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Ein sensationeller Passionsfund

Ein Kleiner Kriminalroman

Heutzutage erklingt in deutschsprachigen Landen regelmäßig zur Fastenzeit eine der beiden erhaltenen Passionen von Johann Sebastian Bach. Nur den wenigsten Zuhörerinnen und Zuhörern dürfte bewusst sein, dass es sich hierbei um typisch evangelische Kirchenmusik handelt. Man verfolgt die wunderbare Musik und ergötzt sich an der Erzählung des Kreuzweges Christi in deutscher Sprache.

Vor geraumer Zeit schon stach mir bei der Lektüre des Werkverzeichnisses des St. Florianer Komponisten Franz Joseph Aumann eine Passionsmusik ins Auge, die sich angeblich nur in Fragmenten im Archiv des Augustiner­Chorherrenstiftes St. Florian erhalten hat; dort lägen lediglich noch eine Vokalstimme und wenige Instrumentalstimmen. Dasselbe Konvolut enthielte darüber hinaus Stimmen zu einem anderen Instrumentalwerk. Bei der Durchsicht einiger im Stiftsarchiv befindlicher Messkompositionen warf ich vor etlichen Jahren einmal einen kurzen Blick in den entsprechenden Ordner und bemerkte darin tatsächlich eine gewisse Unordnung. Ich verließ mich auf die Angaben des wissenschaftlichen Werksverzeichnisses und legte das offensichtlich nur unvollständig erhaltene Werk zurück an seinen Platz.

Im Dezember 2021 verbrachte ich mit Ars Antiqua Austria fünf Tage im Stift, um eine CD aufzunehmen. In den Pausen nützte ich die Zeit zu weiteren Recherchen im Archiv. Gedankt sei an dieser Stelle dem Leiter des Stiftsarchivs, Dr. Friedrich Buchmayr, ohne dessen Hilfe ich schwerlich zu den richtigen Ordnern gelangt wäre. Diesmal nahm ich mir ausreichend Zeit, das Konvolut mit den vermeintlichen Passionsfragmenten zu durchforsten und stellte fest, dass fast das gesamte

Stimmenmaterial erhalten war. Schnell wurde mir klar, dass es sich um ein ausladendes Werk mit einer großen, zweiteiligen instrumentalen Einleitung inklusive Doppelfuge, Chören, Secco- und AccompagnatoRezitativen, Arien, Ariosi, einem Duett und einem Terzett handelt. Ich hatte Feuer gefangen.

Rasch war die Herstellung einer Partitur organisiert. Einen Haken hatte das Projekt allerdings: Es waren zwar alle Rezitative des Basssolisten vorhanden, da diese sich in der Fondamento­Stimme fanden, leider fehlte jedoch die Gesangsstimme des Basssolisten für die Arien und Chöre vollständig. Wir begannen zunächst, den Vokalbass in den Chören zu rekonstruieren. Was aber sollten wir bei einem Arioso tun, bei dem auch der Bassist zu singen hätte und was bei seiner großen Arie? Ich versuchte also, Abschriften der Passion in anderen Archiven zu finden.

Hier nahm nun ein kleiner Kriminalroman seinen Anfang. Im AumannWerkverzeichnis ist die Existenz einer angeblichen Teilabschrift der Passion im Stift Schlägl vermerkt. Der Stiftskapellmeister von Schlägl, Ewald Nathanael Donhoffer OPræm, war sehr hilfsbereit und sandte mir noch während der Weihnachtsfeiertage Noten, die unter der im RISM, dem Répertoire International des Sources Musicales, angegebenen Archivnummer zu finden waren. Leider hatte man die Nummerierungen aber in der Zwischenzeit geändert und die Suche blieb vorerst ergebnislos. Nach und nach schickte man mir alle Noten aus Schlägl, die etwas mit der Passionszeit zu tun hatten. Dabei kam unter anderem eine wunderbare Bassarie ans Tageslicht, deren Violinstimmen freilich nicht mit der Passion aus St. Florian korrespondierten. Schlussendlich fand sich dann doch ein Auszug mehrerer Sätze aus der Aumann-Passion und zum Glück waren auch die große Arie des Sünders sowie der Schlusschor unter diesem Material. Eigentlich konnten wir damit schon zufrieden sein, denn die Bassstimme des Eingangschores ließ sich unschwer rekonstruieren. Lediglich das Arioso zu komplettieren, erschien noch als eine Herausforderung. Die neue Bassarie hatte mich indes so begeistert, dass ich den Entschluss fasste, sie ins St. Florianer Werk zu integrieren.

Titel auf dem Deckblatt der autographen

Partitur von Franz Joseph

Aumanns Oratorium de Passione

Domini nostri

Jesu Christi

Im RISM entdeckte ich noch einen Hinweis darauf, dass im Stift Admont möglicherweise eine weitere Abschrift der Passion existiert. Während der Feiertage war im Stift niemand anwesend, der diese Angaben kontrollieren hätte können. Eigentlich, so hieß es schließlich, sei beinahe die gesamte Notensammlung des Stiftes einem Brand zum Opfer gefallen. Erst vor wenigen Jahren habe ein Wissenschaftler aus dem Stift Wilhering die noch erhaltenen Musikalien geordnet und ins RISM gestellt; das erklärte auch den Umstand, dass diese Quelle im Aumann­Werkverzeichnis nicht zu finden ist. Am ersten Werktag nach Weihnachten schickte mir Frau Mag. Dr. Karin Schamberger, die Bibliothekarin der Stiftsbibliothek Admont, eine vollständig erhaltene, wunderschöne Abschrift der Passion aus St. Florian. Ich empfand das als regelrechtes Neujahrswunder, war doch jetzt eine umfassende Neuedition dieser einzigen bislang bekannten und erhaltenen katholischen Passionskomposition in deutscher Sprache möglich.

Diese Passionsmusik erzählt nicht vom Leidensweg Christi, sondern setzt erst nach der erfolgten Kreuzigung Jesu ein. Es werden Stimmungsbilder und seelische Betrachtungen gegenübergestellt, die das Unfassbare emotional aufarbeiten. Selbst der Sünder kann sich der Trauer nicht entziehen, sein Herz wird weich und er beweint den Tod

Jesu. Glaube, Liebe und Hoffnung bringen ihn auf den richtigen Weg. Im Gegensatz zu den protestantischen Passionen, die über die Sprache und den damit verbundenen kognitiven Geist die Leidensgeschichte auch musikalisch beleuchten (im Sinne der Musik als einer Sprache), setzt die katholische Passion auf die direkte emotionale Wirkung eines musikalischen Stimmungsbildes seelischer Zustände. Die deutsche Dichtung eröffnet dabei die Möglichkeit, auch Sprachbilder mit der Musik zu verbinden und so die emotionale Wirkung noch zu verstärken.

Der Stiftskapellmeister von Schlägl, Ewald Nathanael Donhoffer OPræm, hat nach Rücksprache mit dem Ordenshistoriker Prof. i. R. Dr. Dr. Ulrich Gottfried Leinsle OPræm herausgefunden, dass die deutschsprachigen Passionsmusiken sehr oft außerhalb der Stiftsmauern präsentiert wurden. So beleuchtete man während der Fastenzeit an Freitagen in Pfarr­ oder Filialkirchen Teile der Passionsgeschichte musikalisch und führte die Gläubigen mit Hilfe der Landessprache und der Kraft, die der Musik innewohnt, emotional an das Leiden und Sterben des Herrn heran. Oft wurden dazu eigens große Gemälde aufgestellt, vor denen die Sängerinnen und Sänger wie auf einer Theaterbühne musizierten. Aus Bildern in Malerei, Ton und Sprache entstand ein Gesamtkunstwerk. Die regelmäßig an Freitagen stattgefundenen Darbietungen kurzer Passionsteile würden auch die im Archiv von Schlägl erhaltenen kleinen Passionsmusiken erklären. Die große Passion aus St. Florian war dagegen wahrscheinlich am Karfreitag zur Aufführung gekommen.

Aumanns Musik erinnert an Kompositionen von Carl Philipp Emanuel Bach oder auch Joseph Haydns Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze. Gewagte harmonische Wendungen steigern immer wieder den Ausdruck, imposante, von den Solisten gesungene Chorsätze und komplexe Fugen lassen die Trauer der Gläubigen auf eindrückliche Weise Klang werden. Ein Meisterwerk, dessen neuzeitliche Erstaufführung ein denkwürdiges Ereignis zu werden verspricht.

Franz Joseph Aumann

Zum Menschsein gehört das Beachten, aber auch das Vergessenkönnen. Wie steht es mit der Kultur des Beachtens, des Vergessens? Und wer hat die Gabe, unterscheiden zu können, was der Beachtung wert ist und was des Vergessens …?

Gunar Letzbor ist ein großartiger Musiker, der aber auch darüber hinaus kulturelle Fähigkeiten besitzt. Nicht zuletzt die, Vergessenes ans Licht zu holen, das nicht vergessen werden darf. Das war in der Vergangenheit Romanus Weichlein und das ist inzwischen auch Franz Joseph Aumann. Seit er Beziehungen zum Stift pflegt, hat es ihn immer schon gejuckt, in diese weitgehend geschlossene Lade des Archivs zu greifen. Ich bin ziemlich sicher, dass der zielsichere Griff nach der großen Passion nicht der letzte war. Angeblich – so sagt es die einzige größere Publikation über Aumann: Peter Dormann, Franz Joseph Aumann (1728–1797). Ein Meister in St. Florian vor Anton Bruckner. Mit thematischem Katalog der Werke , München, Salzburg 1985 – gibt es von ihm ca. 300 Werke, hauptsächlich kirchenmusikalischer Art. Die Klöster hatten damals ihre Hauskomponisten, also komponierende Mitbrüder; waren sie besonders talentiert, wurden ihre Werke in anderen Klöstern, Wallfahrtskirchen oder Residenzen rezipiert. So war es auch mit Aumann: Seine Werke waren zu seinen Lebzeiten in der ganzen Monarchie ein Begriff. Viele der Partituren haben wir heute nicht (mehr) in unserem Musikarchiv; Dormann hat zusammengetragen, wo Aumann-Werke schlummern … Wer war dieser Franz Joseph Aumann? Wir wissen nicht, wie er ausgesehen hat, von seinen Lebensumständen kennen wir so manches über andere große Komponisten, wie Johann Michael Haydn und Johann Georg Albrechtsberger, mit denen er befreundet war. Aumann wurde 1728 in Traismauer geboren und kam nach Wien, um Musik zu studieren, wo er mit den wichtigen Musikern seiner Zeit zu tun bekam. Warum es ihn 1753, mit 25 Jahren, nach St. Florian verschlagen hat, konnte bisher nicht eruiert werden. Aber er muss ein außerordentliches Talent gehabt haben, denn schon zwei Jahre darauf wurde er Regens Chori, noch ein Jahr vor seiner Priesterweihe! Von da an stand er immer im Dienst unseres Hauses, bis zu seinem Tod 1797. Er hat mehreren

Prälaten gedient und sich ihnen gegenüber auch dankbar erwiesen: Zu den Begräbnisfeierlichkeiten schrieb er jeweils ein neues Requiem (insgesamt soll es zwölf solcher Werke von ihm geben), aber auch Messen zu verschiedensten Festanlässen – und viele Motetten, Litaneien, Offertorien, ja auch Oratorien. Beliebt waren zudem seine Singspiele in Mundart.

Der Mann scheint neben echter Frömmigkeit auch Humor gehabt zu haben: In einer Briefbiographie Giuseppe Carpanis zu Joseph Haydn kommt Aumann vor und da heißt es: „Am St.­Caecilien­Tag wurde beinahe in allen Häusern Musik gemacht. Die ernsthaftesten Komponisten mußten sich für diese Gelegenheit mit scherzhaften Werken zur Unterhaltung der Gesellschaft einfinden. An einem dieser Abende produzierte Aumann […] eine Messe, die man nicht hören konnte, ohne zuletzt in ein großes Gelächter auszubrechen; man nennt sie die ‚Bauernmesse‘. Der Komponist trennt darin eine Silbe von der anderen, wiederholt sie, mischt sie durcheinander und komponiert sie von neuem. Dadurch erzeugt er ein Stottern und einen Unsinn, der so bizarr und lächerlich wirkt, daß man ihn ohne Gelächter weder singen noch hören kann. Doch hat diese babylonische Verwirrung den Vorzug, in strengem Kontrapunkt geschrieben zu sein. Sie enthält viele schöne und geschickte Erfindungen, die dem Komponisten durch die wunderliche Verunstaltung der Wor te suggeriert wurden. Der gelehrte und liebenswürdige Narr war ein Augustinerpater des Stifts St. Florian in Oberösterreich und ein wirklich gründlicher Theoretiker.“ Die theoretischen Kenntnisse kamen nicht nur seiner Tätigkeit als Regens Chori zugute und auch nicht nur seinen Kompositionen; er soll einer der wichtigen Berater bei der Errichtung der großen Orgel für unsere Stiftskirche gewesen sein, also für den Prälaten Matthäus II. Gogl und für den Orgelbauer Franz Xaver Chrismann. Die Zeit, in der er und die anderen Großen, wie Wolfgang Amadé Mozart und die Haydn-Brüder, gewirkt haben, war liturgisch und musikalisch eine Umbruchszeit. Der josephinische Geist hatte sich breitgemacht. Das Ausladende des Barocks wurde eingebremst, die flatternden Flügel wurden gestutzt. Und so gibt es auch bei Aumann eine erste Phase, in der die Musik eher ausladend ist. Dann aber war Musica brevis angesagt; Kirchenmusik auf deutsche Texte wurde verlangt, entsprechende Gebets- und Gesangsbücher wurden herausgegeben. Johann Michael Haydn schrieb unter anderem dafür sein Deutsches Hochamt „Hier liegt vor deiner Majestät“, Aumann eine Missa Germanica auf den Text „Wir werfen uns darnieder“ …

Ungefähr vierzig Jahre lang war Aumann der tonangebende Musiker dieses Klosters. Was er ausgesät hat, hat später Früchte getragen: Zur Zeit des Sängerknaben, Organisten und Regens Chori Anton Bruckner war sein Erbe noch recht lebendig … Aumann hat es nicht verdient, vergessen zu sein (zu bleiben); es gibt viele kostbare Schätze, die noch ihrer Wiederbelebung harren. Wie viele St. Florianer oder Stiftsbesucherinnen und Stiftsbesucher beachten die Grabtafeln von Mitbrüdern, die an der Friedhofsmauer nördlich des Kirchenportals eingelassen sind? Auf einer von ihnen steht auch der Name des Franz J. Seraphicus (wie es dort heißt) Aumann … Gedenken wir seiner; es wird nicht zu unserem Schaden sein, ganz im Gegenteil: Es ist eine mehr als nützliche, eine wohltuende, eine heilsame Musik!

Dr. Ferdinand Reisinger Augustiner­Chorherr im Stift St. Florian

Betrachtungen vom Podium herab

„In St. Florian, heißt es, soll das Singen zum Lob Gottes schon aufgehört haben“, bemerkte Pater Laurenz Doberschiz 1784 in einem Brief an Pater Georg Pasterwiz von Kremsmünster. Die Reformen von Kaiser Joseph II. im Namen des Humanismus und der Aufklärung hatten offenbar ganze Arbeit geleistet. Um 1790 beschäftigte das Stift gar nur noch zwei hauptamtliche Musiker, den Organisten Karl Ruesch und den Violinisten Franz Hatzinger. Die Zahl der Sängerknaben betrug kaum mehr als zwei oder drei Burschen.

Als Franz Joseph Aumann 1755 zum Regens Chori ernannt wurde, stand es noch besser um die Kirchenmusik. Immerhin wurde unter seinen Augen durch Franz Xaver Chrismann 1770 bis 1774 die heute nach Anton Bruckner benannte große Kirchenorgel erbaut. Aumann

Betrachtungen vom Podiuam herab verfügte über einen hauptamtlichen Organisten, einen Tenoristen, einen Bassisten und drei Instrumentalisten. Die Zahl der Sängerknaben dürfte aber bereits damals, bedingt durch die kaiserlichen Beschränkungen, nicht mehr als drei Buben betragen haben. In der Blütezeit der Kirchenmusik im Barock nach den Türkenkriegen standen ungefähr sechs Knaben im Dienste des Stiftes. Damals beschäftigte man aber neben den Diskantisten (Sängerknaben) auch Sopranisten, die höchstbezahlten Kastraten oder die etwas weniger geschätzten Fistulanten. Die erwachsenen Altisten mussten sich mit weit weniger Lohn zufriedengeben, wiederum danach abgestuft, ob sie kastriert waren oder nur fistulierten. In Aumanns Schaffen lässt sich nach den ersten Jahren eine deutliche Beschränkung seiner Möglichkeiten bemerken. Seine späteren Messen und die Hauptzahl seiner sonstigen Kirchenmusikwerke beschränken sich bei der Besetzung der Instrumentalstimmen auf das Notwendigste, oft sind nur zwei Violinen, Bass und Orgel vorgesehen. In der Passion allerdings wird auf die obligate Viola nicht verzichtet, der, wie so oft bei Aumann, die Ehre ausgiebiger Soli zuteilwird, eine weitere Spezialität dieses Komponisten.

Für uns heutige Musiker*innen und Musikliebhaber*innen bedeuten diese Vorgaben, dass wir uns mit einem ganz anderen Klangbild anfreunden sollten, als wir es aus der Tradition nach der Romantik gewohnt sind. Dass Frauenstimmen absolut fehl am Platz sind, ist schon vielen klar. Dass aber größere Knabenchöre, wie sie in den letzten Jahren oft als richtige Besetzung für die Kirchenmusik des Barocks und der Klassik betrachtet werden, ebenso falsch sind, ist ein noch etwas ungewohnter Gedanke. Die fast solistischen Besetzungen der Instrumente und der Sänger ergeben ein Klangbild, das wesentlich farbenreicher ist als eines mit chorischen Besetzungen. Natürlich kann dabei jene Glattheit und Makellosigkeit kaum erreicht werden, die manche in unserer technisier ten Zeit so lieben. Stattdessen treten Farbschattierungen auf, die ungewohnt sind, den Werken jedoch eine Durchsichtigkeit und Mehrschichtigkeit verleihen, die sonst nicht zu erzielen ist.

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