Tag 24 Identität
„Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle gelassen und heiter und fest wie ein Gutsherr aus seinem Schloss. Wer bin ich? Sie sagen mir oft, ich spräche mit meinen Bewachern frei und freundlich und klar, als hätte ich zu gebieten. Wer bin ich? Sie sagen mir auch, ich trüge die Tage des Unglücks gleichmütig, lächelnd und stolz wie einer, der Siegen gewohnt ist. Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig, ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle, hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen, dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe, zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung, umgetrieben vom Warten auf große Dinge, ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne, müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen, matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen? Wer bin ich? Der oder jener? Bin ich heute dieser und morgen ein andrer? Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling? Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer, 103
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg? Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“ (Widerstand und Ergebung – DBW 8,513f )
„Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege.“ (Ps 139,1-3)
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„Wer bin ich?“ ist eines der bekanntesten Gedichte Bonhoeffers. Geschrieben im Wehrmachtuntersuchungsgefängnis Berlin-Tegel und enthalten in einem Brief an Eberhard Bethge vom Juli 1944 liegt es zeitlich nahe am gescheiterten Attentat Stauffenbergs und seiner Mitstreiter gegen Hitler vom 20. Juli 1944. Eine unruhige Zeit für Bonhoeffer, der von den Umsturzplänen wusste und in die Verschwörung involviert war. Eingesperrt ins Gefängnis und äußerlich unfrei hat er nach Berichten von Zeitzeugen vielen Mithäftlingen Mut zugesprochen und auch in seiner Zelle ein geistliches Leben geführt. „Wer bin ich?“ erlaubt bei aller gebotenen Zurückhaltung doch einen vorsichtigen Blick hinter den „öffentlichen Bonhoeffer“ – auf seinen Gemütszustand und seine Gedanken. Innenund Außenperspektive sind dabei offensichtlich nicht immer deckungsgleich. Der heutige Leser erfährt auch von Bonhoeffers Unruhe und Sehnsüchten. Diese Ehrlichkeit hat seither unzählige Menschen inspiriert, die auf der Suche nach ihrer Identität sind. Deutlich wird auch hier, dass Bonhoeffer ein sehr intensives Leben geführt hat. Und er merkt, dass er seine Identität nicht in sich selbst finden kann. Aber in Gott kann er sie außerhalb seiner selbst verankern. Entscheidend ist, dass Gott ihn kennt – mit allen Stärken und Schwächen, mit aller Zuversicht und allen Zweifeln. Das bringt ihn zur Ruhe und verhilft ihm zu ehrlicher Selbstannahme.
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»» Fallen auch in meinem Leben Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinander? Wie erlebe ich mich selbst? Und wie wirke ich auf andere? »» Stehe ich eher in der Gefahr, um mich selbst zu kreisen und Nabelschau zu betreiben oder achte ich zu wenig auf meine Gefühls- und Gedankenwelt? »» Wo ist es wichtig, äußerlich stark zu sein? Wann darf ich Schwäche zeigen?
»» Ich danke dafür, dass Gott mich so gut kennt und bei ihm Masken fallen dürfen. »» Ich danke für allen Segen, den Menschen durch ihr Zeugnis in meinem Leben bewirkt haben. »» Ich bitte um äußerliche Stärke, wo sie für andere hilfreich und aufbauend ist. »» Ich bitte um Ehrlichkeit vor mir selbst und Selbsterkenntnis, Schwächen zugeben und Zweifel äußern zu können.
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