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«Die meisten Christen meiden Menschen in Prostitution und dementsprechend auch die Rotlichtbezirke. Es ist eben eine dunkle, schmutzige, böse Welt; keine Frage. Aber wenn Gott uns in eine solche Dunkelheit hineinruft, dann können wir wissen, dass er uns vorangegangen ist. Die vorliegende Geschichte ist ein wunderbares Beispiel einer speziellen Führung und des wundersamen Eingreifens Gottes, während Patricia Green im berüchtigten Patpong-Rotlichtviertel in Bangkok mutig Hilfswerke für Frauen in Prostitution gegründet hat. In diesen frühen Jahren hatte ich das Privileg, Gottes Wirken durch Patricia an Ort und Stelle zu beobachten. Ihr Mut, ihre Unerschrockenheit und ihr Glaube, dass Gott tatsächlich für alles Nötige sorgen würde, haben mich inspiriert. Gott war immer treu! Und zahllose Menschen, gemieden von Christen und der Gesellschaft, wurden von Jesus erlöst, weil auch Patricia seinem Ruf an sie treu war! Doch dieses Buch zeigt nicht nur die Geschichte eines Lebens, das Gott völlig gehört. Nein, es ist auch eine Fundgrube für Informationen über das Übel des Menschenhandels und der Prostitution – und darüber, wie diese Dinge Leben zerstören und wie wir als Glaubensgemeinschaft darauf reagieren können. Ich fordere jeden heraus, dieses Buch zu lesen. Mal sehen, wer sich dabei nicht veranlasst sieht, sich Gottes Absicht, dieser modernen Form von Sklaverei ein Ende zu setzen, anzuschließen.» Pfarrerin Dr. Lauran D. Bethell, internationale Beraterin zum Thema «Menschenhandel und Prostitution» der International Ministry of American Baptist Churches/USA; Gründerin der International Christian Alliance on Prostitution (ICAP); ehemalige Leiterin des New Life Center in Chiang Mai, Thailand.


Eleina G. Eriksson

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Patricia Green, ein Engel im Rotlichtviertel


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2012 by Brunnen Verlag Basel Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Fotos Umschlag: Worldpics/Shutterstock.com; Serg Zastavkin, Jose A. Reyes/ Shutterstock; Impala/Photocase Satz: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel Druck: Bercker, Kevelaer Printed in Germany ISBN 978-3-7655-1501-9


Für all die Frauen, mit denen ich über die Jahre hinweg gearbeitet habe – in Thailand, auf den Straßen von Berlin und in vielen anderen Regionen der Welt. Ihr habt mein Leben mit eurer Liebe bereichert und damit, dass ihr bereit wart, euer Herz mit mir zu teilen. Und ihr habt mich mit eurer Stärke und eurem Mut im Angesicht abscheulicher Umstände inspiriert. Ich danke euch! Patricia Green

«Randee und ich waren beide überwältigt und zutiefst bewegt … Unsere Zeit in Berlin war insgesamt ernüchternd … keinem von uns war bewusst gewesen, dass Prostitution in Deutschland legal ist … Wir kamen betroffen und bewegt von unserem Besuch bei Alabaster Jar zurück …» Aus einem Brief an Patricia Green von Corinne und Randee, zwei Besucherinnen bei Alabaster Jar e.V. in Berlin


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A Tribute to Patricia Green

Behind Bars in Thailand – Gefangen in Thailand A Tribute to Patricia Green Bar room fans Smack the stench Monotonous feet Sweet innocence sold Bound with barbwire Dragged through city streets Tied to bar room stools. Sleepless nights Curtain torn There are no blinds Over the windows. I looked inside And saw the sadness Of a dying soul.


Hommage auf Patricia Green

Behind Bars in Thailand – Gefangen in Thailand Hommage auf Patricia Green Surrender Quirl Über der Bar Schmeck den Gestank Monotone Füße Süße Unschuld verkauft Mit Stacheldraht gefesselt Durch Straßen der Stadt gezerrt An Barhocker gebunden. Schlaflose Nächte Vorhang zerrissen Es gibt keine Jalousien Vor den Fenstern. Ich schaute hinein Und sah die Traurigkeit Einer sterbenden Seele. Lynette Phillips – The Dust Cries Out, 2009

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Inhalt

Inhalt Was die Leserinnen und Leser wissen müssen . . . . . . . . . . . . Zur Person Patricia Green . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorwort von Irene Hirzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 1:

Patricias Gedanken, hoch über den Wolken …

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Teil 2:

EIeinas erste Reise ins Rotlichtviertel von Berlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4

Die Ankunft in den Straßen von Berlin. . . . . . . . . Gott schenkt das Geld für den Flug nach Thailand In der Prostitution – und künstlerisch sehr begabt . Als Christin in der Prostitution – und die Last der «ältesten Töchter» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 5 Die Frauen aus Bulgarien, Rumänien und Ungarn . Kapitel 6 Und kein Richard Gere weit und breit! … . . . . . . Kapitel 7 Wohin mit den Händen, wenn ich jemanden umarme? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 8 Die Tricks der Loverboys . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 9 Auf dem deutschen Straßenstrich an der O-Straße Kapitel 10 Mädchen im Korsett der Zuhälter-Lügen . . . . . . . Kapitel 11 Zwei verschwundene Mädchen . . . . . . . . . . . . . . Teil 3: Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15

Eleinas zweite Reise ins Rotlichtviertel von Berlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Viele freiwillige Mitarbeiter. . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Wenn Jesus nach Berlin käme … . . . . . . . . . . . . . 93 Ehevertrag nach Lust und Laune in Saudi-Arabien. 97 Auftauen im Café . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101


Inhalt

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Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19

Vier Frauen in einem einzigen Zimmer in Basel . . Drei Mädchen in Thailand werden gerettet . . . . . Aussteigen – und was das für die Frauen bedeutet. Warum lässt sie sich darauf ein – warum steigt sie nicht einfach aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 20 Patricias Umzug von Thailand nach Berlin . . . . . . Kapitel 21 Gottes Barmherzigkeit – und die Aktivitäten der anderen Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil 4:

Die Brunnen-Interviews mit Patricia Green . . 141

Teil 5:

Das ERF-Interview. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

Teil 6:

Patricia Greens politische Projekte . . . . . . . . . 209

Teil 7:

Das Gedicht von Kate Snowden . . . . . . . . . . . 215

Teil 8:

Fakten und Informationen. . . . . . . . . . . . . . . . 221

Kinderprostitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Loverboys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sex-Tourismus in Thailand . . . . . . . . . . . . . . . . . Rahab Ministries, Thailand. . . . . . . . . . . . . . . . . Alabaster Jar e.V. Berlin – Über die Organisation . Menschenhandel und Prostitution in Deutschland Teil 9:

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Die Geschichten einiger Frauen, die aus der Prostitution ausgestiegen sind. . . . . . . . . . . . . 249

Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263


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Was die Leserinnen und Leser wissen müssen

Was die Leserinnen und Leser wissen müssen Was Sie auf den folgenden Seiten lesen, ist Patricia Greens Leben: ganz ungeschönt. Meine Kollegen im Lektorat und ich haben uns hierbei für einen dokuähnlichen Tatsachenbericht mit eingestreuten erzählerischen Elementen aus der Vergangenheit und einigen Interviews entschieden, weil Patricia den größten Teil ihres Lebens auf der Straße verbracht hat, um Frauen in Prostitution zu helfen. Und so wollten wir kein rein theoretisches «Schreibtischkonstrukt» anbieten, sondern wollten die Leserinnen und Leser etwas von der «Live»-Atmosphäre der Straße schnuppern lassen … Dieses Buch entstand unter schwierigen Bedingungen. Spürbare Sprachbarrieren (Patricia spricht nur Englisch mit neuseeländischem Akzent), verständlicherweise eingeschränkte Recherchen direkt auf dem Straßenstrich (es durften keine längeren Interviews mit Frauen in Prostitution geführt werden) und gewisse Gefahrenelemente erschwerten die Arbeit. Sie bereicherten das Arbeiten am Buch aber auch sehr. Zu meinem eigenen Schutz musste ich mir dabei ein Pseudonym zulegen, was bestimmt leicht nachvollziehbar ist. Um aber in erster Linie die Existenz der Frauen in Prostitution zu schützen, wurden (falls nicht anders erwähnt) ihre Namen im Buch fast durchgehend verändert. Details wie die Namen von Straßen, Cafés oder gar Ländern und Heimatländern, in die manche Frauen flüchten konnten, werden im Buch natürlich nicht genannt. Oder sie wurden so verändert, dass die Frauen und auch die Arbeit von Patricia Green nicht gefährdet werden können. Ansonsten entspricht alles, was hier im Buch steht, der Wahrheit.


Was die Leserinnen und Leser wissen müssen

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Alle, die wie Patricia Green unter Frauen in Prostitution arbeiten, würden diese Frauen niemals «Prostituierte» nennen. Es hat sich unter ihnen eingebürgert, das nicht zu tun. Folglich soll das auch in diesem Buch nicht geschehen. Die bevorzugte Bezeichnung lautet «Frauen, die in der Prostitution arbeiten» oder «sich prostituierende Frauen». Weiter hinten im Buch wird das noch detaillierter erklärt. Erlauben Sie mir noch diese eine Bemerkung: Wer dieses Buch liest, kann mit unangenehmen Tatsachen konfrontiert werden! … EIeina G. Eriksson (verheiratete Journalistin, Autorin und TVMitarbeiterin)


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Zur Person Patricia Green

Zur Person Patricia Green Patricia kommt aus Neuseeland und ist ordinierte Pastorin in den «Assemblies of God» Neuseeland, Missionspartnerin für «World Outreach International» und Sozialarbeiterin. Sie hat einen Master-Grad in Gemeindepsychologie. Außerdem ist sie eine bekannte Referentin zu Fragen der sexuellen Ausbeutung, des Menschenhandels und der Prostitution. 1988 ging Patricia nach Thailand und begann dort unter thailändischen Frauen in der Prostitution zu arbeiten. Ihre Arbeit fand unter dem Namen «Rahab Ministries» große Anerkennung und wurde zum Vorbild für ähnliche Programme in vielen Ländern, besonders in Asien. 2004 legte sie die Leitung von Rahab Ministries in thailändische Hände, um sich stärker auf die übergeordneten Probleme im Kampf gegen Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung weltweit konzentrieren zu können. Zurzeit lebt Patricia in Berlin, Deutschland, wo sie «Alabaster Jar» gründete, eine Arbeit unter Frauen, die im Berliner Prostitutionsgewerbe arbeiten. Viele von ihnen stammen aus Ostund Mitteleuropa. Patricia ist viel unterwegs und steht neuen und bestehenden Projekten mit Frauen in der Prostitution als Beraterin zur Verfügung. Auch als Lehrerin und Trainerin zu Fragen der Arbeit unter Frauen in der Prostitution und unter Opfern des Menschenhandels ist sie ständig gefragt. Ihr Herz schlägt dafür, ein Bewusstsein für diese Probleme zu schaffen und Menschen anzuspornen, sich um sexuell ausgebeutete Frauen und Kinder zu kümmern und ihnen ein neues Leben anzubieten. Sie hat viel dazu beigetragen, solche Aktivitäten in mehreren Ländern in Gang zu bringen. Kürzlich erhielt Patricia den «Hope For Europe Award» für ihr Engagement gegen den Menschenhandel in Europa.


Vorwort von Irene Hirzel

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Vorwort von Irene Hirzel Patricia Green habe ich das erste Mal 1998 in Basel getroffen. Sie kam zu uns ins Missionsteam, um über Frauen- und Kinderhandel zu sprechen, und sie erzählte uns von ihrer Arbeit unter sich prostituierenden Frauen in Thailand. Ich war fasziniert von dem, was sie machte, und sah in ihr ein großes Vorbild. Wir waren damals als Team regelmäßig unterwegs, um Frauen, die sich prostituierten, in Basel zu besuchen. Wann immer Patricia Zeit hatte, zu uns nach Basel zu reisen, kam sie jedes Mal gleich mit, vor allem zu den Thailänderinnen. Diese haben stets sehr positiv auf Patricia reagiert, da sie ja ihre Sprache spricht. Dies öffnete nicht nur die Türen zu den Salons, sondern auch die Türen zu den Herzen. Durch Patricias Gebets- und Infobriefe bin ich stets darüber informiert, was sie gerade macht. Ich lese über ihre Reisen, ihre politischen Aktivitäten und Schulungen. Natürlich haben wir im Basler Team auch regelmäßig für die Rahab-Arbeit in Thailand gebetet. Wir wurden dazu inspiriert, unser Projekt ebenfalls «Rahab» zu nennen. Mittlerweile gibt es in der Schweiz an verschiedenen Orten solche Rahab-Teams. Durch die Erzählungen und Briefe von Patricia, aber auch durch eigene Erfahrungen mit Frauen aus dem Rotlichtmilieu, erkannte ich mehr und mehr, dass viele Frauen verkauft werden und dass sie diese Arbeit alles andere als freiwillig machen. Und das in unserer so «braven» Schweiz! Als Team gingen wir oft durch Phasen der Hilflosigkeit, vor allem, wenn wir einer «gehandelten Frau» (wie man das im Fachjargon nennt) dringend helfen sollten. Wir sahen die Grenzen bei den Behörden, bei der Justiz, bei den Politikern, bei den Arbeitgebern, im Leben der Frauen – und natürlich auch bei uns selbst. Einer Frau aus der Prostitution zu helfen, ist schon schwierig


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Vorwort von Irene Hirzel

genug. Aber einer gehandelten (verkauften), in aller Regel sich illegal im Land befindlichen und folglich illegal arbeitenden Frau zu helfen, bringt einen in die «Zonen des Unmöglichen». Sich in dieser Situation immer wieder auf Gott zu verlassen, ist deshalb für mich zu einer absoluten Notwendigkeit geworden. Heute ist auch bei den Schweizer Behörden einiges in Gang gekommen. Es gibt runde Tische, eine Koordinationsstelle gegen Menschenhandel (sie nennt sich «fedpol») sowie kantonale Gesetzesanpassungen zur Opferhilfe. Aber wir sind natürlich noch lange nicht am Ziel, das für uns nur lauten kann: Den Frauenhandel ganz eliminieren. Seit einiger Zeit arbeite ich nun hauptberuflich als «Projektleiterin gegen Frauen- und Kinderhandel» in der Christlichen Ostmission in Bern und reise oft in die Herkunftsländer der Frauen, um Hilfsprojekte aufzubauen. Diese Arbeit bringt es mit sich, dass ich auf vielen Konferenzen bin. Das Schöne daran ist: Ich treffe auf diesen Konferenzen immer wieder auf Patricia, die dort meist Referate über Frauenhandel und über die verschiedenen Hilfsmöglichkeiten hält. Sie gibt ihre Erfahrung und ihr Wissen gern an andere Frauen weiter. Für mich ist Patricia eine Frau, die mit enorm viel Energie und Engagement gegen den monströsen Frauenhandel kämpft, sich und andere unermüdlich darüber informiert und ihr Wissen mit Herzblut an jüngere Generationen weitergibt. Sie hat niemals aufgegeben, auch wenn die Situation schwierig war und die Widerstände größer schienen als das eigene Vermögen und die eigenen Kräfte. Sie ist dadurch ein Vorbild für uns alle geworden. Als ich selber einmal in der Situation war, wo die Widerstände und die Probleme – und ja, auch die geistlichen Anfechtungen – zu groß wurden, traf ich Patricia glücklicherweise auf einer Konferenz und nahm an einem ihrer Workshops über Glauben und geistliches Kämpfen teil. Ich war so ermutigt da-


Vorwort von Irene Hirzel

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von, dass die Hauptaussage jenes Seminars noch heute bei mir im Büro hängt. Patricia sagte: «Der Schlüssel zu unserem Sieg besteht darin, die Strategien des Feindes zu erkennen. Du musst deine Einstellung ändern und von einer anderen Grundhaltung ausgehen: ‹You are a victor, not a victim.› Du bist Sieger über den Feind, du bist nicht Opfer des Feindes. Behalte dies immer in deinen Gedanken.» Sie bezog sich dabei auf die Bibelstelle im 2. Korintherbrief, Kapitel 10, Verse 3 bis 6. Heute lebt Patricia in Berlin und hat dort mutig die Arbeit «Alabaster Jar» aufgebaut. Nicht nur das, sie ist auch politisch aktiv und setzt sich dafür ein, dass das Alter zur legalen Prostitution in Deutschland von 18 auf 21 Jahre angehoben wird. Die Wege, die sie beschreitet, sind äußerst modern. Patricia scheut sich nicht davor, soziale Netzwerke wie Facebook zu benutzen, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Dank Patricia weiß ich heute, was «Causes» auf Facebook1 sind. Möge dieses Buch alle Leserinnen und Leser dazu ermutigen, Frauen in der Prostitution mit anderen Augen zu sehen: nämlich mit den Augen unseres barmherzigen Vaters im Himmel, der für sie das Allerbeste will. Irene Hirzel [Irene Hirzel hat zehn Jahre lang als Streetworkerin im Basler Rahab-Team und in der Mitternachtsmission gearbeitet. Sie hat Frauen in der Prostitution in den Bordellen und Massagesalons besucht, Deutschkurse mit ihnen gemacht, praktische Hilfe geleistet und auch Ausstiegshilfen mitorganisiert. Außerdem hat sie im Fundraising-Bereich und in der Kommunikation gegenüber der Öffentlichkeit mitgearbeitet.]



Teil 1

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Patricias Gedanken, hoch ßber den Wolken ‌


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Teil 1 · Patricias Gedanken, hoch über den Wolken …

3. Oktober 2010 Während das Flugzeug auf dem Rückweg nach Berlin über den Wolken von Timisoara in Westrumänien schwebte, dachte ich über die vergangenen Tage nach und staunte über Gottes Handeln. Ich hätte mir niemals träumen lassen, nach Rumänien zu gehen und einige Tage später der Geburt eines neuen christlichen Dienstes beiwohnen zu dürfen. Ich war eingeladen worden, vor einer Gruppe von christlichen Leiterinnen zu sprechen. Ich wollte den Christinnen in der Stadt einige Ideen liefern, wie man einen Dienst an Frauen in der Prostitution und an Opfern von Menschenhandel für die Sexindustrie aufbauen kann. Junge Frauen und Teenager aus Rumänien bilden eine der größten nationalen Gruppen aus Osteuropa, die gegenwärtig in Westeuropa und Großbritannien in der Prostitution arbeiten. Einige tun das freiwillig. Sie scheinen selbst die Wahl getroffen zu haben, die Grenzen zu überqueren und sich auf den Straßen und in den Bordellen des Westens zu verkaufen. Weitere Hunderttausende aber werden hereingelegt oder verkauft oder in die Prostitution gezwungen. Sie werden wie «Verkaufsware» durch die europäischen Länder geschleift, damit sie für ihre «festen Freunde», Zuhälter und Menschenhändler Geld verdienen können. Wenn man sie fragt, ob sie das gegen ihren Willen tun, behaupten sie in der Regel: «Oh nein, ich bin ganz frei.» Doch der Augenschein erzählt eine völlig andere Geschichte. Sie werden von ihren Bossen scharf überwacht, und diejenigen, die wir in Berlin auf der Straße treffen, dürfen nicht mit uns reden, weil das ihre Arbeitszeit unterbrechen würde. Wahrscheinlich dürfen sie aber auch deshalb nicht mit uns sprechen, weil ihre Zuhälter und Bosse fürchten, dass sie tatsächlich plaudern und uns viel zu viele Interna erzählen könnten.


Teil 1 · Patricias Gedanken, hoch über den Wolken …

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Ich hatte vier Tage in Timisoara als Gast der Leiterinnen einer großen baptistischen Gemeinde verbracht. Beim Treffen am Montagabend sollte ich über die Möglichkeiten von Hilfsdiensten für die Frauen auf der Straße sprechen. Und über den Menschenhandel mit jungen Bulgarinnen für die Sexindustrie. Es waren etwa sechzig Frauen und einige wenige Männer anwesend. Den Abend darauf nahm ich eine kleine Gruppe von Teilnehmerinnen mit auf die Straßen, um sie zu ermutigen, für die dort arbeitenden Frauen zu beten und mit ihnen das Gespräch zu suchen. Doch wir waren ziemlich früh dran und trafen deshalb nur eine einzelne Frau. Sie war sehr offen und freundlich, und sie war gewillt, uns ihre Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, wie sie jederzeit und allerorten passiert. Sie arbeitete schon seit sechzehn Jahren auf der Straße. Als junge Frau und Mutter von zwei kleinen Kindern war sie von ihrem Freund oder Ehemann verlassen worden. Ihre Bildung war gering, sie hatte keine echte berufliche Qualifikation und lebte dazu noch in einer Stadt mit hoher Arbeitslosigkeit und großer Armut. Sie sah keine andere Alternative, als ihre kleine Familie mit dem, was sie jede Nacht auf der Straße erarbeiten konnte, über Wasser zu halten. Ihre Geschichte erschütterte die Frauen, die ihr zuhörten, und sie beteten für sie, dass Gott sie schützen und ihr eine Alternative zeigen möge. Als wir zur Gemeinde zurückkehrten, um weitere sehr hilfswillige Frauen zu treffen, spürte ich, dass Gott dabei war, in Timisoara etwas Neues aufzubauen. Er legte diesen Frauen eine Last aufs Herz und gab ihnen die Vision, seinen kostbaren Töchtern auf dem Straßenstrich zu helfen, indem sie sich ganz und gar für sie engagierten. Während wir weiter nach Berlin flogen, meiner gegenwärtigen Heimat, dachte ich auch über einen früheren Besuch in Bulga-


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Teil 1 · Patricias Gedanken, hoch über den Wolken …

rien vor wenigen Monaten nach. In den letzten drei bis vier Jahren habe ich während meiner Reisen quer durch Europa in jeder besuchten Stadt bulgarische Frauen getroffen, die dort auf dem Straßenstrich arbeiten. Auch in Berlin bei der Arbeit für «Alabaster Jar» [übersetzt: «Alabastergefäß»] treffen und kennen wir viele Mädchen und ältere Frauen aus Bulgarien. Man schätzt, dass zwischen 18.000 bis 21.000 bulgarische Frauen im Prostituiertenmilieu in Europa arbeiten. In Deutschland stammen etwa 12,7 Prozent der schätzungsweise 400.000 Frauen in Prostitution aus Bulgarien. Schon seit geraumer Zeit hatte ich den Wunsch verspürt, dorthin zu gehen. Und vor etwa achtzehn Monaten hatte ich bei einer Frauenkonferenz zwei junge Bulgarinnen getroffen und zu ihnen gesagt: «Eines Tages werde ich euch besuchen kommen.» Ich glaubte aber nicht wirklich, dass das jemals der Fall sein würde. Etwa sechs Monate später jedoch sagte Gott zu mir: «Geh hin. Jetzt ist die Zeit reif.» Was würde ich dort tun? Wohin sollte ich gehen? Was war der Zweck einer solchen Reise? Viele offene Fragen. Doch eines habe ich schon vor langer Zeit gelernt: Wenn Gott so deutlich spricht, dann hat er auch einen Plan. Und ich wage nicht, mich so einem Ruf zu widersetzen. So schrieb ich also meinen Freundinnen, ich könne kommen, und buchte meinen Flug. Ich wollte vier Tage mit ihnen verbringen und insgesamt acht Tage im Land bleiben. Doch Gottes Pläne waren wieder einmal viel größer als meine. Ich bekam so viele Einladungen zu Begegnungen und Gesprächen und Vorträgen in Gemeinden, dass die Zeit nicht annähernd ausreichte. Ich musste meinen Besuch verlängern. An meinem ersten Tag in Sofia war ich eingeladen bei «Mission Impossible» [übersetzt: «Unmöglicher Auftrag»]. Mit dieser christlichen Organisation hatten wir von Alabaster Jar auch schon zusammengearbeitet. Sie gab ein christliches Frauenma-


Teil 1 · Patricias Gedanken, hoch über den Wolken …

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gazin heraus, das wir an die bulgarischen Frauen auf den Berliner Straßen verteilten. Fast das Erste, was sie zu mir sagten, war: «Wollen Sie nicht nächstes Jahr wiederkommen und uns eine Schulung halten über die Arbeit unter diesen Frauen und anderen, die sexuell missbraucht wurden?» Also war ich diesen April in Bulgarien zu Gast, bei diesem Volk, das Gott mir so sehr aufs Herz gelegt hat. Das Thema lautete diesmal: «Daughters of Bulgaria: Die vergessenen Töchter Bulgariens. Seid ihre Stimme. Befreit sie. Heilt ihre Wunden.» Wenige Stunden nach meiner Landung in Sofia im April wurden wegen des Vulkanausbruchs in Island die Flughäfen geschlossen. Für mich ein Wunder, denn nur drei Tage zuvor hatte ich den deutlichen Eindruck bekommen, ich solle meinen Flug umbuchen, was ich dann auch getan habe. Nur Gott konnte wissen, was passieren würde. Der Rest meines Teams – inklusive der Mitarbeiter des Organisationsteams, die für das Seminar bei der Evangelischen Allianz unterwegs waren – war gestrandet. So blieben nur meine Übersetzerin und ich übrig. Aber sie war großartig, und wir bekamen zusammen alles auf die Reihe … Die Schulung am darauf folgenden Wochenende war erstaunlich. Eine Kollegin, die mit mir unterrichten sollte, war leider auch gestrandet. Aber Gott sei Dank traf ich am Flughafen eine andere Freundin, die in einem ähnlichen Dienst in Österreich arbeitet. Ich begrüßte sie mit den Worten: «Oh, du musst mir unbedingt helfen!» Zur Schulung kamen 35 Leute aus ganz Bulgarien. Am letzten Tag bot ich denjenigen, die sich von Gott in diesen Dienst berufen fühlten, an, für sie zu beten. Ich konnte es kaum glauben, aber es kamen alle 35 nach vorne. Am letzten Abend gingen wir dann zu siebt hinaus auf die Straßen und stellten fest,


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Teil 1 · Patricias Gedanken, hoch über den Wolken …

dass die Frauen, die auf ihre Freier warteten, sehr offen waren und sich gerne zu einem Gespräch bereit zeigten. Seitdem hat sich ein Gebets-Netzwerk gebildet, und etliche der Teilnehmer reisten in ihre Regionen zurück, um dort eine eigene Arbeit zu beginnen. Einige gehen schon auf die Straßen und planen noch weitere Aktivitäten. Ich bekomme ständig E-Mails mit Infos über neue Aktionen, die an den verschiedenen Orten stattfinden. Gott hat in dieser Nation etwas Neues begonnen; etwas, das größer ist als alles, was ich mir vorstellen konnte. Gottes Handeln überwältigt mich ständig. Und ich bin erstaunt, dass er mir erlaubt, daran teilzuhaben, indem ich in Europa und auch in Asien und Übersee umherreise und überall verkündige, dass Gottes Herz wegen seiner kostbaren Töchter gebrochen ist. Er hat das tiefe Verlangen, dass sie aus ihrer Gefangenheit, ihrer Gebundenheit und ihrem Leben in der sexuellen Sklaverei – der «modernen Sklaverei», wie man es ja oft nennt –, befreit werden. Und während wir in Berlin landeten, dachte ich daran zurück, wie mein Leben in Europa, in Berlin, eigentlich begonnen hatte …


Teil 2

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EIeinas erste Reise ins Rotlichtviertel von Berlin


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Teil 2 · EIeinas erste Reise ins Rotlichtviertel von Berlin

Kapitel 1 Die Ankunft in den Straßen von Berlin Berlin, September 2010, Airport und erste Begegnung Es ist bereits eisig kalt, und der Himmel ist grau. Ich landete soeben mit einer Vormittags-Maschine der Air Berlin in Berlin Tegel und fuhr mit dem Taxi zu Patricia Green. Patricia ist eine 73-jährige Neuseeländerin, die auch «der Engel» oder «Engel des Rotlichtbezirks» genannt wird. Sie ist aber kein Engel; sie ist eine Frau, die genau weiß, was sie will. Ihr Blick ist manchmal kritisch, dann wieder herzlich. Sie ist immer sehr konzentriert und nimmt genau wahr, was um sie herum geschieht. Ihr Schritt ist langsam, aber bestimmt. Die Sozialarbeiterin und ordinierte Pastorin hat gelernt, auf der Hut zu sein. Denn sie arbeitet seit über zwanzig Jahren unter Frauen in der Prostitution. Nun sitzen wir im «Café Shelter»2 an der K-Straße, einem kleinen, aber hohen Raum mit knarrendem Parkett, mit einigen roten und beigen Sofas und Sesseln, braunen Salontischen und einer alten Kaffeemaschine. Und wir sprechen über Patricia Greens Leben. Das Café hat jeweils Donnerstagnachmittag für die Frauen in Prostitution geöffnet. Patricia trägt eine hellgrüne Bluse und einen schönen Schal. Sie ist sorgsam gekleidet und trägt zurückhaltenden Ohrschmuck. Jetzt erzählt sie geduldig auf Englisch. Ihre Stimme klingt interessant, die Worte sind kontrolliert, vorsichtig. Patricia überlegt lange, bevor sie ihre Gedanken über ihre Lippen lässt. Das, was sie sagt, ist wichtig. Man spürt es an ihrer Haltung, dem Tonfall ihrer Stimme, der Sorgfalt, mit der sie nachdenkt, kombiniert und spricht.


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Ich beobachte die Frauen, die ins Café reinkommen, sich einen Café holen, ein Brötchen von einem der Teller nehmen und wieder hinausgehen. Ganz normale Frauen mit Jeans, offenem Haar, Handtasche, Winterjacke und attraktiven Schuhen mit High Heels. Kurz blicke ich aus dem großen Fenster des Cafés, an dem braun-goldene Acrylvorhänge die Sicht nur leicht verdecken. Draußen vor der Glastür steht eine ältere Frau – nennen wir sie hier Sally. Sie steht auf dem Strich, das heißt: Sie steht zwischen den Autos, und zwar genau so, dass die Freier problemlos anhalten können, um mit ihr einen Preis für käuflichen Sex auszuhandeln. Sally steht eine Zeit lang da, kommt dann herein, grüßt uns lachend, holt sich ein Brötchen und geht sogleich wieder auf die Straße hinaus. Etwas ratlos blickt sie in alle Richtungen. Zurzeit hält niemand auf dem Strich an. Vielleicht liegt es daran, dass Sally nicht mehr die Jüngste ist. Ihr dünnes Haar ist gefärbt, ihre matte Haut etwas aufgedunsen von den Drogen, die Beine wirken in den hochhackigen Schuhen ungelenk. Ihr Gang ist wackelig, die Absätze der Schuhe sind eindeutig etwas zu hoch für sie. Wenn sie sich die Strähnen aus dem Gesicht streicht, erkennt man die trockenen Hände einer Fünfzigjährigen. Jetzt dreht sie sich um und winkt uns herzlich zu. Sally lächelt ein wenig, ihr Mund will ausdrücken: «Alles okay!» Ihre braunen Augen aber bleiben traurig. Kurz winken wir zurück. Unvermittelt hält ein Freier und öffnet das rechte Wagenfenster seines deutschen Kleinwagens. Er fährt ein eher teures Modell, weiß und auffällig. Offenbar kennt Sally den Mann. Sie legt ihre Hand auf die Fenstervertiefung, während er sich zu ihr hinüberstreckt und mit ihr verhandelt. Die beiden sind sich einig geworden. Wir erkennen durchs Fenster des Cafés, dass Sally einsteigt.


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Teil 2 · EIeinas erste Reise ins Rotlichtviertel von Berlin

Unser Blick wendet sich von der Straße ab, und Patricia beginnt, mir ihre Geschichte zu erzählen. Es war noch in Neuseeland. Ich hatte gerade die Bibelschule abgeschlossen, als ich in der Zeitung ein Suchinserat für eine Hausleiterin in einem Heim für junge Mädchen sah. Die Mädchen konnten nicht mehr zu Hause leben, weil sie entweder ausgerissen oder mit der Familie zerstritten waren oder wegen kleinerer Gesetzesverstöße Ärger mit der Polizei bekommen hatten. Eine Freundin arbeitete ebenfalls dort als Hausmutter. Der Job gefiel ihr gut, und so bewarb ich mich und wurde sofort eingestellt. Einige Wochen später begann ich dort zu arbeiten. Ich mochte die Arbeit sehr. Wir kümmerten uns wie Mütter um die Mädchen, gaben ihnen eine Tagesstruktur, planten Unternehmungen für sie, kochten mit ihnen zusammen und sprachen oft mit ihnen über ihre Vergangenheit und ihr heutiges Leben. Nun, diese Arbeit war wirklich toll, es gab aber einen nicht unbedeutenden Haken: Wir merkten, dass es eben nicht reichte, nur ein Haus und eine gut organisierte Betreuung für verwaiste Mädchen anzubieten. Die Mädchen brauchen eben noch viel mehr: Liebe, Zuwendung, offene Ohren und Herzen, Aufmerksamkeit, Zeit und innere Heilung. Das machte uns sehr desillusioniert ob unserer Arbeit und unserer strukturellen und inhaltlichen Defizite in diesem Heim. Deshalb beschlossen wir, ein christliches Haus zu eröffnen, in welchem für solche Dinge mehr Platz, mehr Freiraum sein sollte. Wir machten uns auf die Suche nach einer geeigneten Örtlichkeit. Bald fanden wir ein altes Haus, das außerordentlich verkommen war. Wir mieteten es, hatten aber eigentlich gar kein Geld dafür. Deshalb renovierten wir es gleich selber. Natürlich machte das viel Arbeit. Wir mussten den Teppich herausreißen, den Boden schrubben und die hundert Jahre alten Tapeten eigenhändig von den Wänden kratzen. Nach der Renovierung war es ein wunderschönes Haus mit einer großartigen Atmosphäre. Die Leute aus der Nachbarschaft brachten


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uns Möbel und Werkzeug. Es war unglaublich! Schon bald war das Haus voller Leben! Bei uns wohnten ständig rund sechs bis acht Mädchen, die bei uns Zuflucht gesucht hatten oder von anderen Stellen wie dem Sozialamt oder der Polizei an uns verwiesen worden waren. Natürlich lag uns daran, das Haus irgendwann zu kaufen. Und tatsächlich, das Haus war derart günstig, dass wir es nach zwei Jahren erwerben konnten. Wir waren überglücklich. Die Betreuung lief sehr gut, und nach etwa fünf oder sechs Jahren sprach Gott durch eine Freundin zu mir. Sie war Sozialarbeiterin und lebte in einer anderen Stadt Neuseelands. Als sie mich eines Tages anrief, meinte sie, wir sollten doch in ihrer Stadt ein neues Haus eröffnen. Erstaunlich. Wie kam sie nur auf diese Idee? Da ich bereits mit einem ähnlichen Gedanken gespielt hatte, war ich mir sicher, dass ich genau das tun musste. Eines Nachts hatte ich dann diesen Traum, in dem ich ganz deutlich ein bestimmtes Haus mit einer großen Veranda vor mir sah. Als ich an besagtem Morgen aufwachte, wusste ich, dass dieses Haus mit Veranda exakt das Haus war, das ich unbedingt finden musste. Zumal ich vermutete, dass Gott mir diesen Traum als ganz konkretes Zeichen gegeben hatte. Sofort machte ich mich auf die Suche nach diesem «Traumhaus», das ich ganz klar im Kopf mit mir herumtrug. Wenn ich es hätte zeichnen müssen, hätte ich ganz genau sagen können, welche Farbe die Veranda hatte und wie die Fenster konstruiert waren. Dieser Traum war wirklich außergewöhnlich detailliert gewesen, und er musste eine Bedeutung für unser weiteres Leben haben. Ich rief umgehend einen Immobilienhändler an, der mir einige Häuser zeigte. Kein Haus passte so richtig. Als der Immobilienhändler mich aber eines Nachmittags über eine Veranda in ein Haus hineinführte, drehte ich mich um und erkannte das Bild, das ich im Traum vor mir gehabt hatte. Ich hatte «mein» Haus tatsächlich gefunden! Sogar die Blumen waren dieselben. Es waren weiße Lilien, genau wie im Traum. Ich begriff schnell, dass auch die Veranda genau dieselbe Form und Farbe hatte wie in meinem Traum. Von da an wusste


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ich, dass wir genau dieses Haus in der Stadt Hastings kaufen mussten. Aber wir hatten natürlich nur wenig Geld zur Verfügung und standen vor dem Rätsel, wie wir das alles bezahlen sollten. Doch Gott griff erneut ein. Wir kannten eine Frau, die uns einige Tausend Dollar als Anzahlung zur Verfügung stellen wollte, und beantragten ein Darlehen bei der Bank. Es klappte alles. Das Darlehen wurde bewilligt, und einige Wochen später gehörte das Haus bereits uns. Darin lebten wir zehn Jahre lang, betreuten zahllose Mädchen und Frauen und lernten viele Frauen kennen, die nicht nur Obdach und Schutz, sondern auch seelische und körperliche Heilung brauchten. Die Hausmutter und ich, wir waren eigentlich eine ganz gute Kombination, fast ein «Dream Team». Sie hatte ihre Aufgaben im Haushalt, und ich kümmerte mich vor allem um die Mädchen. In dieser Zeit lernten wir Tessa kennen. Sie kam drei oder vier Jahre lang zu uns. Wie alle anderen Mädchen brachte auch Tessa eine schwierige Vergangenheit mit. Sie hatte sexuellen Missbrauch erlebt, hatte aber bislang nie richtig darüber reden und ihre Gefühle herauslassen können. Überdies litt sie unter Asthma und war stets sehr kurzatmig, was ihr große Probleme bereitete. Sie war auch schon mehrmals in einer psychiatrischen Klinik gewesen. Eines Nachts mussten wir sie um Mitternacht ins Krankenhaus bringen, weil sie nicht mehr atmen konnte. Ihre Vergangenheit lastete wirklich sehr schwer auf ihr. Als ich mit ihr zusammen im Haus lebte, begriff ich allmählich, wie es sein muss, sexuellen oder gewalttätigen Missbrauch erlebt zu haben und mit dieser Last umgehen und leben zu müssen. Tessa fand zum Glauben an Jesus Christus und wuchs im Glauben. Schließlich fand sie Arbeit, zog aus und heiratete später. Heute ist sie Mutter von zwei Kindern und Großmutter. Ihr Asthma ist wunderbarerweise fast verschwunden. Natürlich hat das auch mit ihrem inneren Heilungsprozess zu tun. Sie hat in ihrem Leben sehr viel Heilung durch Gott erfahren. Diese ersten Jahre in Neuseeland waren sehr wichtig für uns. Ich


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konnte davon profitieren und auf all die gesammelten Erfahrungen später in meiner Arbeit in Thailand zurückgreifen. Leider dauerte unsere Arbeit in Hastings nicht ganz so lang wie die später folgende Herausforderung in Thailand. Das Ende begann damit, dass die Hausmutter uns verließ und wir für jemanden beteten, der an ihre Stelle treten konnte. Doch Gott hatte etwas anderes vor mit uns. Eine christliche Gemeinde in der Stadt wollte unsere Arbeit übernehmen, und während ich einige unserer Habseligkeiten einpackte, bekam ich erneut ein Zeichen. Wir hatten an der Wand ein Gemälde von einer Dornenkrone hängen, mit den Worten «Es ist vollbracht» darunter. Als ich es von der Wand nehmen wollte, lief plötzlich von unten nach oben ein Sprung durch das Glas, und es zerschmetterte in tausend Stücke. Ich deutete es als ein Zeichen von Gott. Er wollte uns damit sagen: «Es ist nun zu Ende.» Ich wollte es aber zuerst nicht wahrhaben, wollte es auch nicht akzeptieren und konnte nicht so einfach loslassen. Loslassen ist ja sowieso immer eine große Herausforderung und Prüfung im Leben. Ich musste dann aber schweren Herzens einsehen, dass wir das Haus schließen und aufgeben mussten.


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Kapitel 2 Gott schenkt das Geld für den Flug nach Thailand Berlin, September 2010, Café Shelter Patricia nimmt sich noch einen Kaffee, und ich stehe kurz auf. Einige Frauen kommen von der Straße herein. Es ist kalt draußen, und jedes Mal, wenn die Tür aufgeht, weht ein frischer Wind hinein. Fast alle Frauen sind schwarz angezogen. Sie grüßen kurz, waschen ihre Hände (was Vorschrift ist im Café), holen sich ein warmes Getränk, nehmen ein Fleischbrötchen und verlassen genauso schnell wieder das Café, wie sie hereingekommen sind. Draußen verhandeln Freier mit den Frauen einen Preis und verschwinden mit ihnen dann irgendwohin. Die Atmosphäre ist angespannt, geladen, unruhig. Und ich bin neugierig, weshalb Patricia rund 17 Jahre ihres Lebens in Thailand verbracht hat. Patricia sieht mich lange ruhig an und erzählt dann weiter: Ich ging zurück zu «Landmark» in Hamilton und lebte und arbeitete weiter mit den Mädchen dort. Bald darauf wurde meine Mutter krank, und ich zog zu ihr, um sie zu pflegen, bis sie zwei Jahre später starb. Da sie in derselben Stadt wohnte, konnte ich weiterhin in Teilzeit bei «Landmark» mitarbeiten und legte meinen Schwerpunkt auf die seelsorgerlichen Gespräche mit den Mädchen. Während dieser Zeit ging ich (nach vielen Jahren) zurück an die Universität, machte meinen Bachelor-Abschluss und begann einen Master-Studiengang in Sozialwissenschaften, mit Schwerpunkt Psychologie. Als ich meinen Master in Psychologie abgeschlossen hatte, beschloss ich, eine Einladung nach Thailand anzunehmen. Doch woher sollte ich


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das Geld für die Reise nehmen? Da ich soeben mein Studium beendet hatte, verfügte ich nur über wenig Geld. Ich erlebte aber erneut, dass Gott mir half. Ich betete, erzählte aber niemandem, was ich brauchte. Eine Freundin und eine Person, die ich zuvor noch gar nicht gekannt hatte, gaben mir das Geld für den Flug, ohne dass ich sie darum gebeten hatte. Meine Reise war also, so deutete ich das, von Gott organisiert worden, und ich war mehr als dankbar dafür. Gott hatte überhaupt immer dafür gesorgt, dass ich überleben konnte. Ich sagte ihm auch immer, dass ich auf seine Hilfe vertraue. Er hat mich nie enttäuscht. Ich habe die Leute nie um Geld für meinen persönlichen Bedarf, sondern immer nur darum gebeten, für mich und meine finanzielle Situation zu beten. So flog ich 1986 mit einigen anderen von der Missionsgesellschaft «Servants to Asia’s Urban Poor» nach Thailand, um die Möglichkeit zu erkunden, mit einem Team unter den Bewohnern der Slums von Bangkok zu arbeiten. Es kam aber alles ganz anders. Als ich im Stadtviertel Patpong in Bangkok die vielen Frauen in Prostitution auf der Straße sah, war ich zutiefst erschüttert. Diese Bilder ließen mich überhaupt nicht mehr los. Im Innern war mir klar, dass ich etwas für all die jungen Frauen tun wollte (und tun sollte!), die sich an Männer verkauften. Die Bars waren ja voll von diesen Mädchen! Die meisten davon waren «A-GoGo»-Bars, wo die Frauen Abend für Abend halb nackt vor den Kunden tanzten, damit die Kunden sie «kauften». Und erst die vielen Männer, die da waren! Jeden Abend kamen Tausende, um sich im Rotlichtviertel zu vergnügen. Alles ist da billig: das Essen, der Alkohol, die Frauen. Lange hatte ich überlegt, wie ich überhaupt an die Frauen herankommen könnte, um ihnen von Gottes Liebe zu erzählen und ihnen praktisch zu helfen. Ich betete und bat Gott um ein Zeichen, eine Antwort, wie ich diesen Frauen beistehen konnte. Gott antwortete: «Sei in den Bars wie Jesus.» In der Bibel las ich, dass Jesus seine Zeit mit Prostituierten und Sündern verbrachte. Er aß mit ihnen und genoss ihre


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Gesellschaft. Sie wurden seine Freunde. Genau das würde ich auch tun. Ich würde mit den Frauen Freundschaft schließen.

«Täglich werden mehr als 3000 Kinder (vor allem Mädchen) von skrupellosen Menschenhändlern als Arbeitssklaven verkauft oder in die Prostitution gelockt. Mädchen sind in Asien immer noch stark benachteiligt. Jedes Mädchen, das lesen und schreiben lernt und eine Ausbildung erhält, wird als erwachsene Frau einen Beruf ergreifen können. Bildung ist der Schlüssel zu einem selbstbestimmten Leben.» Quelle: UNICEF, 2011 Normalerweise betraten nur Männer als Gäste die Bars, und ich konnte natürlich das Erstaunen auf ihren Gesichtern ablesen. Die Frauen hingegen waren sehr freundlich und offen, und wir kamen schnell ins Gespräch. Es lag wahrscheinlich daran, dass ich etwas Seltsames tat: Ich wollte keine Zeit verlieren und begann deshalb in jedem Gespräch sofort von Gott und seiner Liebe zu uns Menschen zu erzählen. Zu dieser Zeit konnte ich noch kaum Thailändisch und brachte außer «Gott liebt dich» kaum etwas heraus. «Gott?» erwiderten sie. «Welcher denn?» «Jesus», antwortete ich. «Ach, der mit dem Bart», sagten sie. «Ja, ja», nickte ich. Einige Wochen später traf ich eine zum Helfen motivierte Thailänderin, die auch etwas für diese Frauen tun wollte. Deshalb taten wir uns zusammen. Später kam eine weitere Frau hinzu, und so waren wir bereits zu dritt, als wir jede Woche die Bars aufsuchten und beteten und Kontakte knüpften. Wir mussten feststellen, dass die meisten dieser Mädchen vom Land kamen. In Thailand ist das Leben in der Stadt und auf dem Land total unterschiedlich. Diese Frauen, die an die intakten sozialen Strukturen


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in den Dörfern und den kleinen Provinzstädten gewöhnt waren, fanden sich jetzt kaum zurecht mit dem ganzen Schmutz in der Luft, den Abgasen auf den Straßen, dem dauernden Lärm, der allgegenwärtigen künstlichen Beleuchtung und dem ganzen anonymen Gewusel mit all den vielen Menschen in den Bars und draußen vor der Tür. Diese Kultur des Stadtlebens war ihnen zuvor vollkommen fremd gewesen. Aufgrund der großen Armut auf dem Land waren einige Mädchen von der Familie gebeten oder sogar gezwungen worden, in der Stadt zu arbeiten. Auf diese Weise landeten manche Mädchen sehr schnell in den Bars von Patpong, dem berüchtigten Rotlichtbezirk in Bangkok. Zwischen ihnen und uns entstanden oft sehr enge Beziehungen und Freundschaften. Wir gingen regelmäßig in die einschlägigen Bars und besuchten die Mädchen «live» am Arbeitsplatz. Endlich hatten sie mit uns jemanden, dem sie vertrauen konnten, als Mensch, als Frau, als Gegenüber. Du hättest erst ihre Gesichter sehen sollen! Wenn wir sie besuchten, dann boten wir auch an, mit den Frauen zu beten. Zu Hause beteten wir auch immer für unsere eigenen Finanzen und hatten tatsächlich immer genug, um zu überleben. Natürlich lebten wir sehr einfach, aber es reichte immer. Bald fanden wir, es sei Zeit, uns zu organisieren, und wir nannten unsere Arbeit «Rahab Ministries». Nach einiger Zeit gründeten wir einen Bibelkreis für die Mädchen und trafen uns dazu jeden Samstagnachmittag in einem Restaurant in der Gegend, wo wir erst einmal gemeinsam aßen. Da ich erst dabei war, Thailändisch zu lernen, erzählte ich die biblischen Geschichten auf Englisch, und eine der thailändischen Mitarbeiterinnen übersetzte. Die Kontakte zu den Mädchen wurden immer enger, und innerhalb der Gruppe bewegte sich sehr viel. Rahab war für sie so etwas wie ein Familienersatz. Sie fanden bei uns Aufmerksamkeit, Verständnis und Sicherheit. Wenn eine Frau, aus welchen Gründen auch immer, flüchten musste – und das geschah oft –, dann boten wir ihr einen Unterschlupf und unseren Schutz an.


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Manche Frauen wohnten ja Tag für Tag direkt in dem Zimmer, in das sie auch mit ihren Freiern gingen. Und unter diesen gibt es alle Arten von Männern, auch viele zwielichtige oder sogar gefährliche. Deshalb fühlten sie sich nie richtig sicher. Manchen konnten wir eine Unterkunft anbieten, etwas zu essen und später auch verschiedene Jobs, eine Schulbildung und sogar eine Ausbildung. In Thailand sind die meisten Menschen Buddhisten und glauben an Geister und andere unsichtbare Kräfte. Deshalb haben die Leute auch große Angst vor Geistern und fremden Kräften, die in ihr Leben hineinwirken könnten. Aus diesem Grund haben wir den Frauen immer wieder die ganze Schöpfungsgeschichte aus der Bibel erzählt. Der Buddhismus und der Animismus kennen keine Schöpfungsgeschichte, keine Erklärung dafür, woher wir kommen und warum wir leben. Die Frauen sollten erfahren, dass Gott, der Schöpfer, ein großes Interesse daran hat, mit jedem einzelnen Menschen in einem guten Verhältnis zu stehen, das geprägt ist von Liebe, Freundschaft, Freiheit und Zuneigung. Das erste Mal kamen nur drei Mädchen in den Bibelkreis, doch dieser wuchs sehr schnell. Ich kann mich erinnern, dass wir schon bald zwölf Mädchen hatten und der Raum voll war. Es war wirklich aufregend, all diese Mädchen, die sonst als sich prostituierende Frauen auf der Straße arbeiteten, einmal pro Woche in einem Bibelkreis zu haben. Wir trafen uns in einem kleinen Restaurant mitten in der Stadt. Mit der Zeit hörten uns auch die anderen Leute im Restaurant zu, gesellten sich zu uns und wollten die biblischen Geschichten hören. Nach einer Weile entschieden sich drei Frauen dafür, im Glauben an Jesus Christus zu leben. Das war ein großer Moment für uns alle. Wir wussten aber auch, dass so ein Bibelstudium und etwas Gemeinschaft noch nicht reichte, sondern dass diese Frauen auch eine andere Arbeit finden mussten, um ganz aus der Prostitution herauszukommen. Man sah ihnen an, dass sie unter ihrer Arbeit litten und im Rotlichtbezirk kaputt gingen. Deshalb eröffneten wir einen kleinen Friseursalon etwas außerhalb von Patpong und konnten so die jungen


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Frauen von der Straße wegholen. Die meisten Mädchen waren fasziniert von der Arbeit als Friseurin, da konnten sie kreativ sein und ihre Ideen umsetzen. Deshalb begannen wir dieses Angebot immer mehr auszubauen. Der Platz im Salon war natürlich sehr begrenzt. Da standen gerade mal drei Stühle. Aber immerhin, wir gaben den Frauen Arbeit, und sie verdienten sich so ein kleines Einkommen. 1993 zogen wir in ein größeres Gebäude mitten in der Patpong Road um, wo die Frauen arbeiteten. Zu dieser Zeit wurden wir auch als Missionswerk unter der «Evangelical Fellowship of Thailand» eingetragen. Die Ziele waren und sind: «Den Frauen, die in Patpong in der Prostitution arbeiten, die Liebe Jesu Christi weitergeben. Praktische, emotionale und geistliche Unterstützung bieten. Möglichkeiten für Bildung, Berufsausbildung und alternative Arbeitsstellen schaffen.» Diese Frauen wollten unbedingt aus der Prostitution aussteigen und versuchten, woanders zu wohnen oder sogar ganz unterzutauchen. Ich nahm manche von ihnen in mein kleines Haus auf. Wir kochten zusammen, lasen in der Bibel, machten gemeinsam die Hausarbeit und suchten miteinander nach neuen Lösungen. Später mieteten wir ein größeres Haus an, in das die Frauen einziehen konnten, da ich an die Grenzen meiner Platzkapazität gekommen war. 1990 eröffneten wir einen weiteren Schönheitssalon, in dem wir täglich bis zu achtzig Frauen bedienten. Während des Frisierens, der Nagel- und Schönheitspflege konnten wir mit den Frauen von der Straße über ihr Leben, ihre Arbeit und ihre Familie sprechen. Und das Beste daran war: Die Frauen liebten es! Schnell kamen wir auch auf die absolut wichtigen Themen des Lebens zu sprechen, ich denke da an Lebensstil, Beziehungen, Lebensinhalte, Lebensaufbau, Glaube und Gott.


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Kapitel 3 In der Prostitution – und künstlerisch sehr begabt Berlin, September 2010, Café Shelter Eine etwas ältere Frau von der Straße öffnet die Tür und tritt leise ein. Die Frau, nennen wir sie Clara, Mitte 50, trägt eine violette Bluse, hat graues Haar, gemischt mit schwarzen Strähnen, und eine Brille auf der Nase. Ihre nicht besonders gut sitzenden Jeans sind verwaschen und verbeult. Die flachen, einfachen Schuhe sind abgewetzt. Sie sieht so gar nicht wie eine der Frauen aus, wie man sie sich auf dem Straßenstrich vorstellt. Sie hat etwas ganz Spezielles an sich. Als sie alle grüßt, winkt sie kurz, setzt sich in einen leeren Sessel und zieht gemalte Bilder, Mandalas, aus der Tasche. Sie könnte auch eine kaufmännische Angestellte sein. Oder eine Lehrerin mit sozialistischem Hintergrund, denke ich. Manchmal sehen auch Musiker so aus, oder Künstler. Und genau das ist sie. Sie beginnt nun mit ihren bunten Spezialstiften sorgfältig die Bilder auszumalen und lässt es zu, dass die Mitarbeiterinnen von Alabaster Jar im Café ihr über die Schulter blicken. Als ich Patricia ein Zeichen gebe und aufstehe, um ebenfalls die Bilder zu betrachten, hält Clara mir eins hin, und ich nehme mir Zeit dafür. Die starken Farben sind treffend gewählt. Ich staune über ihre Fähigkeit, ein tiefes Rot mit Violett in Einklang zu bringen. Gelb und Blau dominieren. Dann sieht sie mich an, lächelt kurz und beginnt über das Malen zu sprechen. Sie male viel, nehme sich zwischen der Arbeit bewusst Zeit dafür, verschenke die Arbeiten auch oft. Als ich sie lobe, lacht sie, und ich denke: Sie hat für sich einen Ort der Entfaltung gefunden. Oder


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vielleicht auch einen Fluchtort? Braucht nicht jeder einen Ort im Leben, an den er sich flüchten kann? Habe ich das nicht selber auch? Jetzt hole ich mir einen neuen Kaffee und treffe Mirjam*3, eine Krankenschwester, die sich seit Jahren starkmacht für die Frauen von der Straße. Sie kümmert sich um eine junge, rund 25-jährige Frau, die mit Grippe auf dem Sofa liegt und sich den Kopf hält. Ihre Kopfschmerzen bringen sie fast um den Verstand. Mirjam setzt sich zu ihr und hält ihr ein Aspirin mit einem Glas Wasser hin. Die junge Frau nuschelt ein «Danke!», und das derart existenziell, dass es tief blicken lässt. Es scheint, als habe sie hier im Café einen Zufluchtsort gefunden. Und als wolle sie gar nichts anderes, als nur endlich mal irgendwo innerlich anzukommen und Ruhe und Geborgenheit genießen zu können. Die Straße sei die Hölle, sagt Maripili an der Kaffeemaschine. Sie ist eine junge Frau mit indischem Aussehen und perfektem Deutsch. Maripili ist als Sekretärin bei Alabaster Jar tätig und koordiniert das Programm im Café. Die Hölle? Was sie damit wohl meint? Das bedeutet Unsicherheit, sagt sie, Stress, Angst vor Krankheiten, vor Schlägen und Ausbeutung, vor Ausgeliefertsein und vor allem vor Ablehnung. Frauen von der Straße werden von allen Seiten abgelehnt. Sie erfahren, vor allem auf einer inneren Ebene, Ablehnung von den Freiern und von ihren Zuhältern. Und von den Passanten, den Politikern, den Medien und der Gesellschaft kriegen sie auch kaum ein gutes Wort zu hören. Oft ist auch die Ablehnung vonseiten der Christen groß, was eigentlich kaum zu glauben ist. Leider entspricht es aber den Tatsachen, und einige der Helferinnen von der amerikanischen Kirchengemeinde, die im Café mitarbeiten, bestätigen dies. Jetzt kehrt Sally zurück und nimmt sich einen Tee. Als sie sich an den Tisch setzt, beginnt Maripili ein Gespräch mit ihr.


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Sally erzählt plötzlich aus ihrem Leben. «Ich habe heute ein gutes Geschäft gemacht. Habe bereits 300 Euro eingenommen.» Sie erzählt weiter, dass sie im Winter in einer Wohnung, einem Salon, arbeitet. Meistens sind die Frauen zu dritt, arbeiten rund acht Stunden und fahren dann nach Hause, um dort den Haushalt zu erledigen oder für die Kinder da zu sein. Sally ist aber nicht bereit, alles zu machen, was die Männer wollen, sagt sie überzeugt. Eine andere Frau namens Alina* wirft vom Sofa her in die Runde, dass sie kürzlich von drei Männern im Auto angesprochen worden sei. Alina lallt etwas, sie hat offenbar Drogen im Blut, deshalb hat sie sich auch verbal nicht ganz im Griff und erzählt unangenehme Dinge von der Straße. Geld, Oralsex, Analsex, drei Typen. Ein Mädchen soll verschwunden sein. «Steige niemals in ein Auto mit drei Typen!», warnt eine der Frauen in Prostitution in die Runde hinein. Wir sind alle konsterniert. Ob das mit dem verschwundenen Mädchen den Tatsachen entspricht? Niemand kann etwas dazu sagen. Wenn das Mädchen sich illegal in Deutschland aufhält, wird nicht einmal die Polizei nach ihr suchen. Denn wer offiziell nicht da ist, kann auch gar nicht vermisst werden. Um abzulenken, fragt Maripili die nach wie vor sehr offene Sally, ob sie jetzt nach Hause gehen werde. Sally antwortet: «Ja, für heute ist genug. Jetzt hat mich doch glatt ein Freund meines Freundes auf der Straße angesprochen.» Wir werden alle aufmerksam. Sally berichtet weiter, dass ihr Freund nichts von ihrer Arbeit auf dem Strich weiß. Er sei der Überzeugung, sie sei eine Putzfrau. Wir sind etwas unsicher und sehen uns fragend an. Maripili sagt zu ihr: «Denkst du nicht, er hat ein Recht darauf zu erfahren, was du arbeitest? Schließlich liebt er dich und möchte dir vertrauen.» Sally wackelt auf dem Stuhl hin und her. Sie kann nicht beschreiben, was sie jetzt gerade fühlt. Dann sagt Maripili


Quellen

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Kontaktinformationen Wenn Sie weitere Informationen bekommen oder Rahab Ministries Thailand oder Alabaster Jar e.V. Berlin kontaktieren oder unterstĂźtzen mĂśchten: www.alabasterjar.de E-Mail: office@alabasterjar.de www.rahabministriesthailand.org

Patricia Green ist zu erreichen unter: patricia@rahabinternational.org www.rahabinternational.org www.worldoutreachinternational.org


Aktuellste Neuigkeit: Patricia Green erhielt im Sommer 2011 den «Hope for Europe»-Award! Sie ist wirklich eine Hoffnungsträgerin für Europa! Das Beziehungsnetzwerk «Hope for Europe» (www.hfe.org) wurde von dem Neuseeländer Jeff Fountain ins Leben gerufen. Er hat viele Jahre in den Niederlanden gelebt und war der europäische Direktor von «Jugend mit einer Mission». Vor einiger Zeit hat er auch die «Schumann Foundation» gegründet. Jeff schreibt: «Als Einberufende der Versammlung der Frauen des Leiterschafts-Netzwerks hat meine Frau Romkje die Plenumssprecherin Patricia Green eingeladen, zum Podium zu kommen und den ‹Hope for Europe›-Award des Jahres 2011 in Empfang zu nehmen. Er wurde ihr verliehen für ihren Dienst an den Opfern des weitverbreiteten Menschenhandels quer durch Europa. Heute lebt Patricia in Berlin, doch sie arbeitet schon seit 1988 mitten unter den sich prostituierenden Frauen. Damals hatte sie die ‹Rahab Ministries› in Thailand gegründet, um den sexuell ausgebeuteten Frauen und Kindern dort zu helfen. Seitdem hat sie dazu beigetragen, mehrere solcher Dienste in verschiedenen Ländern ins Leben zu rufen. Ihre große Leidenschaft ist es, Menschen diese Themen bewusst zu machen und den Opfern ein neues Leben, eine neue Existenz anzubieten.»


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