PB 3693 – Brahms, Akademische Festouvertüre

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PB 3693

Breitkopf & Härtel

Partitur-Bibliothek

Brahms

– akademische festouvertüre c-moll – academic festival overture in C minor op. 80

Studienpartitur Study Score

johannes brahms

1833–1897

akademische festouvertüre

für großes Orchester

c-moll

academic festival overture for Full Orchestra in C minor

op. 80

Studienpartitur | Study Score

Partitur-Bibliothek 3693

Printed in Germany

Vorwort

Mit einem Diplom vom 18. März 1879 wurde Johannes Brahms im Alter von 45 Jahren von der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau die Ehrendoktorwürde verliehen. Der Text der Urkunde bezeichnet den Geehrten als „artis musicae severioris in Germania nunc princeps“ (d. h. als der in Deutschland gegenwärtig Erste im Bereich der „strengeren“ Musik). Dies entsprach der über den deutschsprachigen Raum hinausreichenden Geltung, die Brahms sich in seiner Kunst erworben hatte. (Brahms’ Antipode Richard Wagner fühlte sich bezeichnenderweise durch die besagte Formulierung in seiner Bedeutung als Koryphäe des deutschen Musiktheaters abgewertet und reagierte mit einer wütenden Entgegnung.)

„Willst Du uns nicht eine Doktor­Symphonie für Breslau schreiben? Einen feierlichen Gesang erwarten wir mindestens.“ Mit diesen Worten gab Brahms’ Freund Bernhard Scholz, der in Breslau als Dirigent des dortigen Orchester­Vereins wirkte, dem Komponisten vermutlich die Anregung für die Akademische Festouvertüre. Brahms hatte allerdings keine Eile mit einer musikalischen Dankesbezeigung. Erst im Sommer 1880 brachte er in seinem Feriendomizil in Ischl ein für eine Festveranstaltung in Breslau am 4. Januar 1881 konzipiertes Werk zu Papier, das in besonderer Weise „feierlichen Gesang“ mit dem Kunstreichtum einer „Doktor­Symphonie“ verbindet. Mitte August 1880 schrieb er an Bernhard Scholz: „Damit Du Dich nicht allzusehr mit Deinem Gaste blamierst, habe ich für den 4. Januar eine ‚Akademische Fest­Ouvertüre‘ geschrieben. Der Name gefällt mir nicht grade, fällt Dir ein andrer ein?“ Obwohl Scholz den Titel „verflucht akademisch und langweilig“ fand, beließ es Brahms bei der ursprünglichen Benennung. Nach der vom Komponisten aus dem Autograph geleiteten Uraufführung der Akademischen Festouvertüre in Breslau und nach verschiedenen Erprobungen des Werks im Winter 1881/82 nahm Brahms noch verschiedene Veränderungen an der Partitur vor, bevor er sie im März 1881 seinem Verleger Fritz Simrock zum Druck schickte. Die Ouvertüre erschien im Juli 1881. Seinem Freund und Biographen Max Kalbeck gegenüber nannte Brahms die Akademische Festouvertüre launig „ein sehr lustiges Potpourri von Studentenliedern à la Suppé“ – eine Bemerkung, die die artifizielle Struktur des Werks ironisch herunterspielt. In der Tat verarbeitet Brahms in der Ouvertüre vier Studentenlieder. Wie aus der Ferne bzw. aus fernen Zeiten sich nähernd und kraftvoll erhebend erklingt zunächst, von leisen Trompeten über einem verhaltenen Paukenwirbel feierlich angestimmt, das Lied „Wir hatten gebauet“ (T. 63–88). Brahms zitiert die gesamte Liedmelodie, deren 1. Strophe lautet: „Wir hatten gebauet / ein stattliches Haus / und drin auf Gott vertrauet / trotz Wetter, Sturm und Graus.“ Das Liedzitat evoziert die gescheiterten, patriotisch­demokratischen Bestrebungen der Studentenbewegung des frühen 19. Jahrhunderts. Der Liedtext entstand nach Auflösung der Jenaer Burschenschaft im November 1819, einer Maßnahme im Zuge der von Metternich veranlaßten Karlsbader Beschlüsse, mit der die deutschen Universitäten unter eine reaktionäre Aufsicht gestellt wurden. Das besungene „stattliche Haus“ symbolisiert das – seinerzeit staatlich unterbundene – Ziel des freiheitlich geeinten Deutschlands nach der Überwindung der napoleonischen Herrschaft. („Das Band ist zerschnitten, / war schwarz, rot und gold … / Das Haus mag zerfallen – / was hat’s denn für Not? / Der Geist lebt in uns allen, / und unsre Burg ist Gott.“) Dem zeitgenössischen Publikum konnte bzw. mußte diese Anspielung in dem zehn Jahre nach der Reichsgründung geschriebenen Werk als affirmativer Hinweis auf die politisch nunmehr erreichte deutsche Einheit erscheinen. Ebenfalls einen politischen, freiheitlich­patriotischen Gehalt besitzt auch das zweite in der Akademischen Festouvertüre anklingende Studentenlied, das Weihelied (oft auch Landesvater genannt). Es erschien nach diversen Umdichtungen 1817 in Jena in der Sammlung Deutsche Burschenlieder und beginnt mit den Worten: „Alles schweige! Jeder neige ernsten Tönen nun sein Ohr!“ Von der Liedmelodie erklingt allerdings nur ein Ausschnitt: die Melodiephrase der dem besagten Beginn folgenden Textworte: „Hört, ich sing’ das Lied der Lieder“ (T. 129f.); der weitere Verlauf der Melodie („hört es, meine deutschen Brüder, hall’ es wieder, froher Chor“) wird von Brahms frei fortgeführt. In der Fortsetzung entwickelt Brahms aus der Liedphrase des Landesvaters die melodische Kontur des Fuchslieds („Was kommt dort von der Höh’“), das in T. 157 in buffonesker Manier von den beiden Fagotten präsentiert wird. Das Fuchslied schildert im Bänkelsängerton, wie der „Fuchs“, d. h. der gerade aus Elternhaus und Schule entlassene Jungstudent, in seiner neuen akademischen Umgebung zum „Burschen“ mutiert. Die Verflechtung der beiden Lieder bildet eine komische Pointe: Als das im Weihelied angekündigte „Lied der Lieder“ erscheint, in Perversion von „ernsten Tönen“, das derbe, humoristische (und unpolitische) Kommerslied. Nicht weniger komisch wirkt die „akademische“ thematische Arbeit, die in T. 175–241 mit dem studentischen Gassenhauer veranstaltet wird. Übrigens ist das Fuchslied bereits am Beginn der Ouvertüre unterschwellig präsent: Das verhaltene

und gedämpfte Eingangsthema enthält in seinen lebhaft pochenden Staccato­Achteln einen „Vorklang“ des Liedes. Allerdings läßt dieser Vorklang Assoziationen an Melodien mit politischem Gehalt im Sinne der ersten beiden Liedzitate zu: Max Kalbeck nahm wahr, daß sich im Anfangsmotiv der Ouvertüre „der Rákóczi­Marsch, die ‚ungarische Marseillaise‘ von 1848, mit dem Pariser Einzugsmarsch von 1813“ begegnen. Im Gegensatz zum Fuchslied völlig unvorbereitet erklingt am Ende (T. 379ff.) der Ouvertüre das wohl berühmteste Studentenlied, das textlich vermutlich aus der Vagantendichtung des 13. Jahrhunderts stammende Gaudeamus igitur, ein Lobgesang auf die gegenwärtig genossene Lebens­ und Festfreude angesichts der Vergänglichkeit und Kürze des Lebens. Die für Brahms atypische, kunstlose Unvermitteltheit, mit der diese Liedmelodie in der Tat „herbeizitiert“ wird, steht in groteskem Kontrast zu ihrem monumentalen, apotheotischen Aufputz. Möglicherweise steckt in diesem Mißverhältnis eine ironische Anspielung auf den Antipoden Wagner, der sich durch den Anlaß der Akademischen Festouvertüre herausgefordert fühlte: Der bombastische Prunk mit seinen auf­ und abwärtsrasenden Zweiunddreißigstel ­Läufen in den Violinen, der üppigen Verwendung von Triangel, Becken und Großer Trommel gemahnt in seinem strahlkräftigen C­dur an Wagnerschen Pomp und läßt im Besonderen an die Meistersinger­Ouvertüre denken. Die Akademische Festouvertüre op. 80 bildet das charakteristische Gegenstück zur Tragischen Ouvertüre op. 81, die ebenfalls im Sommer 1880 in Ischl entstand: Dem Tragischen dort steht hier das Komische gegenüber. Das Komische hat seine Eigenart in Mißverhältnissen, die zum Lachen reizen, vorzugsweise in Gegensätzen zwischen Erhabenem und Niederem. Indem Brahms, wie angedeutet, in der Akademischen Festouvertüre, dem Eröffnungsstück eines hohen universitären Festakts, sein kompositorisches Spiel mit vier Studentenliedern treibt, konfrontiert er die hohe akademische Sphäre mit der niederen des studentischen Kommers, verbindet er bedeutsame ideelle Gehalte mit elementarer derber Festfreude. Als ein „zugleich kunstvoll combinirtes und populär wirkendes Stück“ (Eduard Hanslick) vereint das Werk „Lehrer und Schüler, Professoren und Studenten, Vorkämpfer und Nacheiferer“ (Max Kalbeck) zu einem musikalischen Fest.

Berlin, Frühjahr 1997

Preface

On 18 March 1879, the Philosophical Faculty of the University of Breslau conferred an honorary doctoral degree upon Johannes Brahms. The degree described the 45­year­old composer as “artis musicae severioris in Germania nunc princeps” (i.e. today’s leader in the field of “severe” music in Germany). This fully reflected the reputation Brahms had secured himself with his music, a reputation that reached far beyond the borders of the German­speaking countries. (Significantly, Brahms’s antipode Richard Wagner felt that the phrasing in the honorary degree devalued his status as the leading authority in the field of German music theater and reacted with a furious protest.)

“Wouldn’t you like to write a ‘doctoral symphony’ for us here in Breslau? We’re expecting at least a solemn song.” This hint from Brahms’ friend Bernhard Scholz, the conductor of the Breslau Orchestral Society, most likely sparked the composer’s inspiration to write the Academic Festival Overture. However, Brahms was in no hurry to present his musical thanks. He waited until the summer of 1880 to write the work at his vacation residence in Ischl. Intended for performance at a ceremony to be held in Breslau on 4 January 1881, the work represents the singular melding of a “solemn song” with the scholarly abundance of a “doctoral symphony”. In mid August 1880 Brahms wrote to Bernhard Scholz: “I have written an ‘Academic Festival Overture’ for January 4th so that you aren’t too embarrassed by your guest. I am not too happy with the title – maybe you can think of a better one?” Although Scholz found the title “damned academic and boring”, Brahms left it as it was. The composer conducted the world premiere of the Academic Festival Overture from the autograph in Breslau and conducted several further performances in the winter of 1881/82. After having gathered practical experience with it, he made various changes in the score before sending it to his publisher Fritz Simrock in March 1881. The Overture was published in July 1881.

Brahms waggishly called the Academic Festival Overture “a jolly potpourri of student songs à la Suppé”. His comment, made to his friend and biographer Max Kalbeck, ironically belittles the artful structure of the work. The Overture does indeed contain student songs, four of them, to be precise. The first one we hear

is “Wir hatten gebauet” (bars 63–88). It is solemnly stated by soft trumpets above a discreet timpani roll, as if approaching from a distance or from distant times, and building up powerfully. Brahms quotes the entire melody of the song, the first strophe of which reads, in translation: “We had built / a stately house / in which we trusted in God / despite storms and horrors”. The quote evokes the democratic, patriotic strivings of the student movements in the early 19th century, which were doomed to failure. The text of the song dates from November 1819, when the Jena “Burschenschaft” or student society was disbanded as a result of Metternich’s “Karlsbader Beschlüsse”, with which the German universities were placed under the control of reactionary authorities. The “stately house” symbolizes the goal – which was proscribed by the government – of a unified Germany, one nation united in peace after overthrowing Napoleon’s rule. (“The band is severed / it was black, red and gold… / The house may crumble – / is it such a plight? / The spirit lives in us all / and our fortress is God.”) Audiences in Brahms’ day could – in fact they must – have understood this allusion in a work written ten years after the proclamation of the Empire as an affirmative reference to Germany unity, which had now been attained. The second student song heard in the Academic Festival Overture also had a liberal­patriotic political message, the Weihelied (often also called Landesvater). After a number of re­textings, it was printed in the collection of Deutsche Burschenlieder in Jena in 1817 and begins with the words: “All be silent! May everyone now listen to solemn tones!” Only one part of the song’s melody is heard, however: the phrase to the words “Listen, I sing the song of songs” at bar 129f., which follows the above­mentioned beginning. The rest of the melody (“Listen to it, my German brothers, and echo it, merry choir”) is treated freely by Brahms. In its continuation, Brahms derives the melodic contour of the Fuchslied (“What comes there from on high”) from the phrase of the Landesvater song. This Fuchslied is given a buffo presentation by the two bassoons in bar 157. It describes in a balladesque style how the “fox”, i.e. the young student fresh out of school and his family home, mutates into a “Bursche” (student) in his new academic surroundings. The interweaving of the two songs creates a humorous point. Instead of the “song of songs” announced in the Weihelied, we get an earthy, humoristic (and unpolitical) fraternity drinking song, in a travesty of the “serious tones”. No less witty is the “academic” thematic work which Brahms lavishes on the popular student song in bars 175–241. The Fuchslied, incidentally, is already subliminally present at the beginning of the Overture: the discreet and muted opening theme contains an anticipation of the song in its energetically pulsating staccato eighths. This anticipation also permits associations with melodies of a political nature in the sense of the first two quoted songs: in the opening motif of the Overture, Max Kalbeck heard “the Rákóczi March, the ‘Hungarian Marseillaise’ of 1848 meets the Paris Entry March of 1813”. Unlike the Fuchslied, the doubtless most well­known student song in the work appears without any trace of anticipation at the end of the Overture (bar 379ff.): Gaudeamus igitur, whose text is thought to stem from the goliardic verse of the 13th century. It is a song of praise to the joys of life and of festivities celebrated in the here and now, in view of the transitoriness and brevity of life. The artless directness with which the melody is literally “snapped up” by Brahms is untypical of him and contrasts grotesquely with its monumental treatment in the manner of an apotheosis. With this disproportionateness, Brahms is perhaps also alluding ironically to his antipode Wagner, who felt provoked by the occasion for which the Academic Festival Overture was written: the brilliant C major, the bombastic splendor, the upward and downward rushing 32nd notes in the violins, the lavish use of the triangle, cymbals and bass drum – all this recalls Wagnerian pomp and, in particular, the Meistersinger Overture. The Academic Festival Overture Op. 80 is the counterpart of the Tragic Overture Op. 81, which Brahms also composed in Ischl in the summer of 1880. They present two different poles, the comic and the tragic. The humor of the Opus 80 derives from the work’s frequent incongruity, which provokes laughter, especially in the contrasts between exaltedness and lowliness. By having his creative fun with four student songs in a work opening a dignified university ceremony, and by juxtaposing the lofty sphere of academia with the lowly one of the student drinking songs, Brahms unites weighty spiritual contents with an earthy, elementary joy. A “piece that is both artfully written yet popular in sound” (Eduard Hanslick), the Academic Festival Overture unites “teachers and pupils, professors and students, pioneers and emulators” (Max Kalbeck) in a musical celebration.

Berlin, Spring 1997

Ulrich Mahlert

Studienpartitur PB 3693 © Breitkopf & Härtel, Wiesbaden

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