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Besetzung

„Ich möchte lieber nicht.“ Mit diesem Satz, den er dem Schreibgehilfen Bartleby in seiner 1853 veröffentlichten Geschichte aus der Wall Street in den Mund legte, schuf Herman Melville einen der denkwürdigsten Aphorismen der Literaturgeschichte, dessen rätselhafte Vieldeutigkeit die Leser*innen bis heute fasziniert.

„DER IRRSINNIGE TROTZ“

Jorge Luis Borges über Herman Melvilles Bartleby, der Schreibgehilfe

Die genaue Untersuchung der „Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten“ zwischen Moby Dick und Bartleby bedürfte nach meinem Dafürhalten einer Sorgfalt, welche die Kürze dieses Bandes nicht erlaubt. Natürlich liegen die „Verschiedenheiten“ auf der Hand: Ahab, die Hauptperson der breit angelegten Phantasmagorie, der Melville seinen Ruhm verdankt, ist ein Kapitän aus Nantucket, und er hat einem weißen Walfisch, der ihn verstümmelte, Rache geschworen; Schauplatz sind alle Meere der Welt. Bartleby ist ein Schreiber, bei einer Anwaltspraxis in der Wall Street angestellt, der sich mit einer Art demütiger Verbohrtheit weigert, irgendwelche Arbeit zu verrichten. Der Stil von Moby Dick ist voll von herrlichen Anklängen an Carlyle und Shakespeare; bei Bartleby ist er so grau wie die Titelfigur selbst. Und dabei liegt zwischen dem Roman und der Erzählung ein Zeitraum von nur zwei Jahren, von 1851 bis 1853. Vielleicht hat sich der Verfasser, von

Beginn von Bartleby, der Schreibgehilfe in Putnam’s Monthly Magazine, in dem die Erzählung in zwei Teilen im November und Dezember 1853 erstmals erschien

Herman Melville Bartleby, der Schreibgehilfe

der ungeheuren Weiträumigkeit seines vorigen Romans überwältigt, absichtlich die vier Wände eines im Dickicht der Stadt verlorenen kleinen Büros gesucht. Die „Gleichheiten“, wohl etwas weniger augenfällig, sind in dem Wahnsinn der beiden Hauptfiguren zu finden und in dem Umstand, daß dieser Wahnsinn alle um sie herum ansteckt. Die gesamte Besatzung des Pequod läßt sich mit fanatischer Begeisterung zu der unsinnigen Abenteuerfahrt des Kapitäns anheuern; der Anwalt aus der Wall Street und die anderen Schreiber nehmen den Entschluß Bartlebys mit seltsamer Untätigkeit hin. Der irrsinnige Trotz sowohl Ahabs wie des Schreibers Bartleby erlahmt nicht einen einzigen Augenblick und wird ihr Tod.

„ […] ABER ER HAT ES AUCH ERREICHT“

Aus einem Brief von Albert Camus an Liselotte Dieckmann vom 3. Dezember 1951

Ich habe Kafka mit 25 Jahren gelesen (1938) und ich habe ihn auf Französisch gelesen. Der Prozess hat mich beeindruckt, das Gesamtwerk hat bei mir den Eindruck eines extrem limitierten Schriftstellers hinterlassen. Um Ihnen ein klares Beispiel zu geben: Ich denke, Melville hat sich das gleiche Ziel gesetzt wie Kafka, aber er hat es auch erreicht, weil er es sowohl in den Schatten als auch in die Sonne schrieb; Kafka kommt nicht aus der Nacht heraus.

„EIN AKT DER VERSAGUNG “

Aus Slavoj Žižeks Buch Parallaxe

Der Satz, den Bartleby ständig wiederholt, lautet, wie gesagt, „Ich möchte lieber nicht“ und nicht „Ich möchte es lieber nicht tun“. Es handelt sich bei seiner Verweigerung nicht so sehr um die Ablehnung eines bestimmten Inhalts, sondern vielmehr um die formale Geste der Verweigerung als solcher. […] Sie ist ein Akt der Versagung, kein symbolischer Akt. Dem „Ich möchte lieber nicht“ haftet etwas eindeutig Holophrastisches an: Die Aussage ist ein objektgewordener Signifikant, ein Signifikant, der auf einen trägen Fleck reduziert ist, welcher für den Zusammenbruch der symbolischen Ordnung steht.

Es gibt zwei Verfilmungen von Bartleby, einen Fernsehfilm von 1970 (Regie: Anthony Friedman) und einen Kinofilm von 2001, der die Handlung ins heutige Los Angeles verlagert (Regie: Jonathan Parker); es hält sich allerdings in den Tiefen des Internets hartnäckig das nicht bestätigte Gerücht, es gebe noch eine dritte Version, in der Bartleby von Anthony Perkins gespielt werde. Selbst wenn sich dieses Gerücht als falsch erweisen sollte, gilt hier mehr denn je: se non è vero, è ben trovato [Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden]: So wie Perkins den Norman Bates [in Alfred Hitchcocks Psycho] ge- spielt hat, wäre er der Bartleby schlechthin. Wenn dieser lächelnd „Ich möchte lieber nicht“ sagt, kann man sich dieses Lächeln leicht als das des Norman Bates in der letzten Szene von Psycho vorstellen, als er in die Kamera schaut und (mit der Stimme seiner Mutter) sagt: „Ich könnte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun.“ Darin liegt keinerlei gewalttätige Qualität, die Gewalt betrifft vielmehr ihr unbewegliches, träges, beharrliches, unbeteiligtes Wesen selbst.

Bartleby könnte nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun – das macht seine Anwesenheit so unerträglich.

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