IM HIMMEL „Hast du Joelle bemerkt?“, fragt, der auf dem Thron sitzt. Alle sind da: Der Ewige, die Ältesten, die Engel und natürlich das Lamm. Die Stimmung ist aufs Äußerste angespannt. Wie immer, wenn er, der gefallene Engel, Satan, der Rebell, hier auftaucht. Und wie immer sonnt er sich eitel im Widerwillen der himmlischen Bewohner. Früher war auch er hier zu Hause, Luzifer, einst der Schönste aller Cherubim. Früher hat man ihn hier geehrt. Heute schwappt ihm eine Mischung aus Abscheu und Unverständnis entgegen. Abschätzig betrachtet Luzifer die Cherubim. Was für ein Selbstbetrug, das alles hier, und er ist der Einzige, der das Ausmaß der Täuschung durchschaut hat. Der Einzige, der erkennt, dass die ganze Idee von der Erschaffung des Menschen als Gegenüber Gottes ein Luftschloss ist. „Hast du Joelle bemerkt?“ Die Frage schwebt noch im endlosen Raum. Luzifer hat das Leuchten in den Augen des Alten sehr wohl bemerkt – sentimentaler Stolz. „Sie liebt mich, ehrt mich und vertraut mir“, hört er die tosende Stimme vom Thron und genau dieser Satz weckt Luzifers Kampfgeist. „Ach, ich lasse mich vom Augenschein nicht beeindrucken“, kontert er feindselig. „Dieses romantische Gehabe. Ich kenne die Menschen.“ Herausfordernd und mit spöttischen Augen blickt er den an, der auf dem Thron sitzt. „Pff, mir imponiert das nicht sonderlich. Du hast Joelle über die Maßen begabt und beschenkt, regelrecht überschüttet hast du sie mit deinem Reichtum. Kein Wunder, dass sie so verliebt in ‚ihren Gott‘ ist. Ist für sie ja ein einträgliches Geschäft.“ 241
Der auf dem Thron sitzt, schweigt. „Ich meine …“ – Satan grinst – „du kennst die Adamssöhne und Evastöchter, du bildest dir doch nicht wirklich ein, diese romantische Regung, in die sie sich durch ihre Lieder und Ansprachen versetzen, sei echte Liebe.“ Der auf dem Thron sitzt, atmet aus. Ein feuriges Rauschen erfüllt den Himmel, das spöttische Grinsen auf dem Angesicht des gefallenen Engels wird breiter. Touché!, denkt Satan und spürt, dass der Alte genau hier zu kriegen ist. „Gib’s zu, dein Experiment ‚Mensch‘ ist gescheitert“, fordert Luzifer den, der auf dem Thron sitzt, heraus. „Die den Namen Gottes anrufen, sind nichts als jämmerliche Kreaturen, die um himmlische Unterstützung winseln, wenn sie mit ihrem Latein am Ende sind. ‚Glauben‘ nennen diese elenden Würmer das, wenn ihnen als letzter Ausweg nichts anderes mehr einfällt, als ihre kümmerlichen Anliegen Gott vorzutragen. Wenn sie aus keinem anderen Grund als aus Angst vor den Folgen ihrer Entscheidungen nach der ‚Führung Gottes‘ jammern.“ Der finstere Engel scheint seine Worte zu genießen und beginnt vor dem Thron hin und her zu laufen. Luzifer weiß, wann ein Stoß sitzt. Mit untrüglichem Gespür wittert er, wo er seinen Gegner verwunden kann. Und das hier ist wirklich gut – den Höchsten selbst an seinem wunden Punkt zu packen. Der Mensch, dieser Wurm auf zwei Beinen – warum auch immer der Höchste schon seit Anbeginn auf diese lächerliche Kreatur setzt. „Lass uns Menschen machen – pah!“ Luzifer verzieht missfällig sein Angesicht, als er seine Worte frech in Richtung Engelschar ergießt. „Die Menschheit auszurotten war die einzig gute Idee, die Flut damals, das war mal eine entschlossene Tat. Den ganzen Irrtum einfach wegspülen und die an die Macht lassen, die Würde haben, Macht und Herrlichkeit – die himmlischen Heerscharen.“ Ein Raunen geht durch den Himmelssaal. Wie verhaltener Sturm. 242
„… aber nein, lässt er diesen Noah übrig, als wüsste er nicht, dass das auch nicht lange gut gehen würde.“ Die himmlischen Bewohner blicken unruhig zum Thron. Der darauf sitzt, hebt beruhigend seine Hand, gebietet der Empörung Schweigen, woraufhin Luzifer mit herablassender Genugtuung einen Mundwinkel hebt. Triumphierend lässt er seine von Hass glühenden Augen über die düster dreinblickende Engelschar gleiten. Er weiß, wie gerne sie über ihn herfallen würden. Und er weiß, dass der Alte das nicht zulassen wird. Er hat einen anderen Plan mit ihm, aber auch der wird scheitern, wie die ganze Schöpfung bereits gescheitert ist. Warum kapiert das hier keiner? „Wann ist dieser nostalgische Traum endlich ausgeträumt, das Menschengeschlecht könne noch irgendwann seine ewige Bestimmung erfüllen?“, brüllt er in die himmlische Runde und das Himmelsgewölbe stöhnt und ächzt wie ein Schiffsrumpf im Orkan. Er ist sicher, dass auch sie nicht alle verstehen, warum ihr Heerführer sich nicht von seiner kindischen Idee vom ‚Wohnen unter den Menschen‘ abbringen lässt. Der Alte ist hoffnungslos blind, was das Menschengeschlecht angeht. Er will einfach nicht wahrhaben, was jeder hier weiß: dass die Menschen egoistische Jammerlappen sind, einfach zu verführen durch den Meistbietenden. Wer sollte das besser wissen als er selber? Sein tägliches Geschäft. Da tritt das Lamm vor den Thron, wie geschlachtet, dieser „neue Mensch“. Grenzenloser Zorn wallt im Widersacher hoch. Der Menschensohn war sein größter Misserfolg, dieses Opferlamm, bei dem das alte Gesetz des Stärkeren versagte. Dieser Messias – so lächerlich er ist mit seinen Wundmalen –, dieses „Schaf“ ist dem boshaften Engel am verhasstesten. Seit seiner Sühne gehen die Anklagen des Diabolos vor dem Richterstuhl ins Leere. Dieser stellvertretende Tod – das war ein Rückschlag, gewiss. Der gewaltigste bislang. Aber man ist ja nicht dumm. Es bleibt noch genug Handlungsspielraum – wenn man geschickt ist. 243
Selbstzufrieden kreuzt Luzifer seine Arme. Er hat gute Arbeit geleistet in den letzten Jahrtausenden. War es schon nicht möglich zu verhindern, dass Menschen das Evangelium hören, so ist es ihm doch leidlich gelungen, es abzumildern, es zu einer Art spirituellen Selbstverwirklichung, wahlweise zum Mittel eitler Selbstgeißelung umzudeuten. Nur darauf achten, dass es Religion bleibt, menschliches Tun. Wehe, wenn Göttliches geschieht, aber dafür sorgt er, der Satan, schon. Doch, er kann durchaus zufrieden sein mit seiner Arbeit. Ein guter Teil derer, die heutzutage diesem Messias folgen, begnügt sich damit, Gott als Lieferanten von Segnungen jeglicher Art zu suchen: Trost, Lebenssinn, Wohlstand, Sicherheit, Führung, all dies Zeug. Dass sie dem, von dem alles kommt, in ihren besten Momenten zutrauen, ihre Probleme zu lösen, halten sie bereits für eine hervorragende Leistung, ja, für das Ziel ihres Glaubens. Neben denen natürlich, die Religionsausführung als Beweis eigener moralischer Überlegenheit nutzen. Doch, er, der Diabolos hat ordentliche Arbeit geleistet. Aber jetzt, jetzt will er mehr. Heute wird er den Allmächtigen bei seiner Achillesferse packen. Er winkt herablassend in Richtung Thron – ein Spiel mit dem Feuer, er weiß es. Mit dem Alten kann es niemand aufnehmen. Doch bislang hat der Alte ihn verschont und noch immer empfängt er ihn, muss sich die Liste seiner Anklagen über seine „geliebten Geschöpfe“ anhören. Was für ein Ärgernis, wenn das Schaf aufsteht, so jämmerlich zugerichtet, wie es aussieht, und klar macht: Hier gilt das Gesetz des Lösers. Das einzige Vergnügen, das einem als Ankläger dann noch bleibt, wenn beim Alten mit den Anklagen nichts zu erreichen ist, ist, die Erlösten selbst anzuklagen. Sie sind ja so dumm! Blöde lauschen sie dem „Ankläger der Brüder“ und akzeptieren die Anklagen, mit denen er vor dem Richterstuhl Christi abgewiesen 244
wurde. Als hätten sie keinen Löser, als zählte das Lamm nicht. So närrisch. Dann zermartern sie sich, schlagen sich mit ihrem irdischen Gewissen herum, als wohnte nicht dieser Christus in ihnen, als wären sie nicht mit seiner Gerechtigkeit überkleidet. Unversehens schlägt die Boshaftigkeit auf dem Angesicht des gefallenen Engels in Hass um, Hass auf jene Menschenkinder, die für seine üblichen Spielchen unempfänglich sind, die, deren Gerechtigkeit das Schaf ist. Solche, die vor dem Gericht keine Angst haben, die ihre eigene Gerechtigkeit zu Gottes Sache gemacht haben. Diese hingegebenen Schwachköpfe, die so dumme Gebete sprechen wie: „Herr, ich gebe dir mein Leben, mein Leben soll dich verherrlichen“ – lächerlich berauscht von ihrer eigenen Hingabe. Diese … diese … – solche wie Joelle. Aber diesmal wird er sich nicht täuschen. Diesmal ist Satan sich seines Erfolges sicher. Er wird das Lügengebäude aus kitschigen Illusionen über die Liebe der Menschen zu Gott zum Einstürzen bringen. Diesmal wird der Mensch sich als das zeigen, was er ist. Schluss mit der schwärmerischen Verklärung des neuen Menschen, er ist nicht besser als der alte. Diesmal geht’s ans Eingemachte. Er wird dem Alten ein riskantes Spiel vorschlagen: Er soll Joelle mir überlassen. Wollen doch sehen, was von dieser rührseligen Liebe bleibt, wenn Gott seine schützende Hand von ihr wegzieht. Wollen doch mal sehen, was von der Hingabe bleibt, wenn sich die unsichtbare Welt gegen sie wendet. Wollen doch mal sehen, was bleibt, wenn sich ihr Gebet erfüllt: „Herr, ich will dich sehen, wie du wirklich bist“ – lachhaft. Wer von den Menschenkindern könnte den Allmächtigen ertragen! Sie wollen doch nur den Gott, den sie begreifen – eine Rückversicherung für das Gelingen ihrer Lächerlichkeiten. „Was willst du?“, erschallt die Stimme dessen, der auf dem Thron 245
sitzt, und Luzifer läuft ein Schauer über den Rücken. Immerhin – diese Stimme hat das Universum in Existenz gerufen. Widerwillig verbeugt sich Luzifer leicht vor dem, der auf dem Thron sitzt. Wie sehr er den auf dem Thron hasst. „Ich will dir ein Spiel vorschlagen“, sagt er und ärgert sich über den unterwürfigen Ton in seiner Stimme. Er kann dem Alten einfach nicht ins Angesicht schauen. Aber das Herz rausreißen, das würde er ihm gerne. „Eine Art Wette.“ Wird er sich darauf einlassen? Auch der Alte weiß, dass die Menschen sich begnügen mit Bildern von Gott, mit Dogmen, mit Vorstellungen. Auch solche wie Joelle sind da keine Ausnahme. Auch sie liebt nur den Gott, den sie fassen kann. Und wer könnte den Allmächtigen schon fassen? Dies hier wird die Nagelprobe: Wenn der Allmächtige die Wette ablehnt, gibt er zu, dass er, der Widersacher, recht hat: Der Mensch ist nicht geeignet als Gottes Gegenüber. Geht der Ewige auf die Wette ein, wird er, der Widersacher, ihm am lebendigen Objekt beweisen, dass er von Anfang an recht hatte. Dass die Schöpfung auf den Menschen hin am Menschen selbst gescheitert ist. Der Alte sitzt in der Zwickmühle seiner närrischen Liebe. Stunde der Wahrheit. „Wir wissen doch alle hier, was von dem Menschengewürm zu halten ist. Ihre Hingabe geben sie im Tausch gegen Segnung – nichts als käufliche Liebe.“ Im Grunde ist der Allmächtige nichts weiter als ein Freier, der für Liebe bezahlen muss. „Ich wette, dass deine ach so hingegebene Tochter Joelle dir aufkündigt, wenn du sie eine kleine Weile mir übergibst“, rückt der Böse mit seinem Vorschlag heraus. Es ist still geworden im Himmel, als hielten alle den Atem an. Jeder hier weiß, dass es um alles geht. Luzifer spürt die Anspannung vom Thron her. Auf dem Gesicht des Ewigen ist 246
Schmerz zu lesen. Abbild von Joelles Schmerz, wenn es so weit sein wird. Wird der Alte alles auf diese eine schwache Karte setzen? Luzifer weiß: Dies könnte der endgültige Strich durch die göttliche Rechnung sein. Wird der seiner närrischen Liebe verfallene Alte sein Geschick in die Hände eines Menschen legen – wieder einmal? Wie beim Kind in der Krippe, dem Zerschlagenen am Marterpfahl? Bei Abraham, als er das Messer an Isaaks Kehle hielt? Was hat er nur übrig für diese wankelmütige, verführbare Kreatur aus Staub? Aber dieses Mal wird seine dumme Schwäche für die Menschenrasse ihm ganz sicher das Genick brechen. „Gut!“, erklingt die Stimme vom Thron wie Rauschen vieler Wasser. „Sieben Jahre werde ich sie dir überlassen. Nur ihr Leben taste nicht an!“ Über Luzifers Angesicht blitzt eitle Siegersicherheit. Hat der Ewige sich doch tatsächlich hinreißen lassen. Muss ihm was wert sein, die Sache. Der selbstgefällig in die Runde schauende Engel genießt das Raunen der Cherubim. Vielleicht ahnen sie, dass das Scheitern des göttlichen Planes bevorsteht. Sieben Jahre. Der Alte ist risikofreudig. Innerhalb von sieben Jahren ist jeder Mensch zu zerstören. Nach sieben Jahren ist jede romantische Regung abgebaut. Menschliche Liebe hat eine sehr kurze Halbwertszeit. Der Widersacher weiß das. Sein tägliches Geschäft. Mit einer angedeuteten Verbeugung zieht sich der Leuchtende zurück und eilt auf die Erde, um sein Werk zu beginnen.
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