Stationen auf dem Weg zur Freiheit:
Dietrich Bonhoeffers Werk Peter Zimmerling
Š Brunnen Verlag 2016
1. Begegnung mit Karl Barths Theologie
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arl Barths „Römerbrief“ in seiner Bearbeitung von 1922 bewirkte in Europa einen theologischen Erd rutsch. Mit ihm wurde das Zeitalter der Dialektischen Theologie eingeläutet. Erschüttert über den schrankenlo sen Nationalismus seiner liberalen theologischen Lehrer im Ersten Weltkrieg entdeckte Karl Barth über dem Studi um des Römerbriefes die Radikalität biblischen Denkens. Daraus erwuchs für ihn der Impuls zu einem theologischen Neuansatz. Wer ist Gott wirklich? Als Antwort fand Barth die Formel von Gott als dem „ganz anderen“ – durch die menschliche Vernunft nicht erkennbar, vom Menschen durch einen unendlichen Abstand geschieden und darum nur erkennbar aufgrund seiner Selbstoffenbarung.1 Die Offenbarung Gottes hat ihr Zentrum in Jesus von Nazareth. Um ihn kreist fortan Karl Barths theologi sches Denken immer ausschließlicher. Alle theologischen Fragen, sowohl die dogmatischen als auch die ethischen Probleme, sind von ihm her und auf ihn hin neu zu be denken. Karl Barth hat sich dieser Aufgabe persönlich in seiner vielbändigen „Kirchlichen Dogmatik“ unterzogen. Das Wesen Gottes ist nirgendwo anders erkennbar als im menschgewordenen Gottessohn. Alle anderen Aussagen über Gott geraten von hier aus in eine Krise. Aber auch das Wesen des Menschen, wie Gott ihn eigentlich gemeint hat, lässt sich nur am Reden und Handeln Jesu Christi ablesen. Er ist der eigentliche Mensch. Ebenso ist die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens in Staat
und Gesellschaft kein der menschlichen Eigengesetzlich keit überlassener Bereich. Er ist in Analogie zur Magna Charta der Gemeinde Jesu Christi, der Bergpredigt, zu gestalten. Viele dieser Aussagen beinhalteten eine deutli che Absage an die liberale Theologie, wie sie im „Kultur protestantismus“ als Synthese von Religion und Kultur Gestalt gewonnen hatte. Diese wenigen Andeutungen machen zugleich deutlich, inwiefern diese neue Theologie – entstanden im Rück griff auf die biblischen Texte – die evangelische Kirche in Deutschland zur Auseinandersetzung mit der nationalso zialistischen Ideologie und den von ihr geprägten Anschau ungen der Deutschen Christen befähigte. Wenn Gott sich allein in Jesus Christus offenbart hat, Jesus Christus damit zum Maßstab aller Gotteserfahrungen wird, kann es neben ihm keine Offenbarung Gottes in irgendeinem geschicht lichen Ereignis geben. Staat, Volk, Rasse oder gar Führer sind keine Offenbarungsquellen. Wenn das gesellschaftli che Leben vom Gebot Gottes her bestimmt sein soll, kann es keine „Eigengesetzlichkeit“ dieser Bereiche geben. Karl Barth hat aus diesem Geist die grundlegenden The sen der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 vor formuliert, die damals von der Synode der Bekennenden Kirche angenommen wurden, und hat damit das geistige Fundament der Bekennenden Kirche in ihrem Kampf mit den Deutschen Christen und dem Nationalsozialismus ge legt. Bonhoeffer hat durch die Begegnung mit Karl Barth – zunächst nur literarisch, erst viel später auch persön lich – entscheidende Impulse für das eigene theologische Denken bekommen. Durch diese Begegnung war er im stande, die liberale Theologie seiner Vorfahren und seiner 3
Berliner Lehrer auf ihre Übereinstimmung mit dem bib lischen Zeugnis hin zu überprüfen. Er erkannte, dass es keinen fließenden Übergang zwischen menschlicher Hu manität und dem Reich Gottes gibt. Vor allem aber wurde ihm deutlich, dass die liberale Theologie die Gottheit Jesu Christi als überholte dogmatische Aussage betrachtet hat te. Jesus Christus war für sie mehr Vorbild und Lehrer als Gott und Erlöser. In seiner Christologievorlesung setzte Bonhoeffer die liberale Christologie mit der doketischen Häresie zur Zeit der Alten Kirche gleich.2 Christus ist demnach nur die Erscheinung einer Idee Gottes, die man bereits vor seinem Erscheinen auf intellektuellem Wege gewonnen hatte.
2. Kein Christentum ohne Nachfolge und ohne Gemeinschaft
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ls Frucht der Zeit im Predigerseminar entstand 1937 „Nachfolge“, eine Auslegung der Bergpredigt. Bon hoeffer will die Rechtfertigungslehre in der evangelischen Kirche wieder ans Licht bringen. In der traditionellen Verkündigung von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden sieht er nämlich eine große Gefahr: Sie hat weithin außer Acht gelassen, dass Glaube und Nachfol ge, d. h. Glaube und Gehorsam, untrennbar zusammen gehören. Das Buch setzt mit berühmt gewordenen Worten ein: „Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. Unser Kampf geht heute um die teure Gnade.“3 Die Bergpredigt 4
zeigt für Bonhoeffer beispielhaft, wie die teure Gnade verkündigt werden muss. An ihr will er lernen und leh ren, wie teure Gnade heute aussieht. Er fährt dann fort: Billige Gnade heißt Gnade als Lehre, als Prinzip, als System; heißt Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit, heißt Liebe Gottes als christliche Gottesidee. Wer sie bejaht, der hat schon Vergebung seiner Sünden … Billige Gnade heißt Rechtfertigung der Sünde und nicht des Sünders … Teure Gnade ist das Evangelium, das immer wieder gesucht, die Gabe, um die gebeten, die Tür, an die angeklopft werden muß. Teuer ist sie, weil sie in die Nachfolge ruft. Gnade ist sie, weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft; teuer ist sie, weil sie dem Menschen das Leben kostet, Gnade ist sie, weil sie ihm so das Leben erst schenkt …4 An der Erkenntnis der teuren Gnade, die zur Nachfol ge Jesu Christi führt, wird deutlich, dass die christliche Gemeinde für den einzelnen Christen unverzichtbar ist. Nachfolge bewährt sich und lässt sich nur durchhalten in der Gemeinschaft mit anderen Christen. Diese Tatsache entfaltet Bonhoeffers nächstes Buch „Gemeinsames Leben“, das erstmals 1939 erschienen ist. Es gibt die Erfahrungen wieder, die er im Zusammenleben mit seinen Vikaren und im Bruderhaus von Finkenwal de gemacht hat. Bonhoeffer hat die hundert Seiten dieser Schrift an einem Stück niedergeschrieben. Themen sind: Gemeinschaft, der gemeinsame Tag, der einsame Tag, der Dienst, Beichte und Abendmahl. Das Buch enthält eine Fülle von Anregungen für das Leben jeder christlichen Gemeinschaft und jedes einzelnen Christen. Das ist auch 5
der Grund für den weiten Bekanntheitsgrad dieses Büch leins. Erstmals ist hier im kirchlichen Protestantismus au ßerhalb des Pietismus der Versuch gemacht worden, den Gemeinschaftsaspekt christlicher Existenz und die Gestal tung des persönlichen geistlichen Lebens zu reflektieren. Es ging Bonhoeffer darum, in diesen Büchern unmiss verständlich zu zeigen, dass gelebter christlicher Glaube der geistlichen Sammlung bedarf, wenn er nicht zum blo ßen Versuch der Weltverbesserung verwässern soll. So wohl die „Nachfolge“ als auch das „Gemeinsame Leben“ hatten nie einen Rückzug des Christen aus der Welt zum Ziel. Auch wenn Bonhoeffer später von der Einseitigkeit der „Nachfolge“ überzeugt war, hat er doch weiterhin zu den darin geäußerten Gedanken gestanden.5
3. Christus – der Mensch für a ndere
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it Bonhoeffers Eintritt in den aktiven Widerstand gegen Hitler hatten sich seine theologischen Ge danken noch einmal in einem ganz anderen Wirklichkeits bereich zu bewähren. Zusammen mit seinen Schwägern und anderen Verwandten, die hohe Beamtenpositionen innehatten, nahm er nach der endgültigen Schließung des Predigerseminars teil an den Versuchen, Hitler gewaltsam zu beseitigen. Zugleich ging es den Verschwörern um die Frage einer Neuordnung Deutschlands nach dem Krieg. Dies war die Zeit, in der er an seiner „Ethik“ arbeitete. Bonhoeffer hat dieses Buch nicht selbst abschließen kön nen. Sein Freund Eberhard Bethge stellte es postum aus 6
den nach Kriegsende vorgefundenen Entwürfen, Notizen und abgeschlossenen Teilarbeiten Bonhoeffers zusammen. Berühmt geworden ist die darin durchgeführte Unter scheidung von vorletzten und letzten Dingen.6 Das Letzte bleibt für Bonhoeffer qualitativ und zeitlich die Rechtfer tigung aus Gnade durch Glauben. Die entscheidende Frage ist, welchen Stellenwert demgegenüber das Vorletzte, das Geschöpfliche, im Leben des Christen besitzt. Die Lösung des „Radikalismus“, nach der das Letzte in ausschließli chem Gegensatz zum Vorletzten steht und das Vorletzte angesichts des Letzten wertlos wird, wird von Bonhoeffer verworfen, da sie den Schöpfer leugnet und die Verantwor tung des Christen für die bestehende Schöpfung verneint. Ebenso scheidet für ihn der „Kompromiss“ aus, nach dem Letztes und Vorletztes „vermischt“ werden. Das Vor letzte behält hier zwar sein Recht, es wird aber durch das Letzte nicht gefährdet, nicht beeinflusst. Das Letzte wird als für das tägliche Leben nicht bedeutsam ausgeschieden. Weder durch Radikalismus noch durch den Kompro miss, sondern nur in Jesus Christus, d. h. in seiner Mensch werdung, löst sich das Verhältnis vom Letzten zum Vor letzten. In ihr erkennen wir nämlich „die Liebe Gottes zu seiner Kreatur, in der Kreuzigung das Gericht Gottes über alles Fleisch und in der Auferstehung den Willen Gottes zu einer neuen Welt“.7 In diesem Dreischritt vollzieht sich nun auch das christliche Leben. Weil Jesus Christus wahrer Mensch ist, dürfen wir als Christen vor Gott als wirkli che Menschen leben. Weil er der Gekreuzigte ist, ist über die Selbstherrlichkeit der Welt das Todesurteil gesprochen: Das Vorletzte darf sich nicht mehr zum Letzten erheben. Weil Jesus schließlich der Auferstandene ist, beginnt be reits mitten in der alten Welt eine neue Schöpfung, ein neu 7
es Leben. „Christliches Leben ist Teilnahme an der Chris tusbegegnung mit der Welt.“ Vom Letzten her und um des Letzten willen ist der Raum für das Vorletzte offenzuhal ten.8 Dieser Ansatz hat es Bonhoeffer ermöglicht, als Christ und Theologe seine ganze Kraft in der Konspiration gegen Hitler einzusetzen. Stellvertretend für die Mitverschwore nen hat er nach der theologischen Begründung ihres Tuns gefragt. Entscheidend sind für ihn dabei die drei Stichwor te der Stellvertretung, der Wirklichkeitsgemäßheit und der Schuldübernahme. Jeder Mensch ist dazu berufen, wenn er verantwortlich leben will, stellvertretend für andere zu wirken. Das zeigt z. B. das normale Handeln eines Vaters gegenüber seinen Kindern: Er arbeitet für sie, er sorgt für sie, er tritt für sie ein, er kämpft für sie und leidet für sie.9 Stellvertretend für andere hat Bonhoeffer mit den Mitver schwörern Verantwortung für Deutschland übernommen. Verantwortliches Leben als Christ zeichnet sich weiter durch Wirklichkeitsgemäßheit aus. Es berücksichtigt die je weilige Situation, ohne darüber die Gebote Gottes aus den Augen zu verlieren. Schließlich kommt kein verantwort liches Handeln ohne Schuldübernahme aus. Bonhoeffer leitet auch diesen Gedanken vom Tun Jesu Christi ab: Die ser hat als der Sündlose die Schuld der Menschen auf sich genommen und sich gerade unter der Last dieser Schuld als der Sündlose erwiesen. Verantwortliches Handeln besteht darin, in Freiheit das Richtige zu tun – auch wenn es dabei ohne Schuld nicht abgehen kann: dies aber im Bewusst sein der Zusage der Vergebung durch Jesus Christus. Es leuchtet ein, dass dieser Gedanke besonders im Hinblick auf ein mögliches Attentat auf Hitler, aber auch im Vorfeld der konspirativen Methoden von entscheidender Bedeu 8
tung war. Bonhoeffer hat dadurch Männern seelsorgerlich beigestanden, die bereit waren, verantwortlich zu handeln, darin jedoch vor Gott schuldig wurden: Sie sollten sich gleichzeitig in Christus gerechtfertigt wissen. In dem Buch „Ethik“ finden wir auch Bonhoeffers Schuldbekenntnis, das er angesichts der größten militäri schen Erfolge Hitlers im Herbst 1940 geschrieben hat. Er hält hier der Wirklichkeit Hitler-Deutschlands die Zehn Gebote in dem Bewusstsein als Spiegel vor, dass allein durch das Bekenntnis der Schuld der Weg zu einem Neu anfang in Deutschland frei werden wird.10 Dies Schuldbe kenntnis ist darin bemerkenswert, dass es die Zehn Gebo te, den Dekalog, zur Grundlage sozial-ethischer Reflexion macht, während heute die Normativität des Dekalogs in der sozialethischen Diskussion kaum eine Rolle spielt.
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4. Bonhoeffers Gedanken zum Mannsein Man soll Gott in dem finden und lieben, was er uns gerade gibt; wenn es Gott gefällt, uns ein überwältigendes irdisches Glück genießen zu lassen, dann soll man nicht frömmer sein als Gott und dieses Glück durch übermütige Gedanken und Herausforderungen und durch eine wildgewordene religiöse Phantasie, die an dem, was Gott gibt, nie genug haben kann, dieses Glück wurmstichig werden lassen … Es ist Übermut, alles auf einmal haben zu wollen, das Glück der Ehe und das Kreuz und das himmlische Jerusalem.11
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achdem Bonhoeffer in den 1930er Jahren die Freund schaft zu einer Frau gelöst hatte, weil er meinte, ganz für seine Arbeit in der Kirche frei sein zu müssen, hat er sich im Jahr 1943 mit Maria von Wedemeyer verlobt. Sie war achtzehn Jahre alt und stammte aus dem hinterpom merschen Adel, der zuvor Bonhoeffers Arbeit im Predi gerseminar unterstützt und mit ermöglicht hatte. Warum diese Verlobung? Bonhoeffer hatte seit dem Sommer 1942 aus Trotz gegen die damals herrschende Untergangsstim mung – und weil er neu die Güte Gottes auch in seinen irdischen Gaben erkannt hatte – seinen Gefühlen zu Ma ria freien Lauf gelassen. Er sagt damit – nach dem Vorbild Luthers? – zu dem durch die Schöpfung gegebenen Man dat der Ehe Ja. Gleichzeitig sagt er Ja zu einer Zukunft Deutschlands nach dem Krieg, für die er in der Konspira tion unter Einsatz des Lebens kämpft: „Mag sein, daß der 10
jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gerne die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“12 Auch diese trotzig-glaubensvolle Aussage erinnert an Äußerungen Luthers. Bonhoeffers Einstellung, die sich in seiner Verlobung spiegelt, zeigt sich genauso in den neu akzentuierten theo logischen Erkenntnissen. Christ sein kann man nur mitten in der Diesseitigkeit der Welt. Es geht ihm nicht mehr da rum, ein Heiliger zu werden, sondern wirklicher Mensch zu sein. Dabei ist diese Diesseitigkeit nicht zu verwechseln mit der „platte[n] und banale[n] Diesseitigkeit der Aufge klärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Laszi ven“, sondern zu verstehen als eine „… tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist …“13 „Ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen … dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern die Leiden Gottes in der Welt ernst … und so wird man ein Mensch, ein Christ.“14 Auch wenn Bonhoeffer von seiner Liebe zu Maria schreibt, geschieht das nicht abgesondert von theologi schen Überlegungen, wie der zu Beginn dieses Abschnitts zitierte Briefauszug an seinen Freund Bethge deutlich macht. Das zeigt auch das folgende Gedicht, überschrie ben mit „Vergangenheit“, die in Marias erstem Besuch im Tegeler Gefängnis Gegenwart geworden war: Über deiner Nähe erwache ich mitten in tiefer Nacht und erschrecke – bist du mir wieder verloren? such ich dich ewig vergeblich, 11
dich, meine Vergangenheit? Ich strecke die Hände aus und bete – und ich erfahre das Neue: Vergangenes kehrt dir zurück als deines Lebens lebendigstes Stück durch Dank und Reue15 Bonhoeffer hat erkannt: „Jesus nimmt das ganze mensch liche Leben in allen seinen Erscheinungen für sich und das Reich Gottes in Anspruch.“16 Damit ist der Weg in ein ganzheitliches Leben eröffnet. Durch die Beziehung zu Maria ist Bonhoeffer seine Existenz als „Kopffüßler“ neu bewusst geworden.17 So beschreibt er während dieser Zeit in einem Brief an Eberhard Bethge einmal seine Sehn sucht, die Sonne wieder am ganzen Leib zu spüren: „… ich möchte mir von ihr meine animalische Existenz erwecken lassen, nicht jenes Animalische, das das Menschsein er niedrigt, sondern das es aus der Muffigkeit und Unechtheit einer nur geistigen Existenz befreit und den Menschen rei ner und glücklicher macht.“18 Bonhoeffers Weg zu einem ganzheitlichen Menschsein – und damit zu einem neuen Verständnis seines Mannseins – ist letztlich christologisch begründet: Weil Jesus schlicht Mensch war,19 darf auch der Christ schlicht Mensch werden. Hier rührt auch Bonhoeffers Liebe zum Alten Testament her.20 Er will durch die Betonung des Alten Testaments verhindern, dass das Diesseits vorzeitig aufgehoben wird.21 So wie Jesus muss auch der Christ das irdische Leben ganz auskosten. „… nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihm und ist er mit Christus gekreu zigt und auferstanden.“22 12
Durch die Versachlichung der zwischenmenschlichen Beziehungen ist die Erziehung zum Menschsein heute nö tiger denn je. Der Ruf zu einem Leben in der Nachfolge und der Einsatz für die Würde des Menschen gehören un trennbar zusammen.
5. Auf dem Weg zu einer neuen Theologie angesichts der Herausforderungen der Moderne
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er Jesus für uns heute ist – diese Frage steht hinter den berühmt gewordenen Aussagen Bonhoeffers in „Widerstand und Ergebung“ im Hinblick auf eine neue Theologie. Er überlegt darin, wie die christliche Botschaft den modernen Menschen in seiner Lebensmitte erreichen kann. Gott ist nicht ein Gott für die existenziellen oder intellektuellen Grenzsituationen des Menschen, wo die ser mit seiner eigenen Kraft nicht mehr weiterweiß. Der christliche Gott gibt uns vielmehr zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt (Markus 15,34)! Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist 13
er bei uns und hilft uns. Es ist in Matthäus 8,17 ganz deutlich, daß Christus nicht hilft kraft seiner Allmacht, sondern kraft seiner Schwachheit, seines Leidens!23 Diese Sätze haben einer ganzen theologischen Bewe gung, der sogenannten Gott-ist-tot-Theologie, in den 1960er-Jahren mit Bischof Robinson und Dorothee Sölle als ihren prominentesten Vertretern, als Legitimation ge dient. Es ist heute weithin anerkannt, dass sich diese Be wegung zu Unrecht auf Bonhoeffer berufen hat. Er will ja nicht etwa sagen, dass Gott tot sei und wir unser Leben darum nicht mehr an Gott ausrichten müssten. Vielmehr schreitet er in diesen Aussagen zur Kritik an einem tradi tionellen Gottesbegriff, der nicht wirklich ernst gemacht hat mit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Gott ist kein anderer als der Vater Jesu Christi. Bonhoeffer ringt um eine Verchristlichung der herkömmlichen Rede von Gott.24 Leitgedanke ist für ihn dabei Johannes 1,14: „Das Wort ward Fleisch.“25 Die nicht-religiöse Interpretation christlicher Begriffe ist der Versuch, traditionelle christli che Begriffe radikal-christlich zu interpretieren. Dahinter steckt ein zutiefst missionarisches Motiv: Bonhoeffer will dazu beitragen, dass Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die säkularisierte, au tonome Welt darunter verändert und erneuert.26 Im Au genblick schwerster Bedrohung des christlichen Glaubens durch den Nazi-Staat sucht Bonhoeffer nach einer Gestalt des christlichen Glaubens, die dieser Herausforderung ge recht wird. Es geht um die Erneuerung der christlichen Predigt, „die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündigt.“27 Bonhoeffer schlägt auf dem Weg dahin die Erneuerung 14
der altkirchlichen Arkandisziplin für bestimmte Wahrhei ten des christlichen Glaubens vor. Das Stichwort kommt in den Gefängnisbriefen der Sache nach dreimal vor,28 wobei die zweite Stelle besonders aufschlussreich ist. Darum soll sie im Zusammenhang zitiert werden: Barth hat als erster Theologe – und das bleibt sein ganz großes Verdienst – die Kritik der Religion begonnen, aber er hat an ihre Stelle eine positivistische Offenbarungslehre gesetzt, wo es dann heißt: ‚friß Vogel, oder stirb‘; ob es nun Jungfrauengeburt, Trinität oder was immer ist, jedes ist ein gleichbedeutsames und notwendiges Stück des Ganzen, das eben als Ganzes geschluckt werden muß oder gar nicht. Das ist nicht biblisch. Es gibt Stufen der Erkenntnis und Stufen der Bedeutsamkeit; d. h. es muß eine Arkandisziplin wiederhergestellt werden, durch die die Geheimnisse des christlichen Glaubens vor Profanierung behütet werden. Der Offenbarungspositivismus macht es sich zu leicht, indem er letztlich ein Gesetz des Glaubens aufrichtet und indem er das, was eine Gabe für uns ist – durch die Fleischwerdung Christi! – zerreißt. An der Stelle der Religion steht nun die Kirche – das ist an sich biblisch –, aber die Welt ist gewissermaßen auf sich selbst gestellt und sich selbst überlassen, und das ist der Fehler.29 Barths offenbarungspositivistische Lösung erscheint Bon hoeffer verfehlt, weil sie den wesentlich missionarischen, d. h. dem Menschen zugewandten Charakter der christ lichen Botschaft nicht angemessen berücksichtigt. Es gibt für Bonhoeffer Geheimnisse des christlichen Glaubens, die nicht jedem ohne Weiteres zugänglich sind. Er begründet 15
seinen Vorschlag, die Arkandisziplin zu erneuern, mit bi blischen Aussagen, nach denen es „Stufen der Erkenntnis und Stufen der Bedeutsamkeit“ gibt. Bethge interpretiert Bonhoeffers Aussagen zu Recht wie folgt: „Diese ‚Geheimnisse‘ sind schöpferische Vor gänge des Heiligen Geistes. Sie werden jedoch zu ‚religi ösen‘ Objekten, zum ‚Offenbarungspositivismus‘, wenn sie unmotiviert angeboten, aufgezwungen und billig ver schleudert werden. Bonhoeffer kann auch von einer Un terscheidungsverantwortung der Kirche nach Zeit und Gegenüber sprechen, indem sie ‚Stufen der Bedeutsamkeit‘ beachtet. Man wird sogar von der anderen Seite her argu mentieren dürfen: Die Arkandisziplin schützt ebenso die Welt vor einer Vergewaltigung durch die Religion. So er hält die Arkandisziplin eine wichtige Funktion, das nicht religiöse Interpretieren vor dem Rückfall in das Religiöse zu bewahren.“30 Mit der Forderung eines Arkanums wird die nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe vor dem Missverständnis platter Verweltlichung des Glaubens bewahrt. Bonhoeffers eigene Praxis pietatis während der Haft bis unmittelbar zu seiner Ermordung ist hierfür ein deutliches Indiz. Bonhoeffers Neuinterpretation ging von seiner neuen Erkenntnis dessen aus, was christlich verstanden „Welt lichkeit“ bedeutet. Er hat allerdings diese Interpretation nicht mehr selbst durchführen können.31 „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott lässt sich aus der Welt he rausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“32 Ebenso streng inkarnatorisch bestimmte er das Sein Gottes: „Die Bibel weist den Menschen an die Ohnmacht und das Leiden Gottes; nur der leidende Gott kann hel 16
fen.“33 Hierin unterschied sich für Bonhoeffer christliche Rede von Gott und der Welt grundsätzlich von allen an deren Religionen. Das hatte Konsequenzen für seine Be stimmung von Christsein: Christ wird ein Mensch, indem er teilnimmt am Leiden Gottes im weltlichen Leben.34 Nur so erfährt er, dass Gott gerade als der Ohnmächtige, als der Gekreuzigte ihm hilft. Das Gedicht „Christen und Hei den“ bringt diesen Doppelakt in der zweiten und dritten Strophe besonders deutlich zum Ausdruck: Menschen gehen zu Gott in Seiner Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.35 Bonhoeffer wollte die Radikalität der biblischen Aussagen über Jesus Christus in der Situation einer säkularisierten Gesellschaft neu zu Gehör bringen. Es ging ihm dabei tatsächlich um viel „mehr“ als Rudolf Bultmann, der mit seiner Entmythologisierung des Neuen Testaments des sen theologische Aussagen dem modernen Zeitgenossen verträglich zu machen versuchte. Für Bonhoeffer war die Neuinterpretation ein theologisches Problem. Er dachte ontologisch-sozial: Die Frage war für ihn, wie der leben dige Gott in Kirche und Gesellschaft erkannt und geehrt werde. Für Bultmann, der individual-existenzialistisch dachte, handelte es sich bei der Neuinterpretation um eine primär hermeneutische Aufgabe: Wie kann der moderne 17
Mensch mit den überholten biblischen Vorstellungsmus tern versöhnt werden? Weil Bonhoeffer vom gegenwärtig wirkenden Gott ausgeht, ist seine Fragestellung gerade an gesichts heute zu beobachtender Wiederkehr der Religio sität nicht überholt.36
6. Ausblick
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onhoeffer wagte es, sich selbst und anderen unbeque me Fragen zu stellen. Er wollte ehrlich fragen und konstatieren, „was man selbst eigentlich glaubt“.37 Nur vom Boden der Redlichkeit sich selbst gegenüber38 war für ihn ein echter Neuansatz christlicher Existenz angesichts einer „mündig gewordenen Welt“39 denkbar. Er übernahm Verantwortung für Kirche und Gesellschaft unter dem Motto: „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll. Nur aus dieser geschichtlich verantwortlichen Frage können fruchtbare wenn auch vorübergehend sehr demütigende Lösungen entstehen.“40 Indem Bonhoeffer ein bleibendes Anliegen des theologischen Liberalismus aufnahm, beschrieb er sein Ziel so: „Die Kirche muß aus ihrer Stagnation heraus. Wir müssen auch wieder in die freie Luft der geistigen Ausein andersetzung mit der Welt. Wir müssen es auch riskieren, anfechtbare Dinge zu sagen, wenn dadurch nur lebens wichtige Fragen aufgerührt werden.“41 In dem Kampf gegen kirchlich-fromme Sterilität und Phrase liegt ein Grund für die ungebrochene Aktualität 18
von Bonhoeffers Gedanken. In der Kirche sollen Echtheit und Aufrichtigkeit herrschen.42 Sein Suchen und Sehnen ging nach einer Weise, „das Wort Gottes so auszuspre chen, daß sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu, daß sich die Menschen über sie entsetzen und doch von ihrer Ge walt überwunden werden …“43 Bonhoeffer wusste, dass er selbst die neue Sprache, die er suchte, noch nicht ge funden hatte: „Bis dahin wird die Sache der Christen eine stille und verborgene sein; aber es wird Menschen geben, die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit war ten.“44 Auch diese Aussage hat nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. Bis heute haben wir als Gemeinde Jesu Christi noch nicht das Wort für unsere immer stärker entkirch lichte und säkularisierte Gesellschaft gefunden, das sie auf horchen ließe. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer regt schließlich Menschen auch deswegen zum Nachdenken an, weil bei ihm „Denkakt und Lebensakt“ untrennbar verknüpft wa ren.45 Theologie und Biografie waren „zusammengekne tet“. Seine Theologie war nie nur eine Angelegenheit des Denkens. Darum kämpfte er bis zuletzt gegen den „religi ösen Akt“, der immer etwas Partielles ist. „… der ‚Glaube‘ ist etwas Ganzes, ein Lebensakt. Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum Leben.“46 Bonhoeffer hat scharfsichtig erkannt, dass die (bürgerliche) Religion getrennt von der Alltagswirklichkeit bleibt. Sie erlaubt höchstens die Rede von Gott in den Grenzsituationen un seres Lebens. Seine Bedeutung ist mit der Sahne auf dem Kakao vergleichbar: durchaus entbehrlich. Bonhoeffer da gegen wollte „von Gott nicht an den Grenzen, sondern in 19
der Mitte, nicht in den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen sprechen“.47 Nicht Rückzug, liberale Reduktion des christlichen Glaubens, sondern „die Inan spruchnahme der mündig gewordenen Welt durch Jesus Christus“48, dem sie ohnehin gehört, war sein Ziel. Das Wort Gottes regiert!49 Das hat Bonhoeffer als Theologe, Christ und Zeitgenosse selbst vorgelebt. Sein Engagement für Kirche und Gesellschaft bis zum Märtyrertod zeigt, dass er sich weit entfernt von jedem Hinterweltlertum als Christ bewährt hat. Er verfiel nicht in einen gottvergesse nen Aktivismus, sondern wartete „aktiv“ auf das Kommen des Reiches Gottes. Damit hat Bonhoeffer Theologie und Kirche wesentli che Aufgaben für die Zukunft gestellt. Indem er die Gül tigkeit der biblischen Aussagen voraussetzte, hat er beiden einen verheißungsvollen Weg in die Zukunft eröffnet, der erst noch begangen werden will.
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7. Anmerkungen 1 Karl Barth, Der Römerbrief, München 21922. 2 Dietrich Bonhoeffer, Berlin (1932–1933), hg. von Carsten Nicolaisen/ Ernst-Albert Scharffenorth, DBW, Bd. 12, Gütersloh 1997, 320f. 3 Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, hg. von Martin Kuske/Ilse Tödt, DBW, Bd. 4, Gütersloh 21994, 29. 4 DBW, Bd. 4, 29ff. 5 DBW, Bd. 8, 542. 6 Dietrich Bonhoeffer, Ethik, hg. von Ilse Tödt u.a., DBW, Bd. 6, Gütersloh 2 1998, 137-151. 7 DBW, Bd. 6, 148f. 8 DBW, Bd. 6, 150. 9 DBW, Bd. 6, 257. 10 DBW, Bd. 6, 125-133. 11 DBW, Bd. 8, 244f. 12 DBW, Bd. 8, 36: Nach 10 Jahren, Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943. 13 DBW, Bd. 8, 541. 14 DBW, Bd. 8, 542. 15 DBW, Bd. 8, 541. 16 DBW, Bd. 8, 504, Hervorhebung vom Autor. 17 Vgl. Renate Wind, die in ihrer Bonhoeffer-Biografie diesen Zusammenhän gen eingehender nachgeht (dies., Dem Rad in die Speichen fallen. Die Le bensgeschichte des Dietrich Bonhoeffer, Weinheim 21991). 18 DBW, Bd. 8, 501f. 19 DBW, Bd. 8, 541. 20 DBW, Bd. 8, 226f. 21 DBW, Bd. 8, 500f.; vgl. auch Bonhoeffers Ausführungen über das Letzte und das Vorletzte in der Ethik. 22 DBW, Bd. 8, 501. 23 DBW, Bd. 8, 534. 24 Vgl. hierzu besonders Rainer Mayer, Christuswirklichkeit. Grundlagen, Entwicklung und Konsequenzen der Theologie Dietrich Bonhoeffers, Stuttgart 21980, 219ff. 25 DBW, Bd. 8, 416. 26 Vgl. DBW, Bd. 8, 436.
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27 28 29 30 3 1 32 33 34 35 36
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A.a.O. DBW, Bd. 8, 405, 406, 415. DBW, Bd. 8, 415f. Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer, Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie, a.a.O., 990. Vgl. den Entwurf einer entsprechenden Arbeit in DBW, Bd. 8, 556ff. DBW, Bd. 8, 534. A.a.O. Vgl. DBW, Bd. 8, 535. DBW, Bd. 8, 515f. Vgl. den gleichlautenden Buchtitel von Helmut Burkhardt, Wiederkehr der Religiosität?, Gießen 1990; Ulrich H.J. Körtner, Wiederkehr der Religion? Das Christentum zwischen neuer Spiritualität und Gottvergessenheit, Gü tersloh 2006. DBW, Bd. 8, 559f. A.a.O. DBW, Bd. 8, 504. DBW, Bd. 8, 25. DBW, Bd. 8, 555. Vgl. den „Entwurf einer Arbeit“, DBW, Bd. 8, bes. 559f. DBW, Bd. 8, 436. A.a.O. Christian Gremmels/Hans Pfeifer, Theologie und Biographie. Zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer, München 1983, 5. DBW, Bd. 8, 537. DBW, Bd. 8, 407f. DBW, Bd. 8, 504. DBW, Bd. 8, 511f.
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