lohmann ihrer Zeit weit voraus war. Die Kontroverse zwischen italienischer und deutscher Gesangspädagogik, vor mehr als einem Jahrhundert geschürt und als solche auch von Johannes Messchaert und Franziska Martienßen-Lohmann aufgegriffen, erweist sich langfristig als ein Thema, bei dem, quasi als Nebeneffekt, die Aufmerksamkeit für theoretische Struk­

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Zur Ausdifferenzierung von Wissenschaft, speziell zur Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Institutionalisierung medizinischer Fachgebiete in Deutschland im 19. Jahrhundert siehe Pfetsch, Zloczower 1973.

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turen gesangspädagogischer Richtungen geweckt wurde. Das bis in das 21. Jahrhun­ dert reichende, anhaltende Interesse für aktuelle Publikationen und Beiträge auf gesangspädagogischen Kongressen im Zusammenhang mit der Thematik „Italieni­ sche und deutsche Gesangspädagogik“14 deutet darauf hin, dass es bei dem Ver­ gleich beider Gesangsauffassungen längst nicht mehr nur um ein konkretes Pro oder Contra auf der praktischen Ebene geht. Vielmehr scheint es sich hier um einen allge­ meinen Lernprozess zu handeln, der darauf ausgerichtet ist, am Beispiel der beiden historischen Kontrahenten – über das hörbare Erscheinungsbild einer bestimmten Klangästhetik hinaus – auch deren theoretische Grundstruktur erfassen zu können. Dies kann als Anzeichen für ein sich verstärkendes Interesse an Gesangstheorie gedeutet werden. In eine ähnliche Richtung mag auch der Bedarf nach Übersicht über die verschie­ denen gesangsmethodischen Richtungen zu deuten sein, deren bezeichnende Viel­ falt bis in die aktuelle Situation der Gesangspädagogik in Deutschland zum Ausdruck kommt. In diesem Interesse an einer Übersicht zeigt sich meines Erachtens die wach­ sende Bereitschaft zu einem wertungsfreien Vergleich unterschiedlicher gesangs­ methodischer Ausrichtungen. Eine solchermaßen tolerante Haltung wird ebenfalls im Programmangebot der vielbesuchten gesangspädagogischen Fachkongresse sichtbar. Wer vergleichen will, muss sich auf Grundparameter beziehen können und wird damit über die methodische Reflexion bereits an ein theoretisches Denken herangeführt. Und noch in einem dritten Zusammenhang kann eine erhöhte Aufmerksamkeit für die theoretische Blickrichtung wahrgenommen werden. Diese Aufmerksamkeit zeigt sich in der veränderten Einstellung einer neuen Generation von zukünftigen Pädagogen zu dem Studienfach Methodik, das im Lehrplan für das Gesangspädago­ gikstudium enthalten ist. So wird von meinen derzeitigen Studenten an der Univer­ sität der Künste Berlin nicht mehr allein die Vermittlung einer einzigen, wirksamen Gesangsmethode erwartet, sondern darüber hinausgehend das Angebot eines unvoreingenommenen, sachlichen Vergleichs zwischen verschiedenen Methoden. Ein solcher ist am wirksamsten dadurch zu leisten, dass die der jeweiligen Methode zugrundeliegenden, oft unausgesprochenen theoretischen Grundvoraussetzungen zutage gefördert und auf ihre Anwendungsbezogenheit hin charakterisiert werden. Eigene stimmliche Grunderfahrungen vorausgesetzt, kann eine Offenheit für unter­ schiedliche Herangehensweisen an den Gesang die Sichtweise des Pädagogen erweitern. Sie kann dazu beitragen, dass dieser seinen Gesangsschülern in der Viel­ falt ihrer stimmlichen Ausgangssituationen nicht einzig und allein mit denjenigen Mitteln begegnet, die er im Laufe seiner ganz persönlichen Stimmentwicklung als hilfreich erfahren hatte.

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Siehe etwa den gleichnamigen Vortrag bei Seedorf 2010.

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Mit meiner Arbeit über die theoretischen Grundlagen von Franziska Martien­ ßen-Lohmanns Gesangspädagogik möchte ich an einem konkreten Beispiel die Herausarbeitung der theoretischen Grundstruktur einer gesangspädagogischen Richtung zeigen. Die Zugangswege, die ich dabei für Martienßen-Lohmanns Theorie gefunden habe, ergaben sich aus den entsprechenden Veröffentlichungen selbst. Andere Gesangsrichtungen werden, gemäß ihren besonderen Hintergründen, wie­ derum andere, ganz eigene Zugänge anbieten. Die Vielschichtigkeit von Franziska Martienßen-Lohmanns Schriftwerk erforderte ein differenziertes Vorgehen. So näherte ich mich der Gesangstheorie der Pädago­ gin zunächst auf drei Zugangswegen: 1. auf dem historischen Weg, der bei den unmittelbaren gesangspädagogischen Vorläufern Martienßen-Lohmanns ansetzt und bis hin zu zeitgeschichtlichen Aspekten reicht, 2. auf dem biographischen Weg, der mögliche persönliche Einflüsse in Franziska Martienßen-Lohmanns Lebenslauf zu erfassen sucht, und 3. auf dem hermeneutischen Weg, der sich einer systemati­ schen Analyse der Begriffe in ihren Texten zuwendet. Zusammenhängend damit machte es die immer deutlicher zutage tretende philosophische Dimension in Mar­ tienßen-Lohmanns Werk schließlich unerlässlich, 4. auch einen Zugang über den philosophischen Weg zu suchen. Bereits zu Anfang entschied ich mich dafür, die Veröffentlichungen Franziska Martienßen-Lohmanns in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung zu untersuchen. Ich wollte der Entwicklung der zugrundeliegenden Theorie des Gesangs von den Anfängen an nachgehen. Die erste Buchveröffentlichung Johannes Messchaert. Ein Beitrag zum Verständnis echter Gesangskunst (1914) erwies sich sogleich als äußerst ergiebig. Sie enthält eine Fülle von Grundelementen, die für Martienßen-Lohmanns gesamte Schriften von Bedeutung bleiben. So spielt darin der Bezug der Autorin auf ihren Lehrer Johannes Messchaert eine wichtige Rolle. Dieser Bezug wird auch ferner als roter Faden an verschiedenen, entscheidenden Stationen in der Berufsbiographie der Gesangspädagogin sichtbar. Ihre erste Ver­ öffentlichung bildet deshalb einen Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit. Von hier aus wird auf die beiden folgenden Bücher geblickt. Die drei ersten Schriften der Gesangspädagogin werden miteinander in Bezug gesetzt und als Trilogie ihrer Grundschriften betrachtet. Von dem Komplex der Grundschriften aus werden die weiteren Spuren Johannes Messchaerts in verschiedenen Stationen des Berufsle­ bens von Franziska Martienßen-Lohmann bis zu dessen Ende hin verfolgt. Im Verlauf der Arbeit kristallisierte sich als Zentralbegriff von Martienßen-Loh­ manns Gesangstheorie immer deutlicher der Terminus „geistige Klangvorstellung“ heraus. Diesen findet die Schriftstellerin selbst zunächst als entscheidenden Grund­ begriff zur Charakterisierung von Messchaerts Gesangsauffassung. Sie macht ihn sich sodann zu eigen, erweitert und vertieft ihn. Auf „das Geistige der Technik – die Klangvorstellung“ bezieht sich die erste Leitlinie der vorliegenden Arbeit im Zitat auf Seite 5. Vorab sei darauf hingewiesen, dass der Ausdruck „geistig“ bei Martienßen-

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Lohmann keinen etwa religiös-spirituell gefärbten Beiklang hat, sondern vielmehr auf eine idealtypische Klangvorstellung hinweist. Diese kann mit dem individuellen Bewusstsein geistig erfasst werden. Die Titelwahl der vorliegenden Arbeit geschah nicht zuletzt aus dem Grund, um dem Begriff des „schöpferischen Klangwillens“, der im klavierpädagogischen Werk ihres Ehemannes Carl Adolf Martienssen15 zentral ist, das ihren Schriften zugrunde­ liegende Äquivalent gegenüberzustellen. So hätte der Titel ihrer zweiten Veröffentli­ chung Das bewußte Singen (1923) durchaus auch lauten können „Die individuelle Gesangstechnik auf der Grundlage der geistigen Klangvorstellung“. Darüber hinaus wäre für eine Zusammenfassung aller drei Grundschriften der Autorin, wenn eine solche von ihr selbst erstellt worden wäre, der Titel Die geistige Klangvorstellung zutreffend gewesen. Lässt sich außer dem Zentralbegriff der „geistigen Klangvorstellung“ in Franziska Martienßen-Lohmanns Gesangstheorie auch eine räumliche Grundgeste finden, die diese Theorie anschaulich machen könnte? Eine Antwort auf diese Frage wird durch die Beschäftigung mit Platons Höhlengleichnis gesucht. Hierin geht es um das Ver­ hältnis von Idee und Wirklichkeit. Besondere Aufmerksamkeit wird in der vorliegen­ den Arbeit deshalb der Ausrichtung des Blicks bei Martienßen-Lohmann gewidmet – „hinauf“ zum Ideal, „hinab“ zum Schüler. Diese doppelte Blickrichtung findet sich in der zweiten Leitlinie zu Beginn der Arbeit in einem Zitat von Hartmut von Hentig wieder. Es ist mein Wunsch, dass die vorliegenden Ausführungen zu Franziska Martien­ ßen-Lohmanns Leben und Werk nicht nur der Befriedigung eines historischen Inter­ esses dienen mögen, etwa im Sinne der Rekonstruktion eines besonderen Abschnitts der Gesangspädagogik in Deutschland. Sie sind vielmehr von der Überzeugung ge­ tragen, dass Franziska Martienßen-Lohmanns Schriften für die aktuelle Diskussion wesentliche Anstöße enthalten, die eindeutig im theoretischen Grundgehalt ihres Schriftwerks verankert sind. In diesem Sinne möchte die Arbeit als ein spezifischer Beitrag zur Fachrichtung der Gesangswissenschaft aufgefasst werden. Es versteht sich, dass unter dem Stichwort „Gesangswissenschaft“ nicht der naturwissenschaftliche Wissensstand Franziska Martienßen-Lohmanns gemeint sein kann, der deshalb hier auch nicht auf dem Prüfstand stehen soll. Wie oben bereits im Zusammenhang mit dem Fach Gesangsmethodik erwähnt, weist die vorliegende Arbeit vielmehr auf den Beitrag Martienßen-Lohmanns zu einer gesangspädagogi­ schen Theoriediskussion hin. Diese Diskussion erfolgt aus der Richtung der Kulturund Geisteswissenschaften. Sie wird sich, analog zur Theoriediskussion benachbarter Fachgebiete wie Tanz und Bewegung, in nächster Zeit mit Sicherheit verstärken.

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CAM 1930.

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Die vorliegende Arbeit erhebt bei weitem nicht den Anspruch, eine erschöp­ fende Auswertung des Wirkens von Franziska Martienßen-Lohmann darzustellen. Sie versteht sich – mit der zweifachen Gewichtung auf Martienßen-Lohmanns Bezug zu Johannes Messchaert und auf die Entwicklung ihrer eigenen Gesangstheorie – als ein Anstoß zur Auseinandersetzung mit Gesangstheorie als solcher. Dieser Anstoß ist hier lediglich beispielhaft ausgelöst durch ein Vertiefen in MartienßenLohmanns Veröffentlichungen. Die vorliegende Arbeit ersetzt nicht das Lesen der Originaltexte. Dieses kann am besten vorausgehend oder parallel zu den einzelnen Abschnitten geschehen. Darüber hinaus bietet Martienßen-Lohmanns Werk selbst unzählige Anstöße für die Weiterarbeit, sowohl in der Gesangspädagogik selbst als auch im Dialog zwischen Gesangspädagogik, Instrumentalpädagogik und allgemei­ ner Musikpädagogik. Dies kann an einigen Stellen angedeutet werden. Ich schließe die Einleitung mit einer kurzen Übersicht über Struktur und Gliederung der Arbeit. Diese besteht aus sieben Kapiteln und einem Anhang mit bisher unveröf­ fentlichten bzw. in diesem Zusammenhang neu veröffentlichten Originaldokumen­ ten auf der beiliegenden CD-ROM16. Das erste Kapitel ist der historischen Entwick­ lung der Gesangspädagogik in Deutschland sowie den jeweiligen Abschnitten der Biographien Franziska Martienßen-Lohmanns und Johannes Messchaerts bis zu ihrer Begegnung in Berlin im Jahre 1911 gewidmet. Im zweiten Kapitel wird die Studien­ zeit bei Johannes Messchaert anhand zahlreicher Originaldokumente anschaulich gemacht. Das zentrale dritte Kapitel setzt sich mit der Gesangsauffassung Martien­ ßen-Lohmanns und deren theoretischen Grundstrukturen auseinander. Im vierten Kapitel steht die schriftliche Verbindung beider Persönlichkeiten zwischen dem Stu­ dienabschluss Martienßens und dem Tod Messchaerts im Mittelpunkt. Das fünfte Kapitel verfolgt den Ausbau der Gesangstheorie Franziska Martienßen-Lohmanns und unternimmt eine Zusammenschau der Trilogie der Grundschriften. Im sechsten Kapitel werden in groben Zügen der Ausbau der Gesangspädagogik MartienßenLohmanns und die nachfolgenden Buchveröffentlichungen unter dem Aspekt des Bezugs zu Messchaert betrachtet. Im siebten Kapitel werden schließlich die letzten Hinweise Franziska Martienßen-Lohmanns auf Johannes Messchaert bis zum Tod der Gesangspädagogin kommentiert. So unterscheiden sich die sieben Kapitel in der Dauer der darin beschriebenen Zeitabschnitte, in ihren thematischen Schwerpunk­ ten und im jeweiligen Betrachtungs- und Schreibstil. Zur Orientierung für den Leser ist jedem Kapitel eine kurze Zusammenfassung vorangestellt.

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Auszüge aus dem Briefwechsel FM – JM wurden bereits in G/G 1987 veröffentlicht. In der vorliegenden Arbeit erscheint er erstmals vollständig, siehe Anhang 3.3 (PDF 3, S. 16ff.). FMs Unterrichtsprotokolle als eines der seltenen Dokumente über ihre Gesangsausbildung bei JM, „Mein Unterricht bei Professor Joh. Messchaert“, hier „Unterrichtstagebuch“ genannt, sind erstmals in vollständiger Übertragung in Anhang 3.2 (PDF 3, S. 6ff.) und als Faksimile in Anhang 8 (PDF 8) enthalten, einzelne Auszüge in G/G 1987.

Einleitung



Schluss

Im dritten Vorwort zu Das bewußte Singen (1923) blickt Franziska Martienßen-Loh­ mann im Jahre 1951 nicht nur auf den Entstehungsprozess ihres zweiten Buches zurück. Ihre Worte lesen sich vielmehr darüber hinaus heute wie eine persönliche Zusammenfassung ihrer gesamten Lebensleistung: „Als ich nach so langer Zeit dieses Buch, das der Natur innerhalb des gesanglichen Entwick­ lungsprozesses nachzuspüren sucht, wieder mit neuen Augen las, um nach den ‚Fehlern und Irrtümern‘ meiner jüngeren Jahre zu suchen, und sie im Sinne der Wahrheit einzugestehen und richtigzustellen, mußte ich mir doch sagen, daß ich an diesem Buch weder im Einzelnen noch im Ganzen etwas ändern dürfte. Mit einer Art von biographischer Rührung staunte ich über die Tatsache, daß ein ganzes Arbeitsleben auf seinem geistigen Wege so ‚gerade‘ ausge­ richtet sein kann, – daß Erfahrung und Einsicht schon im ersten Anlauf gleichsam vorausge­ nommen werden können ohne irgendeine Notwendigkeit der Umkehr. Haben mir auch die Jahre eine viel klarere Anschauung des Problems für mich selbst, eine größere Weitsicht für die Zusammenhänge, eine wesentlich einfachere Handhabung der praktischen Hilfen und Heilungen zu eigen gegeben, so weiß ich doch nicht, ob ich gerade das grundlegende Gesamt­ erlebnis der einheitlichen Schau, das mich damals mit der Kraft der Intuition überfiel, heute nach außen wirklich so viel klarer, weitblickender, einfacher auch darstellen könnte!“1303

Die Geradlinigkeit von Franziska Martienßen-Lohmanns Wirken ist eines der auffäl­ ligsten Merkmale ihrer Tätigkeit, sowohl auf der gesangspädagogischen als auch auf der gesangstheoretischen Ebene. Martienßen-Lohmanns Gesangstheorie entwickelt sich in ihren Veröffentlichungen mit einer beeindruckenden Logik und Folgerichtig­ keit. So liegt dieser Gesangstheorie eine klare Struktur zugrunde, die in drei Grundbe­ wegungen zum Ausdruck kommt. Es ist dies als Erstes eine Bewegung „nach oben“, ausgerichtet auf ein klar benanntes Klangideal, das sich in Messchaerts Gesang ver­ wirklicht sah. Die Bewegung des „Aufstiegs“, veranschaulicht an Platons Höhlen­ gleichnis, kommt in dem Schlüsselwort der „geistigen Klangvorstellung“ zum Aus­ druck, das der vorliegenden Arbeit als Titel dient. Es findet sich in Franziska Mar­ tienßens Zitat als erste Leitlinie der Arbeit vorangestellt. Dass auf den „Aufstieg“ ein „Abstieg“ folgen müsse, damit das Messen am Ideal zur Entwicklung und nicht zur Abschreckung des Schülers beitrage, damit aus dem Lehrer ein Pädagoge im Sinne Franziska Martienßen-Lohmanns werde, wird in der

1303 FM 1923a (DbS), Vorwort zur 3. Auflage 1951, nicht paginiert, 11. Seite, Unterstreichungen im Original gesperrt, kursiv HdJ.

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zweiten Leitlinie in einem Zitat von Hartmut von Hentig deutlich. In der Bewegung des „Abstiegs“, in der Einfühlung in die Ausgangssituation und Befindlichkeit ihrer Schüler, ging Martienßen-Lohmann über ihren Lehrer Johannes Messchaert hinaus. Hier beginnt ihr eigener Beitrag zur Gesangspädagogik. Die Bewegung des Abstiegs setzt sich in weiterführender Konsequenz in einem „Weg nach innen“ fort. Franziska Martienßen-Lohmann zufolge hat Klangbeurtei­ lung nicht länger nach von außen an den Sänger herangebrachten Kriterien zu geschehen, sondern ist in innerem Mitvollzug durch den Schüler und Sänger selbst zu begleiten. Dies kann nur in einem Akt des Bewusstseins vollzogen werden. Aus­ gehend von der Grundannahme der individuellen stimmlichen Ausgangsbedingun­ gen des jeweiligen Schülers, bestehen die Maximen von Franziska Martienßen-Loh­ manns pädagogischem Ansatz im Finden eines individuellen Ausbildungswegs, fern jeder festgeschriebenen Methode, und im Fördern des individuellen Potenzials. Die­ ser praktische, gesangspädagogische Ansatz ist tief in ihrer Gesangstheorie veran­ kert. Martienßen-Lohmanns Schriften sind in ihrem Erkenntnisbedürfnis nicht nur auf die Ideen ausgerichtet, sondern auf das Bewusstsein der Ideen, die dem Gesang zugrundeliegen. Darauf weist die dritte Leitlinie im Zitat von Richard Kroner hin. Die Orientierung des Pädagogen an einem klar benennbaren, normativen Klang­ ideal und seine Verbindung mit der faktischen Sängerstimme in individuellen, methodischen Schritten sowie die bewusstseinsmäßige, aktive Mitbeteiligung des Schülers bilden das Zentrum der Gesangstheorie Martienßen-Lohmanns. Aufstieg und Abstieg, Außenwendung und Innenwendung sind die elementaren Grundbewegungen, mit denen Franziska Martienßen-Lohmanns theoretischer An­ satz umschrieben werden kann. Das Vorgehen in ihren Schriften ist das eines „Kreis­ gangs“; in der Wiederkehr des Kreises ergibt sich eine aufsteigende Spirale. Lässt man die Vorstellung der beschriebenen Bewegungen nacheinander vor sich im Raum entstehen, so entsteht die Gestalt eines dreidimensionalen organischen Kör­ pers. Martienßen-Lohmanns Versuch, auf der pädagogischen Ebene den Körper des Gesangsinstruments in seiner Ganzheitlichkeit zu erfassen und zu fördern, geschieht parallel zu ihren theoretischen Bemühungen, die die entsprechenden Bewegungen auf einer anderen Ebene vollziehen. Beide Absichten folgen derselben Idee. Dass sich Franziska Martienßen-Lohmann bei ihrem beruflichen Lebenswerk zeitlebens von Männern und Mentoren anregen ließ, konnte aus ihrer Biographie deutlich werden. Die Großmutter Caroline Bollmann als Zuchtmeisterin des Alltags und Ricarda Huch als dichterisches Vorbild sind die beiden einzigen Frauen in einem Kreis von vorwiegend älteren Männern um Franziska Martienßen-Lohmann. Ausge­ hend von dem verstorbenen Großvater als ihrem „Männerideal“ und der fördern­ den Beziehung zu ihrem Vater wählte sie nacheinander den Klavierpädagogen Carl Adolf Martienssen, den Sänger Johannes Messchaert (durch den sie Anschluss an die historischen Vorläufer Manuel García und Julius Stockhausen erhielt), den Psy­ chologen Felix Krueger und den Gesangspädagogen Paul Lohmann zu ihren Gesprächspartnern. Schluss

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Zurückgreifend auf einen gesangspädagogischen Denkraum, der sich wenige Jahrzehnte vor ihrer Geburt vorbereitet hatte, baute sie diesen in der Konstellation mit ihren jeweiligen Partnern weiter aus und führte die Gesangspädagogik in das 20. Jahrhundert hinüber. Zahlreiche ihrer Anstöße, wie z. B. die individuelle Schüler­ behandlung, die Einbeziehung des Körpers bei der Klanggestaltung, die Mitwirkung der Sprachelemente bei der Ausbildung der Stimme, der Bezug zu Stimmphysiologie und Funktionalität der Stimme, nicht zuletzt aber die Aufmerksamkeit auf die innere Klangvorstellung, das Vorhören des Tones und die Wirksamkeit des mentalen Trai­ nings, sind inzwischen weitgehend gesangspädagogisches Allgemeingut geworden. Die Rezeption der Schriften Franziska Martienßen-Lohmanns hat indes eben erst begonnen. Der theoretische Gehalt der Gesangsauffassung Franziska MartienßenLohmanns enthält nach Überzeugung der Verfasserin der vorliegenden Arbeit aus­ reichend Kraft, um bis in das 21. Jahrhundert hinein weiterwirken und zur Ausge­ staltung der Gesangswissenschaft als einer geisteswissenschaftlichen Disziplin bei­ tragen zu können. „Das heimliche Thema von der körperlichen Verwirklichung der geistigen Vorstellung wird in jeder Form der Gesangsunterweisung stets den wichtigsten Raum einnehmen; und es wird an allen Ecken und Enden als das Wesentlichste hindurchscheinen. Es in seiner ganzen Breite und seinem erstaunlichen Ablauf darzustellen würde allein ein Buch füllen.“1304

1304 FML 1956 (DwS), S. 436.

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Schluss



Franziska Martienßen-Lohmann (1887–1971) prägte die deutsche Gesangspädagogik des 20. Jahrhunderts durch ihre langjährige praktische Lehrtätigkeit. Deren theoretische Grundlagen erörterte sie gleichzeitig in ihrem fachschriftstellerischen Werk. Die sechs richtungsweisenden Bücher Martienßen-Lohmanns werden hier erstmals analysiert und als Schwelle zur modernen Gesangspädagogik gekennzeichnet.

Barbara Hoos de Jokisch gestaltet ihre Darstellung des Wirkens von Franziska Martienßen-Lohmann als Kaleidoskop aus Biographie, Werk und Zeitgeschichte. MartienßenLohmanns Arbeit entspringt der klangorientierten Tradition des Belcanto im 19. Jahrhundert. Durch ihr frühes Interesse für die physiologische Stimmforschung kommt eine funktionsorientierte Perspektive hinzu. In der Balance zwischen diesen beiden gegensätzlichen pädagogischen Herangehensweisen gelang es Martienßen-Lohmann, eine Brücke zwischen Erfahrungswissen und neuer Forschung, zwischen Geistes- und Naturwissenschaften zu schlagen. Darin liegt die Aktualität ihres Ansatzes. Mit der Aufarbeitung des Werkes von Martienßen-Lohmann gewinnt das Buch Kriterien für den theoretischen Vergleich verschiedener methodischer Ansätze der Gesangspädagogik. Zugleich bringt es Gewinn für das Selbstverständnis heutiger Gesangslehrender und kann so in die praktische Unterrichtssituation hinein wirken. Die CD-ROM enthält neben ausführlichen Verzeichnissen bislang unveröffentlichte Texte, Briefe, Selbstzeugnisse sowie Ton- und Filmdokumente.

Die geistige Klangvorstellung

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Barbara Hoos de Jokisch

Die geistige Klangvorstellung

Eine unerhört vielgestaltige Landschaft der Kunst, Pädagogik und

der Darstellung sowie der Differenziertheit und Bündigkeit der Erörterung findet man kaum irgendwo in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gesangspädagogik. Ulrich Mahlert

Barbara Hoos de Jokisch Studium der Schulmusik, Germanistik, Instrumental- und Vokalpädagogik an der Universität der Künste Berlin, Sängerin und Gesangspädagogin, u. a. an den Musikhochschulen von Berlin und Mexiko-Stadt. Wissenschaftliche Forschung, Vorträge und Publikationen zur Gesangspädagogik. Promotion 2011. Mitglied im Vorstand des Bundes Deutscher Gesangspädagogen 2010–2014. Seit 2012 Dozentin für Gesang und Methodik an der Universität der Künste Berlin.

Barbara Hoos de Jokisch

Wissenschaft des Gesangs wird sichtbar. Eine vergleichbare Qualität

Franziska Martienßen-Lohmann Gesangstheorie und Gesangspädagogik

ISBN 978-3-7651-0477-0

9 783765 104770 BV 477

mit CD-ROM

Breitkopf & Härtel


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